FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Artikel / Jahrgang 2001

 

Tod eines Kindes

von Hildegard Niestroj (März 01)
 

Vorbemerkung: Der folgende Beitrag wurde während der Tagung Kindeswohl, staatliches Wächteramt und Garantenpflicht des Jugendamtes vorgetragen. Veranstalter waren die Fachhochschule Frankfurt/Main sowie das Jugend- und Sozialamt. (s. a. Tagungsbericht)
C.M. (Mai 01)


Datenzusammenstellung auf der Grundlage folgender Literatur:

  • Mörsberger, Thomas; Restemeier, Jürgen (Hrsg.): Helfen mit Risiko. Zur Pflichtenstellung des Jugendamtes bei Kindesvernachlässigung, Neuwied 1997
  • Bringewat, Peter: Tod eines Kindes. Soziale Arbeit und strafrechtliche Risiken, Baden-Baden 1997

Name: Troost
Vorname: Lydia, geb. am: 15.10.1993, gest. am: 07. 05. 1994

Kindesmutter: Nadia (bei d. Geburt v. Lydia: 19 J.)
Kindesvater: Uwe Volk
Geschwister: Peter, geb. am 25. 09. 1992; bei Geburt der Schwester: 12 Monate; bei ihrem Tod: 19 Monate
Großmutter mütterlicherseits: Frau Schmitz

Todesursache : Bei der Obduktion wurde festgestellt, dass Lydia an Herz-Kreislaufversagen bei hochgradiger Auszehrung und Austrocknung auf nicht natürliche Weise verstorben ist. Es fehlte praktisch jegliches Fettgewebe. Weiterhin fanden sich ausgedehnte Spuren von Vernachlässigung in Form von ausgedehnten flächigen Hautdefekten im Genital- und Beckenbereich sowie in großen Anteilen des Rückens. Der 64 cm lange Säugling wog 3673 Gramm (M&R, 62)

Geburtsgewicht: 3.400 Gram
Gewicht:  März 1994: 5.600 Gramm
Gewicht bei ihrem Tod: 3.673 Gramm (Länge 64 cm)

Alter von Lydia

Alter des Bruders

Datum

Geschehen

 

 

 

Zur Vorgeschichte: Hinweis auf problematische Lebensumstände der KM in deren Vorgeschichte, die in ungesicherten Umständen als nichtehel. Kind aufgewachsen war: Reibereien zwischen KM und Stiefvater; Abbruch der Lehre, Sehnsucht nach intakter Familie. Der Freund und spätere KV, mit dem sie als 17-Jährige  nach Ahaus gezogen war, verliert Job und Wohnung. Die KM „wird schwanger, ungewollt, wie sie später sagt. Ein Zelt bietet ihnen Zuflucht. Dort wohnen sie unter miserablen hygienischen Verhältnissen bis zum 7. Schwangerschaftsmonat der werdenden Mutter. Zurück  nach Osnabrück. Das Ordnungsamt weist ihnen einen Wohncontainer an der S-Str. zu, einer Ausfallstr. Am Rande der Stadt. (M&R, 77).

 

Geburt von Peter

25.09.1992

Die Rückkehr in ein halbwegs geordnetes u. geregeltes Leben gelingt der KM nach diesen Horrormonaten nicht mehr... Während die KM ihr erstes Kind Peter entbindet, schaffen Mutter, Bekannte u. Nachbarn der Obdachlosensiedlung Ordnung im Haus. Die KM fühlt sich alleingelassen“ (M&R, 77)

Vorgeburtl. Zeit

3 ½  Mon

Jan. 1993

Beginn der vorgeburtlichen Zeit von Lydia. „Tief enttäuscht u. verzweifelt sucht die KM nach einem neuen Anfang, sieht einer zweiten Schwangerschaft mit Grauen entgegen“ (M&R, 77).

 

4 Mon.

Feb. 1993

Die Sozarb wird für Familie Troost zuständig.

4. Mon. Pränat.

8 Mon.

Mai 1993

Trennung der Kindeseltern; KV zieht zur Freundin in die Wohnung einer Nachbarin / Wohncontainer – Obdachlosenunterkunft an einer Ausfallstraße.

5. Mon. Pränat.

9 Mon.

Juni 1993

Gespräch der Sozarb mit Kindeseltern, da sie gehört hatte, dass Peter schlecht versorgt sei („Trennungsgespräch“). Vorwurf des KVs an KM, sie kümmere sich nicht genug um den Haushalt und um das Essen. Zu der Zeit bestanden regelmäßige Kontakte zw. Sozarb und KM wegen zunehmender Verwahrlosung des Haushalts (M&R, 63).

