FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Artikel / Jahrgang 2000

 

Die Position des Kindes stärken

Konsequenzen der Bindungsforschung für die Arbeit mit Pflege- und Adoptivkindern

von Dr. Jörg Maywald (Nov. 00)

 

Vorbemerkung: 1990 kam ein 4-jähriges, von seiner psychotischen Mutter schwer traumatisiertes Mädchen in unsere Pflegefamilie. Aus der zwiespältigen Hoffnung, einerseits bei uns aufwachsen zu dürfen und andererseits, nach zwei Jahren wieder zur Mutter zurückkehren zu können, entwickelte sich ein massiver Loyalitätskonflikt. Alle unsere Bemühungen, die Verantwortungsträger - Juristen, Psychologen und Sozialarbeiter - von der Notwendigkeit des "Permanency Planning" zu überzeugen, mündeten ins Gegenteil, ähnlich wie in Beispiel 3 des vorliegenden Referates von Jörg Maywald. Dass die Sicherung der Dauerhaftigkeit der Lebensumstände gerade für Kinder mit desorganisiertem Bindungsverhalten besonders wichtig ist, zeigt Maywald anschaulich und überzeugend vor dem Hintergrund der UN-Kinderechtskonvention.
C.M. (Feb. 01)


In Paris gibt es ein Kinderkrankenhaus, das den Namen „Hopital Trousseau“ trägt. Das deutsche Wort für „Trousseau“ lautet „Bündel“. Mit seinem Namen erinnert dieses Krankenhaus an eine Zeit, in der dort heimatlose Kinder eine Zuflucht und erste Versorgung fanden. Die aufgenommen Kinder hatten keine Eltern mehr, sei es, weil diese nicht mehr lebten, sei es, weil sie von den Eltern ausgesetzt worden waren in der Hoffnung, dass andere Menschen sie finden und ihr Überleben sichern würden.

Es waren Findel- und Straßenkinder, die nichts hatten – außer ihrem Bündel mit ein paar Habseligkeiten. Zumeist fanden sich darin Kleidungsstücke, vielleicht etwas zu essen, manchmal auch Spielzeug oder sogar ein Ring oder ein Amulett, das die Mutter dem Kind als Glücksbringer auf den Weg gegeben hatte.

In materieller Hinsicht waren diese Bündel von geringem Wert, aber sie waren das einzige, das die Kinder mit ihrer Herkunft verband. Sie bildeten eine Brücke zu ihren leiblichen Eltern, zu ihrem Milieu und zu ihrer Familie, in die sie geboren worden waren und bei der sie eine kürzere oder längere Zeit ihres Lebens verbracht hatten. Heute würden wir diese Bündel im Sinne von Winnicott als Übergangsobjekte bezeichnen, und wir wären uns vermutlich darin einig, dass sie für die Kinder einen unschätzbaren Wert darstellten.

Dokumente des Krankenhauses belegen, dass die Kinder ihr Bündel behalten konnten. Es wurde ihrem Bett zugeordnet und begleitete die Kinder auf ihrem weiteren Weg. Offensichtlich hatten die Mitarbeiter des Krankenhauses ein intuitives Wissen davon, dass sie den Kindern Gutes taten, wenn sie ihnen ihr Hab und Gut beließen, auch wenn dieses von geringem Nutzen, häufig unansehnlich und kaum noch zu gebrauchen war.

Es scheint, als ob dieses Wissen um die Bedeutung von Bindungen zu manchen Zeiten verschüttet gewesen ist. In meiner Kindheit – also in den 1950er und 1960er Jahren – war es allgemeine Praxis, die Besuchszeiten in den pädiatrischen Stationen der Krankenhäuser auf eineinhalb Stunden am Sonntag Nachmittag zu begrenzen. Die Kontaktaufnahme war nur durch eine Glasscheibe möglich und musste sich auf Gesten und bedeutungsvolle Blicke beschränken. Vielen Eltern wurde geraten, sich ihrem Kind gegenüber lieber gar nicht bemerkbar zu machen, um ihm den schmerzvollen Abschied zu ersparen .

Noch in den 1970er Jahren war es im ehemaligen Berliner Hauptkinderheim – damals eine zentrale Notaufnahmestelle mit mehreren tausend Aufnahmen pro Jahr – üblich, die Kinder nach ihrer Ankunft zu desinfizieren, ihre mitgebrachten Gegenstände zu verwahren und sie in Heimkleidung zu stecken.

Diese und ähnliche damals weit verbreitete Haltungen und Handlungen möchte ich mit dem Begriff „Interventionismus auf Kosten des Kindes“ kennzeichnen. Die Alternativen der Kinder- und Jugendbehörden bei familialen Krisen beschränkten sich zu dieser Zeit meist auf ermahnende Gespräche, (zu) langes Zuwarten und abrupte Fremdunterbringung des Kindes. Beziehungsabbrüche, Stigmatisierung des Kindes und seiner Familie sowie Sekundärtraumatisierung bis hin zu institutioneller Kindesmisshandlung waren die Folge.

Unter dem Einfluss kultureller Umbrüche in den 1960 und 1970er Jahren trat allmählich ein Wandel ein. Erkenntnisse der Entwicklungspsychologie und Familienforschung wurden auch in der Sozialpädagogik breit rezipiert. Systemisches Denken und die Bindungsforschung mit ihrem Interaktionsansatz fanden immer mehr Anhänger. „Hilfe statt Strafe“ und „Verstärkung der ambulanten Angebote“ lauteten die Schlagworte, die sich nicht zuletzt aufgrund der Schubwirkung des Internationalen Jahres des Kindes 1979 in den darauffolgenden 1980er Jahren in einem massiven Ausbau der Beratungs- und Unterstützungssysteme auf breiter Basis niederschlugen.

Aber auch hier – wie oft in der Geschichte – schlug das Pendel zunächst in ein Extrem aus. Die Wirkung ambulanter Hilfen wurde besonders in Fällen schwerer Traumatisierung von Kindern überschätzt, Familien ließen sich nicht unbegrenzt verändern, freiwillige Angebote wurden häufig nicht ausreichend angenommen. Hinzu kamen Missverständnisse, z.B. dass die Bindungsforschung nahelege, Trennungen der Kinder von ihren Eltern generell abzulehnen. Im Pflegekinderbereich führte dies vielerorts dazu, bei der Unterbringung eines Kindes grundsätzlich die Rückkehroption offenzuhalten und Pflegefamilien ausschließlich als Ergänzung zur weiterhin bestimmenden Herkunftsfamilie zu konzipieren. Die Folgen einer solchen blinden Elternorientierung waren häufig eine Vernebelung des wahren Ausmaßes der kindlichen Traumatisierung sowie Verunsicherungen auf allen Seiten und besonders beim Kind, dessen Perspektive oft über Jahre im Unklaren gelassen wurde.

