FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Artikel / Jahrgang 2009

 

Zur Situation, den Problembereichen und zu
den notwendigen Reformen im Pflegekinderbereich

von Prof. Dr. Jürgen Blandow

 

Vorbemerkung: Das vorliegenden Referat ist ein Beitrag zur Fachtagung „Weiterentwicklung der Vollzeitpflege“,  Vorstellung der Anregungen und Empfehlungen für die niedersächsischen Jugendämter, am 5. März 2009 in Hannover. Es war der von Christian Erzberger vorgetragenen Präsentation des gleichnamigen ‚Handbuchs‘ als allgemeine Einführung zu Reformbedarfen in der Pflegekinderhilfe vorangestellt. Die vom Niedersächsischen Ministerium für Soziales, Frauen, Familie und Gesundheit herausgegebene Handreichung für die Niedersächsischen Jugendämter kann über die Internetadresse der Gesellschaft für innovative Sozialforschung und Sozialplanung e.V., Bremen (www.giss-ev.de) kostenlos herunter geladen werden. Bei Kapitel 1 handelt es sich um einen kleinen Auszug aus dem „Neuen Manifest zum Pflegekinderwesen“, das demnächst vom Kompetenz-Zentrum Pflegekinder e.V. und der Internationalen Gesellschaft für erzieherische Hilfen (IGfH) veröffentlicht wird.

Die Gliederung des Referats folgt den drei Titel-Stichwörtern – Situation, Problembereiche und Reformnotwendigkeiten – schickt dem jedoch noch eine Skizze zu den Leistungen von Pflegeeltern, Pflegekindern und Herkunftsfamilien – den AdressatInnen der Pflegekinderhilfe – voraus.

 

1. Was Pflegeeltern, Pflegekinder und Herkunftsfamilien leisten und was ihnen dafür (nicht) geboten wird
Pflegefamilien sind ein ‚öffentliches Gut’. Sie erbringen Leistungen gegenüber Kindern und ihrer Herkunftsfamilie, für die Gesellschaft, die Kommunen und den Staat. Sie nehmen sich fremder, verwandter und ihnen aus dem sozialen oder beruflichen Umfeld bekannter Kinder an. Sie setzen für Kinder, für die sie keine originäre Verantwortlichkeit haben, die Ruhe ihres Familienlebens aufs Spiel. Sie übernehmen zumeist weit mehr als eine ‚normal-pädagogische’ Aufgabe; es werden ihnen heilpädagogische, sonderpädagogische und therapeutische Aufgaben abverlangt. Sie nehmen Kinder ‚mit Vergangenheit’ in ihre Familie auf und die Belastung, die dies mit sich bringt, auf sich. Viele Pflegepersonen nehmen mehr als ein Kind in ihre Familie, womit sie auch dazu beitragen, Kindern ihre Geschwister zu erhalten oder ihnen neue zu geben. Sie mühen sich um ihre Pflegekinder 24 Stunden am Tag, 365 Tage im Jahr,  für ein ‚Anerkennungshonorar’ das zumeist nicht mehr als dem halben Betrag eines auf 400-Euro-Basis arbeitenden ‚geringfügig Beschäftigten’ entspricht.

Die große Mehrheit von Pflegeeltern hält dennoch durch. Pflegeeltern sind pflicht- und verantwortungsbewusste Menschen, sie mögen Kinder und sie lassen sich ihr Pflegekind ans Herz wachsen. Viele bleiben ihrem Pflegekind bis zu dessen Volljährigkeit und oft noch lange danach treu.

Auch Pflegekinder leisten viel, einfach weil ihnen Leistung abverlangt wird. Sich aus alten Bindungen zu lösen, Wurzeln zu kappen und sich mit schlechten Erfahrungen auseinander zu setzen, in ein neues Milieu einzutauchen und in ihm neue Wurzeln zu schlagen, sich Fremdes anzueignen und Vergangenes mit Gegenwart und Zukunft neu zu verknüpfen, ist anstrengende Arbeit. Pflegekindern wird weit mehr als der großen Mehrheit von Kindern und Jugendlichen zugemutet. Ihre Pflegeeltern sind zumeist die Einzigen, die sie auf ihrem Weg aus der Vergangenheit in die Zukunft begleiten. Wo diese nicht mehr weiter kommen, weil selbst verstrickt, enttäuscht oder überfordert, bleibt Pflegekindern selten jemand, der sie auffängt. Kaum jemand außerhalb der Pflegefamilie fragt sie nach ihren Ängsten, Hoffnungen und Plänen für ihr Leben. Entscheidungen werden eher ohne sie als mit ihnen getroffen. Auch Pflegekinder bekommen weniger, als ihnen zusteht.