Geburt Lydias

12 Mon.

15.10.1993

Geburt von Lydia im Krankenhaus. Geburtsgewicht: 3400 Gramm. Während des Krankenhausaufenthaltes der KM mit dem Neugeborenen räumen Nachbarn die unglaublich verdreckte Wohnung auf. Man habe bergeweise Müll aussortiert und weggeworfen.

 

 

Okt. 1993

Der KV beschwert sich beim JA, dass der Haushalt nicht ordentlich geführt werde und Sohn Peter einen wunden Po habe.

5 Wochen

13 Mon.

18.11.1993

Lydias Onkel (Guido Volk)  und dessen Lebensgefährtin haben ein Gespräch mit Sozarb und der KM: Vorwurf: Die KM könne ihren Haushalt nicht in Ordnung halten, sei zu faul, ihn ordentlich zu führen.

7 Wochen

1;2 Jahre

01.12.1993

Nachbarn suchen abermals d. Gespräch mit Sozarb (ohne Anwesenheit der KM): Die Lebensgefährtin des Onkels von Lydia erklärte dabei der Sozarb, sie habe während der Schwangerschaft der KM in der Wohnung eine Babyflasche mit Milchresten und Maden unter dem Bett gefunden. Während die KM zur Entbindung gewesen sei und die Nachbarn die Wohnung gereinigt hätten, hätte sie verschimmelte Essensreste in den Töpfen gefunden, das Bettzeug soll verschmiert gewesen sein, schmutzige Windeln hätten herumgelegen. Peter habe einen wunden Po gehabt, und zwar so schlimm, dass er stellenweise geblutet habe. Die Anwesenden warfen der Sozarb vor, sie würde bei der KM nicht durchgreifen. Resümee der Sozarb.: Die Sorge um die Kinder sei vorgeschoben, alle Beteiligten stünden zur KM in einem  -teilweise  verdeckten - Konflikt

3 Mon.

1;3 Jahre

15.01.1994

Die Sozarb stellt im Rahmen der Weiterbildung > systemisches Handeln in der soz. Arb. > den Fall  „Frau T.“ (KM) dar. Es beschäftigte sie das ambivalente Verhalten der KM bezüglich des Auszugs aus der Notunterkunft (M&R, 50)

3 ½ Mon.

1;4

21.02.1994

Umzug: Die KM zieht mit Lydia und Peter in die Obdachlosenunterkunft der E.-Str. um (Wohnanlage B.). Die Notunterkunft besteht aus einem Zimmer, Küche u. Bad (M&R, 56). Die Häuser liegen in unmittelbarer Nähe des Bahnhofs in einem Wohngebiet in der Nähe des „Rotlichtmilieus“. Die Situation ist geprägt von beengten Wohnverhältnissen. Die Hausflure sind ständig verschmutzt, da sich niemand verantwortlich fühlt... Auch hier sind die Kinder und Jugendlichen die am meisten Benachteiligten. Die Kinder erleben vielfache Konfliktlagen, die ein hohes Gewaltpotential, Aggressivität und Neigung zu kriminellen Handlungen (Diebstahl) zur Folge haben können... (M&R, 42.

knapp 5 Mon

1;5 Jahre

11.03.1994

Die KM kam während der Sprechzeit zur Sozarb ins Büro. Die KM erklärte, die Kinder nähmen sie zu sehr in Anspruch, als dass sie Zeit fände, den Haushalt entsprechend zu führen.

knapp 5 Mon

1;5 Jahre

13.03. – 23.03.1994

Krankenhausunterbringung von Lydia; Diagnose siehe unter 17.03.94.

 

 

So., 13.3.1994

Als die KM am Sonntagmorgen die Windeln bei Lydia gewechselt habe, hätte sie festgestellt, dass Lydia über und über mit Pusteln übersät war. Im Laufe des Tages sei sie immer unruhiger geworden und habe Fieber bekommen,  die KM habe Lydia daher gegen 18.00 Uhr ins Krankenhaus gebracht (siehe hierzu auch unter: Stellungnahme vom 05.04.1994)

 

 

Mo., 14.03.1994

Die KM erscheint im Büro der Sozarb  und teilt dieser das Geschehen mit. Zwei Std. später erklärt die KM der Sozarb, sie habe erfahren, dass Lydia eine Windeldermatitis habe, die durch den „Gebrauch einer falschen Windel entstanden sei“. Sie (habe ein schlechtes Gewissen, siehe 5.4.94) sei nun entschlossen, eine sozpäd. Fam.hilfe in Anspruch zu nehmen  jüngere Frau (als Hilfe bei d. Organisation des Haushalts und Entlastung von den Kindern). GM äußerte später dazu, dass die KM diese um den Finger wickle (siehe unter: 21/22.3.94; M&R, 57 f.).