Eine erneute Korrektur fand etwa seit Mitte der 1990er Jahre statt, maßgeblich initiiert durch die Verabschiedung der Kinderrechtskonvention durch die Vollversammlung der Vereinten Nationen im Jahr 1989. Diese neue Haltung ist dadurch charakterisiert, dass sie das Kind als Träger eigener Rechte betrachtet und Elternrechte als pflichtgebundene Elternverantwortung interpretiert. Sie kann in der Aufforderung gebündelt werden, die Position des Kindes zu stärken. Diese neue Haltung, die sich – zumindest in Deutschland – bei weitem noch nicht durchgesetzt hat, kommt meiner Auffassung am nächsten, und ich möchte sie unter dem Gesichtspunkt der Konsequenzen der neueren Bindungsforschung für die Arbeit mit Pflege- und Adoptivkindern erläutern.

Der Beitrag umfasst fünf Punkte:

  • Die Rechte von Pflege- und Adoptivkindern in der UN-Kinderrechtskonvention
  • Bindung und Trennung - eine Übersicht über den Stand der Forschung
  • Schlüsselsituationen in der Arbeit mit Pflege- und Adoptivkindern
  • Sonja - Erfahrungen eines Pflegekindes in der Langzeitperspektive
  • Ausblick, oder: Die Position des Kindes stärken

1. Die Rechte von Pflege- und Adoptivkindern in der UN-Kinderrechtskonvention

Der in der UN-Kinderrechtskonvention kodifizierte und inzwischen von fast allen Staaten der Erde ratifizierte Katalog von Schutz-, Förder- und Beteiligungsrechten bezieht sich selbstverständlich auch auf Pflege- und Adoptivkinder. Diese genießen dieselben Rechte wie alle Kinder. Allerdings sind bestimmte Normierungen der Konvention in diesem Zusammenhang von besonders großer Bedeutung. Ich will die wichtigsten diesbezüglichen Artikel nennen und kommentieren:

Bereits in der Präambel findet sich ein Hinweis auf die besondere Berücksichtigung von Pflege- und Adoptivkindern auf nationaler und internationaler Ebene, wie sie schon in der Genfer Erklärung von 1924 über die sozialen und rechtlichen Grundsätze für den Schutz und das Wohl von Kindern gefordert wurde.

Artikel 2 (Achtung der Kindesrechte; Diskriminierungsverbot)

Ausdrücklich wird garantiert, dass die in dem Übereinkommen festgelegten Rechte jedem Kind unabhängig u.a. von seiner nationalen, ethnischen oder sozialen Herkunft und ohne Rücksicht auf den sonstigen Status des Kindes zu gewähren sind. Ein Pflege- oder Adoptivkind darf nicht aufgrund seines Status bei der Ausübung seiner Rechte eingeschränkt oder diskriminiert werden.

Artikel 2, Abs. 1: Die Vertragsstaaten achten die in diesem Übereinkommen festgelegten Rechte und gewährleisten sie jedem ihrer Hoheitsgewalt unterstehenden Kind ohne jede Diskriminierung, unabhängig von der Rasse, der Hautfarbe, dem Geschlecht, der Sprache, der Religion, der politischen oder sonstigen Anschauung, der nationalen, ethnischen oder sozialen Herkunft, des Vermögens, einer Behinderung, der Geburt oder des sonstigen Status des Kindes, seiner Eltern oder seines Vormundes.

Artikel 3 (Wohl des Kindes)

Das Wohl des Kindes (the best interest of the child) ist bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, ein vorrangig zu berücksichtigender Gesichtspunkt. Dies gilt u.a. für Maßnahmen und Entscheidungen der sozialen Fürsorge, der Gerichte und der Verwaltungsbehörden. Eine dem Wohl des Kindes abträgliche Alternative – nur weil diese zum Beispiel kostengünstiger wäre – darf demnach nicht gewählt werden.

Artikel 3, Abs. 1: Bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, gleichviel ob sie von öffentlichen oder privaten Einrichtungen der sozialen Fürsorge, Gerichten, Verwaltungsbehörden oder Gesetzgebungsorganen getroffen werden, ist das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist.

Artikel 7 (Geburtsregister, Name, Staatsangehörigkeit)

Jedes Kind hat das Recht auf einen Namen von Geburt an und soweit möglich das Recht, seine Eltern zu kennen und von ihnen betreut zu werden. Hieraus kann abgeleitet werden, dass eine Fremdunterbringung des Kindes nur als ultima ratio und nur bei erheblicher Kindeswohlgefährdung in Betracht kommt.

Artikel 7, Abs. 1: Das Kind ist unverzüglich nach seiner Geburt in ein Register einzutragen und hat das Recht auf einen Namen von Geburt an, das Recht, eine Staatsangehörigkeit zu erwerben, und soweit möglich das Recht, seine Eltern zu kennen und von ihnen betreut zu werden.

Artikel 8 (Identität)

In diesem Artikel wird anerkannt, dass der Name und die gesetzlich anerkannten Familienbeziehungen wichtige Bestandteile der Identität des Kindes sind und nur aufgrund eines Gesetzes und im Rahmen bestehender Verfahrensvorschriften geändert werden dürfen.

Artikel 8, Abs. 1: Die Vertragsstaaten verpflichten sich, das Recht des Kindes zu achten, seine Identität, einschließlich seiner Staatsangehörigkeit, seines Namens und seiner gesetzlich anerkannten Familienbeziehungen, ohne rechtswidrige Eingriffe zu behalten.

Artikel 9 (Trennung von den Eltern; persönlicher Umgang)

Kinder dürfen von ihren Eltern gegen deren Willen nur getrennt werden, wenn das Wohl des Kindes dies erfordert, z.B. nach einer Misshandlung oder Vernachlässigung. Auch in diesen Fällen muss das Verfahren strengen rechtsstaatlichen Kriterien genügen.

Das von seinen Eltern getrennt lebende Kind hat das Recht, regelmäßige persönliche Beziehungen und unmittelbare Kontakte zu beiden Elternteilen zu pflegen, soweit dies nicht dem Wohl des Kindes widerspricht. Umgangseinschränkungen und Besuchsverbote bedürfen insofern einer Begründung im Einzelfall, die sich ausschließlich am Wohl des Kindes zu orientieren hat.

Artikel 9, Abs. 1: Die Vertragsstaaten stellen sicher, dass ein Kind nicht gegen den Willen seiner Eltern von diesen getrennt wird, es sei denn, dass die zuständigen Behörden in einer gerichtlich nachprüfbaren Entscheidung nach den anzuwendenden Rechtsvorschriften und Verfahren bestimmen, dass diese Trennung zum Wohl des Kindes notwendig ist. Eine solche Entscheidung kann im Einzelfall notwendig werden, wie etwa wenn das Kind durch die Eltern misshandelt  oder vernachlässigt wird oder wenn bei getrennt lebenden Eltern eine Entscheidung über den Aufenthaltsort des Kindes zu treffen ist.