Schließlich: Die leiblichen Eltern der Kinder. Ihre ‚Arbeit’ ist es, den Verlust des Kindes zu betrauern, sich gegen den Eigen- oder Fremdvorwurf, versagt zu haben, Rabenmutter/ Rabenvater zu sein, zu behaupten, eine neue Identität als „Eltern ohne Kind“ zu finden und sich in die Rolle der ‚nur-noch-zweiten’ Person für ihr Kind einzufinden. Dies alles, obwohl ohnehin vom Leben benachteiligt, schlecht darauf vorbereitet, Verantwortung für sich und andere tragen zu können und ungeübt darin, mit Widersprüchen und Uneindeutigkeiten zu leben. Anerkennung hierfür finden sie nicht, es geht ihnen wie einem ‚freigesetzten’ Arbeitnehmer. Nach der Entlassung aus der Elternrolle verliert die Kinder- und Jugendhilfe sie aus dem Blick, es sei denn, sie machen ‚Schwierigkeiten’. 

2. Die Situation im Pflegekinderbereich
Über die Situation im Pflegekinderbereich zu sprechen fällt schwer. Es gibt keine Situation. Es gibt nur Pflegekinderdienste – zumeist bei öffentlichen Trägern, zunehmend aber auch bei freien Trägern der Jugendhilfe – die ihre Arbeit machen, ihren jeweiligen Rahmenbedingungen, den kommunal- und jugendhilfepolitischen Vorstellungen vor Ort entsprechend, auf das jeweilige soziale und gesellschaftliche Umfeld bezogen und orientiert an oft weit auseinander liegenden persönlichen Werthaltungen und fachlichen Überzeugungen der jeweiligen Fachkräfte. Verallgemeinernd kann man sagen: Die Bindung des Pflegekinderbereichs an den kommunalen Eigensinn (und die kommunale Finanzkraft) hat für diesen Bereich erzieherischer Hilfen die nur für diesen Bereich geltende Eigentümlichkeit hervorgebracht, dass alles erlaubt, aber nichts geboten ist. Was Christian Erzberger in der Volluntersuchung zu den niedersächsischen Jugendämtern 2003 gefunden hatte, dass es kaum Verbindlichkeiten für die Arbeit gibt, wurde zwischenzeitlich auch durch anderen regionale und bundesweite repräsentative Untersuchungen bestätigt, für Rheinland-Pfalz zum Beispiel oder in der repräsentativen Untersuchung des Deutschen Jugendinstituts im Kontext des jetzt abgeschlossenen neuen Pflegekinderprojekts. Es gibt – von noch Extremerem abgesehen – Fallzahlen zwischen 30 und 150, keine organisatorischen Standards, kleine ‚Krauter’ und ausgebaute, in sich differenzierte Dienste, ein uneinheitliches Gebaren in der Finanzierung von Pflegestellen und in der rechtlichen Handhabung bestimmter, eigentlich verbindlich vorgegebenen Normen (etwa in der Frage der Anerkennung von Verwandtenpflegestellen und der Handhabung der Hilfeplanung). Auch die Angebote für Pflegeeltern fallen weit auseinander und die allgemeinen konzeptionellen Standards. Dazu gehört auch, dass die Pflegekinderarbeit nicht nur von Bundesland zu Bundesland, sondern oft auch von Kommune zu Kommune einen völlig unterschiedlichen Stellenwert hat, zum Beispiel mal 70%  Pflegekinder und 30% in Heimen und mal umgekehrt. Man kann diese Diagnose freilich auch mit einem lachenden Auge lesen, zum einen weil man aus der Diagnose eben auch erschließen kann, dass es auch rundum befriedigende Verhältnisse geben kann (und darf), zum anderen, weil es sich – je öfter bestätigt – auch allmählich rumspricht, dass so gravierende Unterschiede zwischen den Polen wohl nicht angehen können.