 

 

Die., 15.03.1994

Anonymer Anruf beim JA: Die Kinder seien stark vernachlässigt. Es solle sich Müll in der Wohnung stapeln. Die Sozarb kenne die KM seit mehr als 1 Jahr, ohne dass sich etwas ändere (M&R, 56).

 

 

Do.; 17.03.1994

Der behandelnde Arzt wendet sich telefonisch an das JA. (M&R, 20!; aus d. Perspektive d. Sozarb wird es umgekehrt formuliert, M&R, 56). Der Kinderarzt Dr. Schmidt hat vor der Staatsanwaltschaft ausgesagt,  „ Lydia habe neben der Windeldermatitis an einem Pilzbefall von den Kniekehlen bis zu den Schulterblättern gelitten. Außerdem habe sie an einem Brechdurchfall gelitten. Die Nahrungsaufnahme war gestört. Das Kind habe sich in einem befriedigenden Ernährungszustand befunden. Er hat bekundet, ihm seien erhebliche Zweifel gekommen, ob die Mutter in der Lage sei, die gegebenen Ratschläge zu befolgen (deshalb bricht er seine Schweigepflicht u. ruft beim JA an! H.N.) . Daher habe er sich telefonisch an das Jugendamt gewandt, um diesen Sachverhalt dort bekannt zu geben. Der (Arzt) hat ausgesagt, er habe die Sozarb darauf hingewiesen, dass es notwendig sei, dass die KM und das Kind Lydia eine derartige Betreuung erhielten, die eine tägliche Kontrolle des Kindes und seines Gesundheitszustandes beinhalte.

Perspektive d. Sozarb: Telefonat mit dem behandelnden Arzt, Dr. Schmidt, M.-Hospital. Der Arzt berichtete von der Erkrankung des Babys, das mit einer großflächigen Windeldermatitis, die von den Achseln bis in die Kniekehlen reichte und mit Pilz befallen war, dort lag. Er erklärte, dass die KM mit der Versorgung und Betreuung der Kinder überfordert sei. Er habe sie darauf hingewiesen, dass dieser Zustand nicht innerhalb eines Tages entstehen könne und auch nichts mit einer falschen Windel zu tun habe. Ein solches Ausmaß entstehe durch schlechte Pflege über Tage. Er berichtete weiter, dass verschiedene Leute im Krankenhaus anonym angerufen hätten, um über die Mutter und die Vernachlässigung der Kinder zu berichten (Gesprächsvereinbarung zw. Arzt und Sozarb in Anwesenheit der KM (!) für den 23.03.1994).

5 Mon.

1;5 Jahre

Fr. d., 18.03.1994

„Am folgenden Tag  nahm die Sozarb Kontakt mit der Mutter von Frau T. (GM von Lydia) auf, die ihr berichtete, dass auch sie schon beim Wickeln von Lydia dicke Pusteln im Genitalbereich festgestellt habe, was sie nur auf die Unsauberkeit ihrer Tochter zurückführe sowie auf die Tatsache, dass Lydia die Windeln von Peter tragen müsse“  (M&R, 57) ; (wahrscheinl. ist die gl. Windelgröße gemeint, H.N.). Anders M&R, 21, Auszug aus d. Anklageschrift d. Oberstaatsanwaltschaft: „Die Großmutter (der Lydia und Mutter der Frau Troost) hat bekundet, sie habe am 18.3.1994 einen Besuch beim Jugendamt genutzt, um über ihre Tochter zu sprechen. Bezüglich der Angeschuldigten (Sozarb) habe sie damals geäußert, dass die Kinder gefährdet seien, wenn die Sache so weitergehe. Die Angeschuldigte habe ihr darauf von der Familienhilfe berichtet“.

 

 

18.03.1994

Am gleichen Tag informiert die Sozarb die KM über einen anonymen Anruf. Sie spricht von der SPFH ab April 1994  junge Frau. Ebenso erkundigt sie sich nach dem Haushalt der KM. Diese schildert: Ihr Haushalt sei ein „Schlachtfeld“ (ich denke hier an das Fußbodenmosaik im Dom von Siena, H.N.).