Abs. 3: Die Vertragsstaaten achten das Recht des Kindes, das von einem oder beiden Elternteilen getrennt ist, regelmäßige persönliche Beziehungen und unmittelbare Kontakte zu beiden Elternteilen zu pflegen, soweit dies nicht dem Wohl des Kindes widerspricht. (...)

Artikel 12 (Berücksichtigung des Kindeswillens)

In diesem Artikel werden Kindern umfassende Partizipationsrechte eingeräumt. Das Kind hat in allen es betreffenden Angelegenheiten das Recht, seine Meinung frei zu äußern. Die Meinung des Kindes muss angemessen und entsprechend seinem Alter und seiner Reife berücksichtigt werden. In allen Gerichts- und Verwaltungsverfahren muss das Kind entweder unmittelbar oder durch einen Vertreter gehört werden. Im Zuge der Kindschaftsrechtsreform 1998 wurde in Deutschland das Rechtsinstitut eines Verfahrenspflegers im zivilrechtlichen Kinderschutzverfahren eingeführt. Für Verwaltungsverfahren, zu denen jugendamtliche Entscheidungen gehören, steht eine solche Unterstützung des Kindes noch aus.

Artikel 12, Abs. 1: Die Vertragsstaaten sichern dem Kind, das fähig ist, sich eine eigene Meinung zu bilden, das Recht zu, diese Meinung in allen das Kind berührenden Angelegenheiten frei zu äußern, und berücksichtigen die Meinung des Kindes angemessen und entsprechend seinem Alter und seiner Reife.

Abs. 2: Zu diesem Zweck wird dem Kind insbesondere Gelegenheit gegeben, in allen das Kind berührenden Gerichts- oder Verwaltungsverfahren entweder unmittelbar oder durch einen Vertreter oder eine geeignete Stelle im Einklang mit den innerstaatlichen Verfahrensvorschriften gehört zu werden.

Artikel 20 (Von der Familie getrennt lebende Kinder; Pflegefamilie; Adoption)

Kinder, die nicht in ihrer Herkunftsfamilie verbleiben können, haben Anspruch auf den besonderen Schutz und Beistand des Staates. Bei der Wahl zwischen familialer (Familienpflege oder Adoption) und institutioneller Unterbringung sind die erwünschte Kontinuität in der Erziehung des Kindes sowie die ethnische, religiöse, kulturelle und sprachliche Herkunft des Kindes zu berücksichtigen. Hieraus kann der Vorrang milieunaher vor milieuferner Unterbringung abgeleitet werden.

Artikel 20, Abs. 1: Ein Kind, das vorübergehend oder dauernd aus seiner familiären Umgebung herausgelöst wird oder dem der Verbleib in dieser Umgebung im eigenen Interesse nicht gestattet werden kann, hat Anspruch auf den besonderen Schutz und Beistand des Staates.

Abs. 2: Die Vertragsstaaten stellen nach Maßgabe ihres innerstaatlichen Rechts andere Formen der Betreuung eines solchen Kindes sicher.

Abs. 3: Als andere Formen der Betreuung kommt unter anderem die Aufnahme in eine Pflegefamilie, die Kafala nach islamischem Recht, die Adoption oder, falls erforderlich, die Unterbringung in einer geeigneten Kinderbetreuungseinrichtung in Betracht. Bei der Wahl zwischen diesen Lösungen sind die erwünschte Kontinuität in der Erziehung des Kindes sowie die ethnische, religiöse, kulturelle und sprachliche Herkunft des Kindes gebührend zu berücksichtigen.

Artikel 21 (Adoption)

Im Falle einer Adoption kommt dem Wohl des Kindes die höchste Bedeutung zu. Sie ist von der Zustimmung der betroffenen Personen abhängig, die in Kenntnis der Sachlage und unter Beachtung der anzuwendenden Rechtsvorschriften und Verfahren gegeben sein muss. Internationale Adoptionen sollen nur dann ausgesprochen werden, wenn das Kind nicht in seinem Heimatland in einer Pflege- oder Adoptionsfamilie untergebracht oder wenn es dort nicht in geeigneter Weise betreut werden kann. In diesem Artikel ist eindeutig festgelegt, dass Adoptionen nicht als Beschaffungsprogramm für kinderlose Paare missbraucht werden dürfen, sondern ausschließlich dem Kindeswohl verpflichtet sind und damit dem Kind zu seinem Recht verhelfen sollen, zu Eltern zu gehören (nicht: den Eltern zu gehören).

Artikel 21: Die Vertragsstaaten, die das System der Adoption anerkennen oder zulassen, gewährleisten, dass dem Wohl des Kindes bei der Adoption die höchste Bedeutung zugemessen wird; die Vertragsstaaten

a) stellen sicher, dass die Adoption eines Kindes nur durch die zuständigen Behörden bewilligt wird, die nach den anzuwendenden Rechtsvorschriften und Verfahren und auf der Grundlage aller verlässlichen einschlägigen Informationen entscheiden, dass die Adoption angesichts des Status des Kindes in Bezug auf Eltern, Verwandte und einen Vormund zulässig ist und dass, soweit dies erforderlich ist, die betroffenen Personen in Kenntnis der Sachlage und auf der Grundlage einer gegebenenfalls erforderlichen Beratung der Adoption zugestimmt haben;

b) erkennen an, dass die internationale Adoption als andere Form der Betreuung angesehen werden kann, wenn das Kind nicht in seinem Heimatland in einer Pflege- oder Adoptionsfamilie untergebracht oder wenn es dort nicht in geeigneter Weise betreut werden kann;

(...)

Soweit die einschlägigen Artikel der UN-Kinderrechtskonvention. Insgesamt und unter Einbezug der von mir in diesem Zusammenhang nicht angeführten Kindesrechte hat sich damit auf der Ebene des internationalen Rechts durchgesetzt, Kinder von Beginn an als eigenständige Subjekte anzusehen, die ihre spezifischen Kompetenzen und Potentiale in die menschliche Gemeinschaft einbringen. Am Anfang eines neuen Jahrhunderts ist die Vorstellung, Kinder als noch nicht vollwertige Menschen anzusehen, unhaltbar geworden. Kinder gleich welchen Status sind Menschen in einer sensiblen Entwicklungsphase, die des besonderen Schutzes, der Förderung und der Beteiligung bedürfen.