Zur Situation gehört zum zweiten, dass vielerorts den Fachdiensten die Probleme über den Kopf wachsen. Sowohl die gesellschaftlichen Entwicklungen als auch die jugendhilfepolitischen der vergangenen Jahrzehnte, und ferner die besondere Situation nach den ebenso spektakulären wie traurigen Todesfällen von Kindern aus betreuten Familien und in einem spektakulären Fall auch aus einer Pflegefamilie, haben die Fachdienste – gleichermaßen ASD wie Pflegekinderdienste –  mit Aufgaben konfrontiert,  für die es kaum noch wohlfeile Lösungen  gibt. Die Schere zwischen dem fachlich gebotenen, in quantitativer und qualitativer Sicht, und dem vom Jugendhilfesystem noch verantwortlich Leistbarem, klafft vielerorts sichtbar auseinander. Für den Pflegekinderbereich bedeutet dies z.B.: Man bräuchte mehr qualifizierte Pflegeeltern, um der wachsenden Verelendung von Kindern und deren Verhaltenskorrelaten begegnen zu können, findet sie aber nicht. Auch dies hat allerdings seine ‚Vorteile’ gehabt: Die Einsicht wächst, dass herkömmliche Mittel in der Pflegekinderarbeit nicht mehr hinreichend sind, dass die Einheitspflegestelle an ihre Grenzen stößt und dass man offenbar mehr und anderes investieren muss, um Bedürfnisse und Bedarfe zu decken.

Ein dritter Punkt zur Situationsanalyse ist: Mit den gesellschaftlichen Entwicklungen hat sich auch staatliches Handeln und der staatliche Blick auf soziale Probleme verändert und dabei auch den Jugendhilfe- und den Pflegekinderbereich erreicht. Der in der „Schröder- Ära“ erfundene und zwischenzeitlich längst im allgemeinen politischen Bewusstsein verankerte ‚aktivierende Staat’ mit seiner Prämisse des „Förderns und Forderns“ hat zum einen Etats für aktivierende, familienorientierte Hilfen in die Höhe schnellen lassen (mit Konsequenzen dafür, wann und wie Kinder aus der Familien genommen werden, wenn das Fördern nicht mehr hilft), zum anderen werden Allgemeine Sozialdienste und Pflegekinderdienste auch stärker unter Druck gesetzt, ihren Beitrag zum Fördern und Fordern zu leisten, z.B. in dem sie häufiger zu einer Politik der Stabilisierung von Familien zum Zwecke der Rückführung aufgefordert werden.

2. Problembereiche
Trotz einer Reihe von Debatten und Reformvorschlägen aus den vergangenen Jahren sind – wie die Situationsbeschreibung zeigen sollte – eine Menge Probleme ungelöst geblieben. Im gleichen Zuge, wie sich gesellschaftliche und fachliche Krisen zugespitzt haben, sind sie aber deutlicher und damit auch handhabbarer geworden. Benannt werden können nur einige Problembereiche, die ihrer Lösung harren; sie werden gruppiert nach jugendhilfepolitischen Grundsatzproblemen, Organisationsproblemen und fachlichen Herausforderungen.

2.1 Grundsatzprobleme
Jugendhilfepolitische Grundsatzprobleme im Bereich der Pflegekinderhilfe sind

a)   Unklarheiten über den Stellenwert des Pflegekinderbereichs im Kontext der erzieherischen Hilfen und

b) unklare Rechtspositionen der Beteiligten

Beim ersten Punkt geht es um zwei, zusammengehörende,  Dinge: Zum einen hat es der Pflegekinderbereich bislang nicht geschafft, sich als ein eigenständiges Feld erzieherischer Hilfen mit einem eigenständigem Auftrag  zu etablieren, was sich zum anderen auch darin zeigt, dass ihm von Kommune zu Kommune eine ganz unterschiedliche Bedeutung zugemessen wird. Anders als die beiden anderen Hauptsäulen des Systems erzieherischer Hilfe, die Heimerziehung und inzwischen auch die ambulante Familienhilfe, vor allem die SPFH, die über einen relativ klaren Auftrag, eine feste und gleichzeitig flexible, auf unterschiedliche Bedarfe hin konzipierte,  Struktur und ein gewisses fachliches Selbstverständnis verfügen, ist der Pflegekinderbereich eher ein mit Misstrauen bedachter, konjunkturabhängiger und von relativ willkürlichen Entscheidungen abhängiger Bereich geblieben. Der Ausbau des Pflegekinderbereichs wird, wo es ihn gibt, fast nie mit seinen besonderen Chancen für Kinder (und ggf. auch Jugendliche) betrachtet, sondern eher von fiskalischen Überlegungen (Pflegefamilien als billigere Alternative) abhängig gemacht. Umgekehrt wird die Vernachlässigung des Pflegekinderbereichs in anderen Kommunen nicht selten pauschal mit der Unprofessionalität des Bereichs belegt. Beides hat dazu geführt, dass der Pflegekinderbereich eher von außen gesetzten Bedingungen hinterher hastet, als dass er sich hätte konzeptionell ein eigenes Profil geben können. In der Konsequenz gibt es dann auch selten einen, auch von der Jugendhilfepolitik und der Jugendamtshierarchie, gestützten Gesamtblick darauf, was Pflegefamilien strukturell leisten können, wo ihre Stärken und Grenzen sind und wie und mit welchen Mitteln sich Grenzen verschieben ließen.