Janusz Korczak hat diese neue Sicht des Kindes bereits vor mehr als fünfzig Jahren prägnant zusammengefasst: „Das Kind wird nicht erst ein Mensch, es ist schon einer.“

2. Bindung und Trennung – eine Übersicht über den Stand der Forschung

Kinder sind von Natur aus soziale Wesen. Sie kommen mit einem angeborenen Bedürfnis nach Bindung und sozialem Kontakt zur Welt. Seelische Gesundheit von Kindern lässt sich als gelungene Integration von emotionaler Verbundenheit zu vertrauten Personen und Erkundungsverhalten beschreiben. Bindungstheoretisch kommt dies in der Annahme eines Gleichgewichtes zwischen Bindungs- und Explorationsbedürfnissen zum Ausdruck. Demnach hängt eine positive sozial-emotionale Entwicklung entscheidend davon ab, ob Sicherheits- oder Bindungsbedürfnisse und Erkundungs- oder Autonomiebestrebungen gleichermaßen und ausgewogen befriedigt werden.

Das Bindungs- und Explorationssystem des Kindes stehen miteinander in einer komplementären Beziehung und regulieren sich gegenseitig. In sicheren und vertrauten Situationen wollen Kinder Neues erkunden und reagieren auf ihre Umwelt vor allem mit Interesse und Neugier. Dieses Interesse wird von dem schon für Neugeborene befriedigenden Gefühl aufrecht erhalten, Verhalten oder Ereignisse verursachen und kontrollieren zu können und dadurch selbst wirksam und erfolgreich zu sein.

Demgegenüber wird in Situationen von Verunsicherung oder Angst, wie zum Beispiel in einer fremden Umgebung oder bei Abwesenheit der Bezugsperson, das Bindungssystem der Kinder aktiviert. Sie suchen die Nähe und den Kontakt zu einer Bindungsperson, die ihnen als sichere Basis dient: sie weinen, strecken die Arme nach ihr aus, folgen ihr, schmiegen sich an oder klammern sich an sie. John Bowlby, der Begründer der Bindungstheorie, definierte Bindungsverhalten als jede Form von Verhalten, „die darauf hinausläuft, dass eine Person zu einer anderen unterschiedenen und vorgezogenen Person Nähe erlangt oder aufrechterhält“ (Bowlby 1984, S. 57). In biologischer Perspektive stellt das Bindungssystem ein primäres, genetisch verankertes motivationales System dar, das nach der Geburt zwischen dem Säugling und seinen wichtigsten Bezugspersonen aktiviert wird und überlebenssichernde Funktion hat. Aus psychologischer Sicht vermitteln Bindungsbeziehungen emotionale Sicherheit und Selbstvertrauen. Bindung kann nicht mit Abhängigkeit gleichgesetzt werden. Einmal etablierte Bindungsbeziehungen weisen eine große Stabilität im Lebenslauf auf und bleiben auch bei voneinander unabhängigen Personen wirksam.

Alle Kinder entwickeln im Verlauf des ersten Lebensjahres gewöhnlich eine oder mehrere Bindungsbeziehungen zu nahestehenden Personen, in der Regel Mutter und Vater. Im zweiten und dritten Lebensjahr, die als besonders bindungsempfindliche Zeit gelten, werden die Bindungserfahrungen als innere Arbeitsmodelle stabilisiert und zu einer zielkorrigierten Partnerschaft mit den Bezugspersonen ausgebaut. Dabei hängt die Stärke einer Bindung nicht von der Qualität der Beziehung ab. Auch Kinder, die abgelehnt oder gar misshandelt werden, bauen eine tiefgreifende Bindung zu den ihnen nahestehenden Personen auf.

Die Qualität einer Bindung entwickelt sich in Abhängigkeit von den Temperamentseigenschaften des Kindes und den Verhaltensweisen und inneren Repräsentanzen der erwachsenen Bindungspersonen. Für angemessenes elterliches Verhalten hat Mary D. Ainsworth (1978) den Begriff der Sensitivität (Feinfühligkeit) geprägt. Feinfühliges Verhalten zeichnet sich dadurch aus, dass die Signale und Bedürfnisse des Kindes korrekt wahrgenommen, richtig interpretiert sowie prompt und altersangemessen beantwortet werden.

Werden die Bedürfnisse des Säuglings von den Bindungspersonen in feinfühliger Weise beantwortet, entwickelt sich in der Regel eine sichere Bindungsbeziehung. Sicher gebundene Säuglinge lernen, dass sie verlässlich beruhigt und getröstet werden, sobald sie Unruhe oder Kummer signalisieren. Sie erleben die Bindungsperson als sichere Basis, von der aus sie interessiert die Umgebung erkunden und auf die sie sich in alltäglichen Notsituationen stützen können.

Kinder, die ihre Bindungsperson als zurückweisend, ignorierend oder feindselig erleben, entwickeln gewöhnlich eine unsicher-vermeidende Bindung. In Belastungssituationen neigen sie dazu, wenig von ihren Bindungsbedürfnissen zu äußern und die Bindungsperson eher zu meiden. Auf diese Weise passen sie sich so gut es geht den Anforderungen der Bindungsperson an, die von dem Kind rasche Selbständigkeit und eine frühe Selbstregulation negativer Gefühle wie Angst und Ärger erwartet.

Kinder, deren Bindungspersonen sich in Belastungssituationen in einer für das Kind wechselhaften und wenig nachvollziehbaren Weise verhalten, entwickeln eine unsicher-ambivalente oder kontrollierende Bindung. Das Verhalten der Bindungsperson signalisiert gleichermaßen Zuwendung, aber auch Hilflosigkeit und Ärger. Das Kind versucht, mit verstärkten und übertriebenen Gefühlsäußerungen die Aufmerksamkeit der Bindungsperson zu erregen. Gleichzeitig wird es von diesen Bemühungen stark in Anspruch genommen und wirkt dadurch emotional abhängig.

Schließlich wurde bei einer kleinen Gruppe von Kindern ein desorganisiertes Bindungsverhaltensmuster gefunden. Diese Kinder zeigen in Stresssituationen stereotype Verhaltensweisen oder sie erstarren für kurze Zeit, da ihnen aufgrund des uneindeutigen Verhaltens ihrer Bindungspersonen keine adäquaten Verhaltensstrategien zur Verfügung stehen. Desorganisierte Bindungen sind häufig Zeichen gravierender Beziehungs- und Bindungsstörungen, z.B. in Fällen von Misshandlung oder Vernachlässigung (vgl. Brisch 1999).

Unter der Voraussetzung eines quantitativ und qualitativ ausreichenden Bindungsangebots können Kinder altersangemessene Trennungen gut für ihre Entwicklung nutzen. Insofern sind Trennungen nicht per se schädigend. Risiken und Gefahren ergeben sich erst durch das kumulative Zusammenspiel einer Reihe von im Einzelfall zu gewichtenden Variablen. Neben der individuellen Empfindlichkeit des Kindes zum Zeitpunkt der Trennung sind Alter und Entwicklungsstand bedeutsam. Während bei einem Säugling bereits die kurzzeitige Nichtverfügbarkeit der Mutter bzw. Bindungsperson zu einem Gefühl großer Hilflosigkeit und Verlassenheit führen kann, erweitert sich mit zunehmendem Alter das Zeitverständnis und damit die Toleranz für überschaubare Trennungen. Besonders trennungsempfindlich sind Kinder im Alter zwischen etwa sechs Monaten und drei Jahren. In dieser Zeit binden sie sich in der Regel intensiv an eine, manchmal auch zwei oder drei Hauptbindungspersonen und zugleich ist ihr Verständnis für Zeit, Dauer und die Gründe von Trennungen noch nicht sehr entwickelt.