Unklare Rechtspositionen der Beteiligten, das zweite, ist zwar primär ein rechtliches Problem, aber mit erheblichen Konsequenzen für alle Beteiligten, incl. Fachkräfte im Bereich. Es geht hier um die Stellung der Pflegekinder zwischen zwei Familien, um die für die Herkunftsfamilien, die Pflegefamilien und letztlich auch die Pflegekinder unklare Positionierung zwischen vorübergehend und dauerhaft und um die Positionierung von Pflegeeltern zwischen Privatheit und öffentlichem Auftrag. Die Situation ist für alle Beteiligten, nicht nur individuell, sondern eben strukturell angelegt, mit einem hohen Grad von Ungewissheit und Verunsicherung verbunden. Die Kinder wissen dem Grundsatz nach nie, wohin sie gehören und was ihr Schicksal sein wird, Herkunftseltern und Pflegeeltern wissen nicht, was ihnen wie lange ‚gehört’ und alle wissen nicht, wann und wie lange ihr privater Alltag gesichert ist. Auch Pflegekinderdienste bzw. die einzelnen Fachkräfte haben mit dem Dilemma zu kämpfen, dass sie nichts Verbindliches sagen können; es kann immer alles anders kommen, als man denkt. In Situationen der Unsicherheit neigen Menschen dazu, die Komplexität der Wirklichkeit zu reduzieren, was in der Praxis häufig mit einem hohen Grad an Mauschelei verbunden ist. Man verarbeitet Unsicherheit darüber, dass man sich und anderen falsche Sicherheiten vorgaukelt.

2.2 Organisationsprobleme
Von den vielfältigen Organisationsproblemen im Pflegekinderbereich sollen nur drei aufgegriffen werden. Es handelt sich um den schon bei der Situationsbeschreibung angedeutet Organisationswirrwarr, zum zweiten um Probleme der Entscheidungsfindung hinsichtlich einer richtigen Lösung für ein Kind und drittens um interne und überregionale Kooperationsbarrieren. Alle drei Problembereiche gehören eng zusammen. Zusammen haben sie zur Konsequenz, dass für Niemanden Verlässlichkeit zu haben ist.

Der Wirrwarr von Organisationsformen im Pflegekinderbereich und der mit ihm verbundene Wirrwarr in der personellen, sachlichen und finanziellen Ausstattung hat vor allem zur Folge, dass sich – von diversen Ausnahmen abgesehen – kaum einmal eine von fachlichen Überzeugungen getragene Organisationskultur herausbilden kann. Viele Fachdienste, insbesondere, wenn sie neben der Pflegekinderarbeit mit weiteren Aufgaben betraut sind, sind primär damit beschäftigt, einen nicht enden wollenden Kampf um bessere Arbeitsbedingungen zu führen, irgendwie mit den zu knappen Ressourcen zurecht zu kommen und ihr schlechtes Gewissen, nicht genügend getan zu haben, zu besänftigen. Im ungünstigsten Fall hat man es dann mit resignierten Fachkräften zu tun.

Zu einem besonderen Problem kann sich das Fehlen von Differenzierungsformen auswachsen. Auch wenn diverse Jugendämter – zeitaufwändig zu beantragende – Einzelfalllösungen kennen, mangelt es vielfach an einem strukturierten Ausbau von Pflegeformen nach § 33 Satz 2, für „besonders entwicklungsbeeinträchtige Kinder und Jugendliche“ insbesondere auch für seelisch behinderte, traumatisierte und erheblich bindungsgestörte Kinder. Sie alle mehr oder weniger über den einen Kamm der allgemeinen Vollzeitpflege scheren zu müssen und damit Überforderungen von nicht auf solche Kinder vorbereiteten und entsprechend qualifizierten Pflegeeltern in Kauf nehmen zu müssen, rüttelt am Selbstverständnis der Fachkräfte, für ein Kind die beste aller möglichen Lösungen zu finden und behindert zudem eine fachlich fundierte Erweiterung des Spektrums an Möglichkeiten der Familienpflege.