Eine zweite Variable betrifft die Intensität der Bindung und damit die emotionale Nähe zu der Person, von der das Kind getrennt wird. Wenn seine Hauptbindungsperson z.B. die Großmutter ist, wird die Reaktion auf eine Trennung von Mutter oder Vater weniger schwerwiegend sein. Zum emotionalen Kontext gehören ebenso Übergangsobjekte (vgl. Winnicott 1974) wie vertraute Gegenstände (Bett, Kleidung, Spielzeug), Gewohnheiten (Essensrituale, Schlaflied) und die sozialräumliche Umgebung (Kindergarten, Schule, Freundeskreis), deren weitere Verfügbarkeit bzw. Aufrechterhaltung Trennungsreaktionen lindern können.

Weiterhin spielen die Vorgeschichte des Kindes insbesondere im Hinblick auf frühere Trennungserfahrungen und die Qualität der Ersatzbeziehungen eine wichtige Rolle. Ängste aufgrund zurückliegender, nicht verarbeiteter Trennungen können in der aktuellen Situation reaktiviert und verstärkt werden. Zu den Erfahrungen nach der Trennung, die eine Bewältigung erleichtern oder erschweren können, gehört, ob eine spezielle Person kontinuierlich zur Verfügung steht, wie die Rahmenbedingungen der Ersatzbetreuung sind (Qualität der Einzel- oder Gruppenbetreuung), die materielle Ausstattung und Versorgung und inwieweit Erinnerungen an die Personen, von denen das Kind getrennt ist, akzeptiert und gefördert werden.

Insgesamt hängt die Bedeutung einer Trennung auf einem Kontinuum zwischen Trauma und Chance davon ab, „wie groß der reale Verlust ist, welche Ängste dadurch reaktiviert werden, wie tragfähig die neuen Beziehungen sind und inwiefern es gelingt, für den Zusammenhang von altem und neuem Zustand einen lebensgeschichtlichen Sinn zu erschließen“ (Maywald 1997, S. 30).

3. Schlüsselsituationen in der Arbeit mit Pflege- und Adoptivkindern

Ich möchte die Ergebnisse einschlägiger Bindungs- und Trennungsforschung in Beziehung setzen zu drei Schlüsselsituationen, bei denen es erfahrungsgemäß häufig zu Fehlentscheidungen mit entsprechenden Folgekonflikten kommt.

Das Verhältnis von ambulanten zu stationären Hilfen

Negativbeispiel 1: Im Zusammenhang mit dem bevorstehenden Krankenhausaufenthalt einer allein erziehenden Mutter schlägt das Jugendamt die Unterbringung des 4-jährigen Kindes in einer Kurzpflegestelle im Nachbarort vor.

Negativbeispiel 2: Ein 7-jähriger Junge fällt seit Jahren in Kindergarten und Schule wegen seiner stark verzögerten Sprachentwicklung und seines aggressiven und sexualisierenden Verhaltens gegenüber jüngeren Kindern auf. Im Jugendamt ist bekannt, dass die Mutter psychisch krank ist. Der Junge hat zu Hause kaum altersgerechte Spielsachen und schläft im Bett seiner Mutter. Eine Fremdunterbringung gegen den erklärten Willen der Mutter wurde mehrfach abgelehnt aus Angst, die Mutter würde dann eine Drohung wahrmachen und sich das Leben nehmen.

Während im ersten Beispiel eine Unterbringung des Kindes in einer fremden Familie an einem dem Kind fremden Ort vorschnell in Kauf genommen wird, ohne die Möglichkeiten einer milieunahen Versorgung z.B. bei Verwandten oder im Umkreis des Kindergartens zu prüfen, wird im zweiten Fall eine Fremdunterbringung zu lange hinausgezögert. Hier dient das Kind als Faustpfand der Mutter, der es gelingt, das Jugendamt jahrelang als stillen Verbündeten der Misshandlung ihres Sohnes zu gewinnen.

Demgegenüber ist aus fachlicher Sicht anzumerken (vgl. Salgo 2000, Zenz):

Da Trennungen sich insbesondere für kleine Kinder belastend für die spätere Entwicklung auswirken können, haben bei Gefährdung des Kindeswohls Hilfen innerhalb der Familie Vorrang, soweit dadurch den Gefährdungen wirksam begegnet werden kann – für schwer traumatisierte Kinder scheiden solche Hilfen innerhalb der Herkunftsfamilie häufig aus. Besonders in Fällen anhaltender Misshandlungen, sexuellen Missbrauchs und bei schwerwiegender Vernachlässigung von Kindern ist ein undifferenzierter und pauschaler Bindungsschutz nicht angemessen. Vielmehr können pathogene Bindungen eine Trennung des Kindes von seiner Familie geradezu erfordern, weil sie die am wenigsten schädliche Alternative darstellen (vgl. Goldstein, Freud, Solnit 1974).

Die Rückführung in die Herkunftsfamilie

Negativbeispiel 3: Im Hilfeplan wird festgelegt, dass ein knapp zweijähriger Junge in eine Pflegefamilie aufgenommen wird. Nach Ablauf eines Zeitraums von zwei Jahren soll entschieden werden, ob sich die Bedingungen in der Herkunftsfamilie derart verbessert haben, dass der Junge zu seinen leiblichen Eltern zurückkehren kann. Den Eltern wird vom Allgemeinen Sozialen Dienst mitgeteilt, dass sie jetzt eine reelle Chance hätten, den Jungen wieder zu sich zu holen. Gleichzeitig bekommen die Pflegeeltern vom Pflegekinderdienst zu hören, dass sie sich schon einmal auf eine Dauerpflege einrichten sollten. Die leiblichen Eltern würden das sowieso nicht schaffen.

Negativbeispiel 4: Ein dreijähriges Mädchen wird zur Perspektivklärung für sechs Monate in eine Pflegefamilie aufgenommen. Anschließend wird diese Maßnahme zwei mal um jeweils erneut sechs Monate verlängert.