Interne Kooperationsprobleme haben ihren Hauptgrund in entweder unklaren Zuständigkeitsregelungen oder in divergierenden Grundorientierungen von ASD und PKD. Pflegekinderdienste sehen sich nicht selten von Grundentscheidungen innerhalb der Hilfeplanung ausgeschlossen oder sich einem Diktat von Anweisungen, z.B. wenn es um die Bewilligung ergänzender Hilfen für Pflegefamilien geht, ausgesetzt. Zuständigkeitsprobleme gibt es insbesondere auch für die Arbeit mit der Herkunftsfamilie, ein Bereich, in dem es im Übrigen auch am häufigsten divergierende Grundpositionen gibt, z.B. dann wenn es um Besuchskontakte geht. Solche Streitpunkte können sehr zermürbend sein. Externe Kooperationsprobleme ergeben sich vor allem beim Zuständigkeitswechsel und beim Versuch des ‚Wilderns’ zumeist städtischer Jugendämter in Stadtrandgemeinden.

2.3 Fachlich-konzeptionelle Baustellen
Weite Bereiche dessen, was die praktische Arbeit von Fachkräften mit Pflege- und ggf. Herkunftsfamilien ausmacht – vom Erstgespräch mit BewerberInnen bis zur Krisensituation und zur Beendigung von Pflegeverhältnissen – vollzieht sich im Halbdunkel organisatorischer Vorgaben und individueller Vorlieben. Auf dies alles einzugehen sprengte den Rahmen. Angesprochen werden sollen aber einige Problembereiche zwischen konzeptioneller Grundlegung und fachlicher Umsetzung. Wichtige Bereiche, die noch einer Lösung harren, sind der Umgang mit den Herkunftsfamilien als ‚Besuchseltern’, die Beteiligung von Pflegeeltern und Pflegekindern, die konzeptionelle Grundlegung der Verwandten- und milieunahe Pflege und die Ablösung junger Volljähriger von der Pflegefamilie.

‚Besuchskontakte’ stellen für alle Beteiligten eine hohe Herausforderung dar, ihre Ausgestaltung ist fachlich wenig fundiert. Die Unklarheiten beziehen sich auf Regeln zum Ausschluss von Herkunftsfamilie, in der Anfangsphase ebenso wie im späteren Verlauf, auf den Ort von Besuchen, ihre Häufigkeit und ihre Vorbereitung und Ausgestaltung. In der Folge gibt es nicht selten sich über Jahre hinziehende außergerichtliche und gerichtliche Auseinandersetzungen mit einem Niemandem gut tuenden Gezerre am Kind. Eine Methodenentwicklung, die auf Win-win-Lösungen abzielt, ist eine uneingelöste Herausforderung.

Dass Pflegeeltern an Entscheidungen, die ihren Alltag betreffen und in ihn eingreifen, beteiligt sein sollten, entspricht zwar einer weit verbreiteten Überzeugung, dennoch klagen viele Pflegeeltern darüber, dass sie sich nicht ernst genommen fühlen, sie in ihrem Wissen um das Kind nicht gefragt und gewürdigt sind und sie sich in ihrem Eigensinn nicht respektiert fühlen. In der Konsequenz sagen sie dann nicht selten ‚ja, ja’ und tun ‚nein, nein’. Für Pflegekinder ist die Situation eher noch ‚schlimmer’. Was sie denken, fühlen und möchten, mag in der Pflegefamilie noch Beachtung finden, Fachkräfte hören ihre Wünsche aber zumeist nur gefiltert in der Sekundärschilderung durch Erwachsene. An einem eigenständigen Zugang zu Pflegekindern, z.B. über Pflegekindergruppen oder professionell gestaltete Biographiearbeit, herrscht großer Mangel.

Was die Verwandten- und Milieupflege angeht: Im Umgang mit ihr gibt es besonders viel Unsicherheit. Vielerorts werden Verwandte, Großeltern, Tanten und Onkel etc. oder andere von den Eltern eines Kindes oder von diesem selbst gesuchte Pflegeeltern – obwohl sie einen guten Teil der Pflegeeltern ausmachen – als die schlechtere oder gar als ärgerliche, das professionelle Selbstverständnis störende, Alternative zur ‚feineren’ Fremdpflege betrachtet. Tatsächlich schneiden sie ja auch, was sozialen Status und Bildungsgrad, Wohnverhältnisse und Einkommen und in ihrer Bereitschaft, sich dem fremden Blick des Sozialarbeiters zu öffnen, beim Vergleich mit Fremdpflegefamilien durchschnittlich schlechter ab, – weshalb ihre Betreuung auch anstrengender ist. Hier tut sich als konzeptionelle Lücke die Akzeptanz der Verwandtenpflege als eigenes Subsystem der Pflegekinderhilfe auf, mit einem eigenen Methodenrepertoire. Grundlegender Ansatzpunkt hierfür wäre, Verwandte weniger als Pflegefamilien, mehr als erweitertes Familiensystem zu betrachten und sich auf die für originäre Familiensysteme konstitutiven Regeln, Motive und Autonomiebestrebungen einzulassen.

Schließlich noch die jungen Volljährigen. Sie stellen in der Regel kein Problem dar, wenn sie in der Pflegefamilie von Kindes Beinen an groß geworden sind, was immer noch für etwa 30% der Pflegekinder gilt, weil sich die Pflegeeltern dann zumeist eben auch wie Eltern, weiterhin fürsorglich um ihre Großen kümmern.  Es bleiben aber die vielen anderen, die erst spät in die Pflegefamilien kamen, die im Konflikt aus der Familie scheiden und ihrer herkunfts- oder auch pflegefamiliaren Vergangenheit wegen, den Sprung aus der Familie in die Selbstständigkeit nicht ohne Blessuren bewältigen können. Anders als bei Heimkindern, für die das Problem zumindest, trotz mancher gegenwärtig modernen 17+ Programme, breite Anerkennung gefunden hat, wird die 30%-Ausnahme unter Pflegekindern noch weitgehend als die Regel betrachtet. Unter den bundesweit genehmigten Hilfen für junge Erwachsene befinden sich lediglich 1,2% Pflegekinder, wiewohl sie 40% aller mit einer außer(herkunfts-) familiären Unterbringung ausmachen und Nachbetreuungsmodelle sind im Pflegekinderbereich so gut wie unbekannt. Als konzeptionelle Baustelle tut sich hier die Suche nach geeigneten Übergangsformen für aus ihrer Pflegefamilie ‚entlassene’ jungen Menschen auf

3. Die notwendigen Reformen
Die Reformanforderungen ergeben sich natürlich aus den Problemanzeigen. Zur Vermeidung von Doppelungen seien deshalb quer zu den Einzelproblemen liegende Herausforderungen an den Pflegekinderbereich formuliert. Gebraucht werden: Mehr Vernunft im Pflegekinderbereich, mehr Respekt vor den Lebenswelten des Klientels, mehr Beteiligungsmöglichkeiten, mehr Fairness im Interessenausgleich, mehr Entschiedenheit bei Entscheidungen, und – last not least – mehr Selbstbewußtheit.

3.1 Mehr Vernunft im Pflegekinderbereich
Mehr Vernunft im Pflegekinderbereich meint vor allem, dass Jugendämter und – soweit beteiligt – Freie Träger, sich so organisieren, dass sie die ihnen übertragenen Aufgaben erfüllen können. Hierzu gehört zunächst eine gewisse Organisationsgröße, eine Größe die fachlichen Austausch in einem KollegInnen-Team zulässt, unter deren Dach sich verschiedene, unterschiedliche Kompetenzen bündeln lassen, die es erlauben, den verschiedenen Bedürfnissen von Pflegekindern und Pflegefamilien gerecht zu werden und die vor allem eine Ausschöpfung des Potentials, das die altehrwürdige Institution Pflegefamilie hat, ausnutzen kann. Ziel jeder organisatorischen Neugestaltung sollten zufriedene Fachkräfte, angemessen betreute und durch organisatorische Mängel jedenfalls nicht zusätzlich belastete Pflegekinder, Pflegeeltern und Herkunftsfamilien sein. Dies alles ist nicht zum Null-Tarif zu haben, ist nicht nebenher zu erledigen und verlangt nach einem engagierten jugendhilfepolitischen Wollen. Konkret kann der Aufbau eines qualifizierten Pflegekinderbereichs auch bedeuten, sich der eigenen Beschränkung – z.B. wegen eines zu geringen Pflegekinder-Aufkommens –, bewusst zu werden, und sich über die Kooperation mit benachbarten Jugendämtern (z.B. in interkommunalen Gemeinschaftseinrichtungen, durch partielle Kooperation etwa bei Werbung und Schulung von Pflegeeltern) oder durch Ausgliederung der Arbeit an einen Freien Träger, den notwendigen Handlungsrahmen zu schaffen. Auch wenn das Argument gefährlich ist – es stellt den Pflegekinderbereich leicht in die Ecke des Sparstrumpfs: Vernunft im organisatorischen Ausbau, der Organisation von Vielfalt und Qualität, hilft Verschwendungen zu vermeiden.