Abgesehen von dem Zynismus doppelter Botschaften in dem ersten Fall, die das Kind in massive Loyalitätskonflikte bringen kann, werden hier elementare Erkenntnisse der Bindungsforschung missachtet. Das Kind kann in beiden Beispielen nicht anders, als neue Bindungen in der Pflegefamilie aufzubauen und sich dort zu verwurzeln. Für seine seelische Gesundheit ist dies notwendig. Darüber die leiblichen Eltern im Unklaren zu lassen, bedeutet, ihre Elternverantwortung zu untergraben und verleitet darüber hinaus zu falschen und später enttäuschten Erwartungen. Außerdem wird auf diese Weise dem Kind und seinen Pflegeeltern der Aufbau neuer Bindungen unnötig erschwert.

Demgegenüber ist aus fachlicher Sicht zu bemerken (vgl. Salgo 2000, Zenz ):

Wird die Trennung eines Kindes von seinen Eltern nach Ausschöpfung der Hilfen innerhalb der Familie unausweichlich, so ist die Sicherung der Dauerhaftigkeit der Lebensumstände (Permanency Planning) und damit der Eltern-Kind-Beziehung oberstes Ziel. Eine widerrufbare Unterbringung in einer Pflegefamilie muss auf von vornherein bestimmte Zeiträume begrenzt werden. Die Zeitspanne, für die eine solche Ungewissheit in Kauf genommen werden kann, muss um so kürzer sein, je jünger das Kind ist, je weniger der Kontakt zu den Eltern durch Besuche aufrechterhalten werden kann und je größer die Vorbelastung des Kindes ist. Innerhalb dieser aus kindlicher Perspektive tolerierbaren Zeitspanne kommt der Rückkehroption ein Vorrang zu, aber nur dann, wenn bei der Rückkehr des Kindes keine Gefährdungen des Kindeswohls in seinem Herkunftsmilieu mehr bestehen.

Bei Aussichtslosigkeit der Realisierung oder nach Scheitern der Rückkehroption muss eine Sicherung der Dauerhaftigkeit der Kindesbeziehungen erfolgen. Dies kann entweder durch Adoption geschehen, wenn immer möglich durch die bisherige Pflegefamilie, oder – falls dies nicht möglich ist – durch Übernahme einer Pflegschaft/Vormundschaft durch die bisherige Pflegefamilie bzw. durch sonstige Sicherungen, auch rechtlicher Art, des Dauerpflegeverhältnisses.

Die Besuchs- oder Umgangsregelung

Negativbeispiel 5: Nach dem Scheitern der Rückkehroption wird eine befristete in eine Dauerpflegestelle umgewandelt. Um dem zögerlichen Kindesvater die Zustimmung zu erleichtern, schlägt das Jugendamt Besuche jedes zweite Wochenende in der Pflegefamilie vor.

Negativbeispiel 6: Ein adoptierter Jugendlicher fordert detaillierte Informationen über seine Herkunft. Die Adoptiveltern halten dagegen, aus Angst, er könne Kontakt zu seiner leiblichen Mutter aufnehmen wollen und sich ihnen entfremden.

Im ersten Fall findet ein unangemessener Deal auf Kosten des Kindes statt. Dem Kind wird vermittelt, dass es in seinen Pflegeeltern soziale Eltern gefunden hat, bei denen es von nun an auf Dauer aufwachsen wird. Zugleich bekommt es zu hören, dass die leiblichen Eltern den Prozess des Zusammenwachsens alle vierzehn Tage unterbrechen können. Es ist nicht Aufgabe des Kindes, den Trauerprozess des leiblichen Vaters zu erleichtern. Eine Besuchsregelung, die größere Abstände vorsieht, wäre hier angemessen.

In dem zweiten Beispiel verspielen die Adoptiveltern die Chance, ihrem Adoptivkind in einer wichtigen Frage seines Lebens unterstützend zur Seite zu stehen. Sie erreichen dadurch das, was sie eigentlich vermeiden möchten: dass sich ein Graben zwischen ihnen und dem Kind auftun kann.

Demgegenüber ist aus fachlicher Sicht anzumerken (vgl. Salgo 2000, Zenz):

Besuchsregelungen müssen sich am Wohl des Kindes orientieren. Zu den Bedürfnissen des Kindes gehört ein ungestörter Bindungsaufbau zu seinen sozialen Eltern und zugleich die Achtung seiner Herkunft. Nicht in jedem Fall muss die Wertschätzung der Herkunft des Kindes sich in Besuchskontakten zwischen Kind und Herkunftseltern ausdrücken: „Richtig ist, dass Menschen ihre Herkunft begreifen wollen, dass sie – wie es oft heißt – nach ihren Wurzeln suchen, und richtig ist auch, dass dieses Bedürfnis in Wissenschaft und Praxis lange Zeit wenig wahrgenommen worden ist. Die Verdrängung und die Verleugnung der eigenen Geschichte hat sich nicht nur im politischen Raum abgespielt, sondern auch im Umgang mit der Biografie des Individuums. (...) Zu behaupten aber, dass diese Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte nur in Form der realen Konfrontation mit den zu dieser Geschichte gehörenden Personen vor sich gehen könne und vor sich gehen müsse, ist eine durch nichts zu belegende Idee, die sich meist recht abstrakt auf die Erhaltung des familialen Systems beruft ohne Rücksicht auf die destruktiven Auswirkungen auf seine schwächsten Mitglieder – Kinder nämlich, die von den Eltern in der Vergangenheit Leid, Gewalt und Zurückweisung erfahren haben, das im fortdauernden Kontakt mit ihnen immer wieder auflebt“ (Zenz 2001, S. 12 f.).

4. Sonja – Erfahrungen eines Pflegekindes in der Langzeitperspektive

Sonja wurde 1979 in Berlin geboren. Sie ist jetzt 21 Jahre alt. Ich kenne sie seit 19 Jahren und will fünf Stationen ihres Lebens kurz charakterisieren.

Die ersten Lebensjahre

Sonja lebt die ersten zweieinhalb Jahre bei ihren beiden leiblichen Eltern. Als Sie knapp zwei Jahre alt ist, wird ihre Schwester Frederike geboren.

Die Familie lebt in einer kleinen und feuchten Paterre-Altbauwohnung. Die Mutter verlässt die Wohnung nur selten. Sie ist depressiv, spricht kaum mit Fremden. Der Vater arbeitet auf dem Bau und trinkt.

Bei einem Besuch der Säuglingsfürsorge werden die beiden Mädchen in stark vernachlässigtem Zustand gefunden. Frederike ist ausgetrocknet und steht kurz vor dem Verhungern. Beide Kinder werden in die Kinderwohngruppe des Kinderschutz-Zentrums aufgenommen, die von den Eltern als bessere Alternative zum Heim akzeptiert wird.

Nach wenigen Wochen der Aufnahme wird der Zustand von Sonja im Sommer 1981 wie folgt beschrieben: Entwicklungsrückstände im gesamten Spektrum der Ich-Leistungen, vor allem im sprachlichen und sozialen Bereich; Anzeichen nicht organischer Wachstumsstörungen (Failure to thrive) infolge der starken Vernachlässigung (geringer Wuchs, Haarausfall); depressive Grundhaltung; schwaches Selbstwertgefühl; hysterisches Schreien und nachfolgende Untröstlichkeit; teilweise autoaggressives Verhalten; Anzeichen eines „Jedermannkindes“.