3.2 Mehr Respekt vor den Lebenswelten unseres Klientels
Wie eingangs betont: Pflegekinder, Pflegeeltern und Herkunftsfamilien leisten, auch wenn dies nicht dem üblichen Leistungsbegriff entspricht, viel. Diese Leistungen erbringen sie, wie man soziologisch sagen würde, lebensweltlich. Der Stoff, aus dem ihre Träume gewebt sind, entstammt ihren sozialen Lebenswelten und ihrem spezifischen persönlichen Umfeld. Hier haben sie ihre Alltagsroutinen, Rituale und Problemlösungsmechanismen entwickelt, ihre Verhaltensbesonderheiten und normativen Überzeugungen ausgeprägt. Sinn ergibt sich immer aus dem, was im Alltag Sinn gemacht hat.

Der Pflegekinderbereich ist einer, in dem verschiedene Sinn- und Lebesswelten in oft radikaler Weise aufeinander stoßen – und wenn dies unverstanden bleibt – Brüche provoziert und Wunden hinterlässt. Sie weniger schmerzhaft zu machen,  ist eine wichtige Aufgabe von Fachkräften im Pflegekinderbereich. Sie können diese Aufgabe nur erfüllen, wenn sie wissen, ‚was Sache ist’ und welches ‚Spiel jemand spielt’. Sie müssen die Lebenswelten ihres Klientels, der Herkunftsfamilien, der Kinder, der Pflegeeltern kennen, um sie beeinflussen zu können. Sie müssen aber gleichzeitig respektieren, dass Menschen eben nur das eine Leben haben, in dem sie sich auskennen und zu Hause fühlen. Für die Auswahl von Pflegeeltern und den Beratungsprozess, für den Umgang mit der Herkunftsfamilie, für das Verstehen kindlicher Verhaltensweisen und schließlich für die Moderation von Annäherung und die Überwindung von Fremdheit zwischen den Beteiligten, ist der Respekt vor der Lebenswelt und den alltagsweltlichen Kompetenzen aller das Pflegeverhältnis konstituierender Personen, eine Schlüsselvariable.

3.3 Mehr Fairness im Interessenausgleich und bessere Beteiligungsmöglichkeiten für Pflegekinder und ihre Familien
Pflegeeltern und Herkunftsfamilien sind sehr ungleiche Partner, fachlichen und bürokratischen Normen verpflichtete Fachkräfte und lebensweltlich orientierte private Personen ebenfalls,  im Erwachsenen-Kind-Verhältnis ist auf Überwindung zielende Ungleichheit immer schon in der „Entwicklungstatsache“ (Siegfried Bernfeld) angelegt. Wer die Waffenungleichheit nicht für eigene Zweck ausnutzen will, wird so weit wie möglich Waffengleichheit, politisch korrekter, Chancengleichheit, beim Auspendeln von Interessen herstellen müssen. In aller Regel kann dies nur heißen, den jeweils Schwächeren zu stützen. Hier tut sich ein weites, für die Praxis der Pflegekinderhilfe höchst bedeutsames Feld auf zwischen einer ehrlichen und umfassenden Informationspolitik allen Beteiligten gegenüber, über die persönliche und soziale Unterstützung von in der Hilfeplanung benachteiligten Personen bis hin zu – über die klassischen Mittel Dienstaufsichtsbeschwerde und Widerspruch („formlos, zwecklos“ heißt es im Volksmund zu ihnen) hinausgehenden, Beschwerdeverfahren für Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Gerade dies als ein entscheidendes Reformanliegen zu betonen, ist wichtig, weil manchem von dem, was in der konkreten Arbeit die größten Schmerzen macht - die ‚Widerspenstigkeit’  von Eltern, der resignierte Rückzug von Pflegeeltern und die Trotzreaktionen von mit sich und ihrem Los unzufriedenen Pflegekindern –, vermutlich einfach die Spitze genommen werden könnte, wenn  sich jeder einbezogen, ernstgenommen und fair behandelt fühlte. Man kennt das im Übrigen ja auch aus dem eigenen Arbeitsleben, womit auch der Kontext für Fairness angedeutet ist. Nur einbezogene, als bedeutsam geschätzte Menschen, können dies auch weitergeben.