Der Übergang in die Pflegefamilie

Anläßlich der unregelmäßigen Besuche der Mutter wird eine für Vernachlässigungsfamilien typische Rollenumkehr sichtbar: Sonja – nicht einmal drei Jahre alt – versorgt ihre Mutter, die sich kaum von ihrem Stuhl erhebt, mit Kaffee. Die Mutter braucht die Kinder, ohne dass diese etwas an ihr haben. Der Vater taucht nur in größeren Abständen auf. Nach wenigen Monaten Beobachtung ist deutlich, dass die Eltern innerhalb eines für die Kinder vertretbaren Zeitraums nicht in die Lage kommen werden, ihre Kinder ausreichend zu versorgen. Ihnen wird vorgeschlagen, die Kinder in eine Pflegefamilie zu geben, was sie ablehnen. Die Eltern schlagen ihrerseits vor, die Kinder in der Kinderwohngruppe zu belassen, was aufgrund der Krisenorientierung der Einrichtung unverantwortbar ist. Da in Gesprächen keine Einigung erzielt werden kann, wird das Vormundschaftsgericht angerufen, das den Eltern das Aufenthaltsbestimmungsrecht entzieht. Einige Monate später – Sonja ist jetzt vier und Frederike zwei Jahre alt – wechseln beide Kinder in eine gemeinsame Pflegefamilie, in der noch ein älteres leibliches Kind lebt. Der Kontakt zu den leiblichen Eltern bricht ab.

Die Trennung der Pflegeeltern

Körperlich erholen sich beide Mädchen schnell und auch in seelischer Hinsicht geht es ihnen bald besser. Als Sonja sieben ist, trennen sich die Pflegeeltern. Alle drei Kinder bleiben bei der Mutter, die mit den Mädchen auf´s Land zieht. Der Pflegevater kommt regelmäßig zu Besuch, der Kontakt besteht bis heute.

Die Suche nach den Wurzeln

Beide Kinder besitzen je ein Buch mit Dokumenten und Fotos aus ihrer Geschichte. Als Sonja 15 Jahre alt ist, setzt sie sich verstärkt mit ihrer Identität und Herkunft auseinander. Bei einem Besuch erfährt sie von mir, dass ihre leiblichen Eltern inzwischen zwei weitere Kinder – einen Jungen und ein Mädchen – zur Welt gebracht haben. Sonja nimmt mit Zustimmung der Pflegemutter Kontakt zur leiblichen Mutter auf. Den leiblichen Vater spricht sie nur am Telefon. Wenig später erhalte ich von Sonja einen Brief, aus dem ich einige Sätze zitieren möchte:

„Wie Du schon gehört hast, habe ich jetzt Kontakt zu meiner Mutter und meinen Geschwistern. Zu meinem Vater ist der Kontakt noch nicht so stark. Worauf ich aber hoffe, dass es noch stärker wird. Du glaubst gar nicht, wie froh ich darüber bin, endlich Kontakt zu haben. All die Jahre habe ich es mir gewünscht. (...) An Sylvester hatten wir uns im Kreis in den Saal gesetzt und bei Kerzenlicht durfte jeder erzählen, was ihm am besten im letzten Jahr gefallen hat. Jeder hat was gesagt und es haben sich alle getraut. Viele, unter anderem auch ich, haben dabei weinen müssen. Aber das kam einfach so. Ich habe erzählt, dass mein schönstes Erlebnis war, als ihr da wart und ich erfahren durfte, dass wir noch Geschwister haben. Natürlich tauchte dann bei vielen die Frage auf, wo die denn leben. Ich hatte aber ehrlich nicht so eine große Lust, alles zu erzählen und deswegen wissen jetzt auch gar nicht alle, dass ich nur ein Pflegekind bin.“

Der Brief hat eine eigentümliche Form. Die Zeilen sind auf vier Seiten abwechselnd mit roter und blauer Farbe geschrieben, als ob ihr Inneres in zwei Welten zu brechen droht.

Nach kurzem Aufflackern flachen die Kontakte zur leiblichen Mutter und zu den leiblichen Geschwistern aus gegenseitigem Mangel an Interesse bald wieder ab.

Mit ihrer Pflegemutter trägt sie heftige Adoleszenzkonflikte aus. Das letzte Schuljahr verbringt Sonja im Internat, das sie mit Abschluss der mittleren Reife verlässt. Seitdem lebt sie in einer eigenen Wohnung und hat eine Ausbildung zur Erzieherin begonnen.

Erwachsenwerden

Ich habe Sonja am vergangenen Wochenende angerufen und ihr gesagt, dass ich in Zürich einen Vortrag über Konsequenzen der Bindungsforschung für die Arbeit mit Pflege- und Adoptivkindern halten werde. Ich bat um ihre Mithilfe und fragte sie, in welcher Rangfolge sie die für sie wichtigen Bindungspersonen sortieren würde.

Sie sagte mir, ihre Schwester sei in dieser Hinsicht ihr „ein und alles“. Von den Erwachsenen sei natürlich ihre Pflegemutter die wichtigste Person in ihrem Leben, trotz der vielen Konflikte. Auch der Pflegevater sei eine bedeutende Orientierung geblieben. Auch der Kontakt zu mir sei ihr wichtig, außerdem habe sie eine Reihe von Wahlverwandtschaften: ihre Vormündin, zwei Paten, eine enge Freundin der Pflegemutter, eine eigene Freundin.

Auf meine Frage, welche Rolle die leiblichen Eltern spielen, antwortet sie, diese seien „letztlich doch Fremde“ geblieben, obwohl es zu verschiedenen Zeiten Wünsche und auch Versuche der Annäherung gab.

Ich habe Ihnen dieses Beispiel vorgestellt, weil hier deutlich wird, dass

  • schwere Deprivation in der frühen Kindheit nicht zwangsläufig zu gravierenden Schäden im späteren Leben führt;
  • eine rechtzeitige Perspektivensicherung im Sinne von „permanency planning“ wichtig ist;
  • die Suche nach den Wurzeln nicht mit einer Gefährdung des Pflegeverhältnisses oder gar mit einer Wiedereingliederung in die Herkunftsfamilie verwechselt werden sollte;
  • eine Trennung des Pflegeelternpaares – häufig ein Tabuthema – nicht eine Katastrophe nach sich ziehen muss.