3.4 Mehr Entschiedenheit bei Entscheidungen
Mehr Entschiedenheit bei Entscheidungsprozessen ist gewissermaßen das Pendant zum fairen Interessenausgleich. Um handeln zu können, müssen Fachkräfte alles und alle verstehen (tunlichst einschließlich sich selbst), sie müssen aber auch ‚njet’, bis hierhin und nicht weiter sagen können. Zum Glück gibt es ein unbestechliches, wenn auch vielleicht nicht ganz unverfälschbares, Kriterium für Entschiedenheit: Das Wohl des Kindes. Sich an ihm als Richtschnur zu orientieren gibt zwar nicht automatisch Sicherheit, kann aber Wegweiser zu einem ‚guten’ Pflegekinderbereich sein. Die Nicht-Eignung von BewerberInnen etwa, lässt sich besser feststellen und begründen, wenn dargelegt werden kann, dass diese Bewerber nicht dazu in der Lage sein werden, die für die Erziehung eines besonderen Kindes erforderliche Empathie aufzubringen und wenn sich feststellen lässt, dass es für ein fremdes Kind keinen wirklichen Platz in der Familie gibt. Wo es hier berechtigte Zweifel gibt, soll und muss ‚nein’ gesagt werden. Ein bisschen geeignete Pflegeeltern kann es nicht geben. Klar zu entscheiden, mit Blick auf das Wohl des Kindes, ist auch, ob dieses bestimmte Kind in diese bestimmte Familie passt. Wo die Erwartungen der Pflegeeltern nicht zu den Bedürfnissen der Kinder (zu denen auch der Erhalt des Kontaktes zu den Eltern gehören kann) passen, muss ebenfalls klar nein gesagt werden und ggf. nach einer ganz anderen Lösung gesucht werden. Bei Besuchskontakten schließlich ist Entschiedenheit immer dann gefragt, wenn ein Kind zum Spielball von Erwachseneninteressen wird und wo es selbst etwas will.  Als Reformanforderung formuliert: Es muss sich herumsprechen, das Kindesinteressen vor Erwachseneninteressen gehen und erstere die einzig legitime Richtschnur für jugendamtliches Handeln sind.

3.5 Ein wachendes Selbstbewusstsein der Fachkräfte in Pflegekinderdiensten
Eine Schlüsselrolle für  die Reform des Pflegekinderbereichs kommt schließlich einem wachsenden Selbstbewusstsein von Pflegekinderdiensten zu. Ihrem Aufgabenbereich gemäß, ist der Pflegekinderbereich eindeutig ein eigenes Subsystem erzieherischer Hilfen. Es geht in ihm darum,  die Rahmenbedingungen für gelingende Sozialisationsprozesse außerhalb der Herkunftsfamilie, aber innerhalb eines familiaren Umfeldes, zu schaffen und Sozialisationsprozesse über Beratungsprozesse und Unterstützungsleistungen abzusichern. Auch wenn einige hoheitliche Aufgaben hinzu kommen, ist ihre vornehmste Aufgabe die „Organisation von Lernprozessen unter dem Anspruch von Emanzipation“ (Klaus Mollenhauer) oder anders, ihnen kommt die Rolle einer Erziehungsleitung zu, ein Aufgabenbereich, der ihr auch gesellschaftliche Bedeutung verleiht. Als Reformanforderung formuliert: Der Pflegekinderbereich kommt nur weiter, wenn es ihm gelingt, sich als eigenes Berufsfeld zu etablieren, wozu nach allem, was man über Professionalisierungsdebatten weiß, eine spezifische theoretische Fundierung, ein eigenes Methodenrepertoire, eine berufsspezifische Ethik und zumindest eine gewisse organisatorische Unabhängigkeit gehört. Die für den Pflegekinderbereich eher typische als untypische Außensteuerung durch vorgegebene Entscheidungen ist professionellem Handeln abträglich.

Prof. Dr. Jürgen Blandow ist Erziehungswissenschaftler, leitete eine Kinder- und Jugendheim, Mitarbeit in einem Aktionsforschungsprojekt im Strafvollzug, Universitäts-Assistent für Soziologie, Schwerpunkt Jugendhilfeforschung und Kriminologie, Universitäts-Professor für Sozialpädagogik von 1977-2005

 

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