5. Ausblick oder: Die Position des Kindes stärken

Abschließend einige Vorschläge:

(1)   Pflege- und Adoptivkinder haben Rechte. Die Lebenserfahrung zeigt, dass Recht haben und Recht bekommen nicht identisch sind. Pflege- und Adoptivkinder müssen weitaus mehr als bisher ihre Rechte vermittelt bekommen. Und sie müssen Elternpersönlichkeiten begegnen, die sie bei der Ausübung der anerkannten Rechte in einer ihrer Entwicklung entsprechenden Weise leiten und führen (vgl. Art. 5 UN-Kinderrechtskonvention). Pflege- und Adoptiveltern sollten sich daher über die Rechte der ihnen anvertrauten Kinder informieren und sich als treuhänderische Verfechter der Kinderrechte verstehen.

(2)   Am Beginn eines Pflege- oder Adoptivverhältnisses werden wichtige Weichen gestellt. Die Forschung lehrt, dass es neben einer fundierten Situationsanalyse und Indikationsstellung vor allem auf die stimmige Passung zwischen Pflege- bzw. Adoptivkind und seiner neuen Familie ankommt. Remo Largo, Kinderarzt in  Zürich, hat in diesem Zusammenhang ein dynamisches Fit- bzw. Misfit-Konzept entwickelt, das als Maß für die Übereinstimmung zwischen dem Kind und seiner persönlichen und gegenständlichen Umwelt dienen kann (vgl. Largo 1999). Passung ist dabei immer individuell. Entsprechend müsste der Auswahlprozess weit mehr als bisher unter aktiver Beteiligung aller Betroffenen transparent gemacht und individualisiert werden.

(3)   Ein Kind fremder Eltern in die eigene Familie aufzunehmen, erfordert neben Enthusiasmus auch ein gehöriges Stück Selbstreflexivität und die Beschäftigung mit entwicklungspsychologischen Erkenntnissen und sozialpädagogischen Standards. Ich bin skeptisch gegenüber dem Vorschlag, eine einheitliche und für alle verpflichtende Ausbildung zur Pflege- oder Adoptivmutter bzw. –vater einzurichten. Ich halte aber viel davon, die Vorbereitung auf die Aufnahme eines Kindes und begleitende Weiterbildungen obligatorisch – z.B. in Form eines Wahlpflichtangebots – einzurichten. Im Adoptionsbereich müsste dementsprechend die Adoptionsvermittlungsstelle zu einem Adoptivkinderdienst fortentwickelt werden.

(4)   Bei der Verwendung von Ergebnissen der Bindungsforschung muss endlich die Mythenbildung einer differenzierten Rezeption weichen. Es ist keineswegs so, dass bestehende Bindungen des Kindes um jeden Preis als realer Kontakt erhalten und gepflegt werden sollten. Wichtig im Lichte der Bindungsforschung ist allerdings, gewachsene Bindungen des Kindes zu achten und wertzuschätzen und dem Kind die Möglichkeit zu schaffen, sich mit seiner Geschichte z.B. in Form von Biografiearbeit zu beschäftigen. Ebenso unrichtig ist die Behauptung, früh erworbene Bindungsmuster würden ein Leben lang unverändert anhalten. Zwar haben Längsschnittuntersuchungen einen deutlichen statistischen Beleg für die Stabilität von Bindungsqualitäten im Lebenslauf ergeben. Ebenso eindeutig ist jedoch, dass eine Prognose im Einzelfall nicht möglich ist. In der sogenannten Bielefelder Längsschnittstudie von Grossmann, Grossmann u.a. (2000) konnte gezeigt werden, dass insbesondere die Qualität von Peergroup-Beziehungen in der Adoleszenz und das Ausmaß selbstreflektorischer Fähigkeiten einen korrigierenden Einfluss auf früh erworbene Muster ausüben.

Wir leben in einer Welt, „die durch ein hohes Maß an Diskontinuität, an kultureller Diversität, an Mobilität und Flexibilität gekennzeichnet ist“ (Fthenakis 1998, S. 27).

Die Fähigkeit, sich in fremden Umgebungen zurechtzufinden und die Kompetenz, Übergänge zu bewältigen, werden immer wichtiger. Pflege- und Adoptivkinder – und an dieser Stelle möchte ich auch die Stiefkinder aus neu zusammengesetzten Familien erwähnen – haben aufgrund ihrer Biografie solche Fähigkeiten entwickeln müssen.

Es gibt einiges, was wir von ihnen lernen könnten.

Literatur

Bowlby, John (1953): Child Care and the Growth of Love. Harmondsworth
Bowlby, John (1984): Bindung. Eine Analyse der Mutter-Kind-Beziehung. Frankfurt/M.
Brisch, Karl Heinz (1999): Bindungsstörungen. Von der Bindungstheorie zur Therapie. Stuttgart
Fthenakis, Wassilios E. (1998): Wie zeitgemäß ist unsere Erziehung? Veränderte Lebenswelten von Kindern und deren Konsequenzen für die Qualität von Tagesbetreung. In: frühe Kindheit, 1. Jg., Heft 3, S. 24 – 27
Goldstein, Joseph, Freud, Anna, Solnit, Albert J. (1974): Jenseits des Kindeswohls. Frankfurt/M.
Grossmann, Klaus E., Grossmann, Karin u.a. (2000): Attachment Relationships and Appraisal of Partnership: From Early Experience of Sensitive Support to Later Relationship Representation. In: Pulkkinen, Lea, Caspi, Avshalom (eds., in prep.): Paths to Successful Development. Cambridge
Largo, Remo H. (1999): Kinderjahre. Die Individualität des Kindes als erzieherische Herausforderung. München
Maywald, Jörg (1997): Zwischen Trauma und Chance. Trennungen von Kindern im Familienkonflikt. Freiburg/Brsg.
Salgo, Ludwig (2000): Kommentar zum § 33 SGB VIII. In: Fieseler, Gerhard, Schleicher, Hans (Hrsg.): Kinder- und Jugendhilferecht. Gemeinschaftskommentar zum SGB VIII (GK-SGB VIII). Neuwied
Winnicott, Donald W. (1974): Reifungsprozesse und fördernde Umwelt. München
Zenz, Gisela: Zur Bedeutung der Erkenntnisse von Entwicklungspsychologie und Bindungsforschung für die Arbeit mit Pflegekindern. In: Stiftung zum Wohl des Pflegekindes (Hrsg.): Jahrbuch des Pflegekinderwesens 2001. Holzminden

Vortrag vom 3. November 2000 in Zürich im Rahmen des Fachkongresses „Qualitätsentwicklung im Pflegekinder- und Adoptionswesen“. (s. Kontaktadressen)

Dr. Jörg Maywald ist Soziologe, Geschäftsführer der Deutschen Liga für das Kind und stellvertretender Sprecher der National Coalition für die Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention in Deutschland.

Deutsche Liga für das Kind
Chausseestr. 17
D – 10115 Berlin

Tel.: 49 – 30 – 28 59 99 70
Fax: 49 – 30 – 28 59 99 71
E-Mail:
post@liga-kind.de

 

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