 

 

18.03.1994

Die Sozarb ging dann gemeinsam mit der KM in die Wohnung und stellte fest, dass diese völlig verdreckt war. Auf dem Boden befand sich Hundekot, dreckige und zerrupfte Windeln lagen herum, Essensreste, Krümel und Abfall waren verstreut, schmutziges Geschirr, z.T. mit Schimmel bedeckt, war in der Wohnung verteilt, die Kinderbetten waren nicht bezogen und verschmiert, die Toilette bis zum Rand verstopft. Weil die Sozarb es unverantwortlich fand, dass sich ein Kind (Peter) in der Wohnung aufhalte, half sie der KM, den Haushalt notdürftig in Ordnung zu bringen und informierte die Rohrreinigung (M&R, 57).

 

 

21. od. 22.03.1994

Hausbesuch bei der GM: Die GM berichtete der Sozarb. von ihrer Sorge bzgl. der Versorgung ihrer Enkelkinder: Die KM halte die Wohnung, die Kinder und auch sich selbst nicht sauber. Man solle ihrer Tochter die Kinder wegnehmen oder auf alle Fälle ordentlich Druck damit machen, sie ihr wegzunehmen. Sie meinte auch, dass ihre Tochter eine Familienhilfe nur um den Finger wickeln werde und sich letztendlich nichts ändere. Ihrer Meinung nach gebe ihre Tochter ihren Kindern auch kein entsprechendes Essen.

 

 

Mi., d. 23.03.1994, schwarzer Tag für Lydia

Gespräch im M.-Hospital mit dem behandelnden Arzt, einer Kinderkrankenschwester, der KM, der Sozarb., im Beisein des 5 Mon. alten Säuglings und praktischen Übungen direkt an Lydia. Anschließend: Entlassung Lydias aus dem Krankenhaus (M&R, 58).

Der Arzt berichtete erneut von dem Ausmaß der Windeldermatitis und auch von den Ursachen. Das Baby könne über Tage hinweg nicht ordentlich saubergemacht worden sein, die wunden Stellen seien mit Pilz befallen gewesen. Inzwischen sei die Haut gut abgeheilt (doch sie ist nicht mit heiler Haut davongekommen). Eine Kinderkrankenschwester (Fr. Lander) erläuterte im Verlauf des Gesprächs anhand von praktischen Übungen der KM, wie das Baby versorgt werden müsse, wie sie Lydia wickeln solle, wie die Körperpflege auszusehen habe... Der Arzt erklärte weiterhin, es sei unbedingt erforderlich, dass sofort im Anschluss an den Krankenhausaufenthalt eine wenigstens zweistündige Pflege von Lydia durch eine erfahrene Kraft erfolge. Es müsse eine Pflege und Kontrolle bis zum „Hineinschauen in die Windel“ erfolgen (die Sozarb sagte, dass ab 1.4. jemand zur Verfügung stünde. Die KM stimmte dieser Familienhilfe zu). Lydia wurde am 23.03.1994 in den Haushalt der KM entlassen. Der Krankenhausaufenthalt Lydias “ wird von der Sozarb deutlich als Anzeichen für eine schwere Krise interpretiert, wie insbesondere in dem Vermerk über das Abschlussgespräch und Aussage der Krankenschwester erkennbar ist. Frau Troost (KM) macht sie (die Krankenschwester ) klar, dass sie durch ihre Vernachlässigung der Wohnung und der Kinder > die Gesundheit (das Leben) ihrer Kinder > erheblich gefährdet hätte (Aktenverm. der Sozarb, M&R, 49).

5 Mon.

1 ½ Jahre

Fr., d. 25.03.1994

Die KM kam mit Lydia in das Büro der Sozarb. „In einem längeren Gespräch machte die Sozarb ihr klar, dass der Zustand der Wohnung und die Versorgung der Kinder die Gesundheit (das Leben) ihrer Kinder erheblich gefährdet hätten und kein zweites Mal vorkommen dürften (Vermerk d. Sozarb vom 6.4.94). Es wurden weiter die Ziele für den Einsatz der sozpäd. Familienhilfe besprochen, Frau Troost stellte sich dabei die selbständige Organisation des Haushalts und der Kinderversorgung vor, sie fügte weiter an, um ihrer Faulheit entgegenzuwirken, brauche sie Druck und „einen Tritt in den Hintern“ (M&R, 58 f.).

5 Mon.

1 ½ Jahre

Mo., d. 28.03.1994 (Beginn der Karwoche, Karfreitag  1.4.94)

Die KM kam ins Büro der Sozarb und teilte ihr mit, sie habe seit Freitag (25.03.1994) wieder einen Freund. Die Sozarb vermerkte, dass die KM recht zufrieden sei und Zukunftspläne schmiede (M&R, 59).

Die SPFH ist angestellt beim Sozialdienst Katholischer Frauen (ev. Kontaktaufnahme zwischen 5. – 8. April  Terminabsprache ?).

5 Mon.

1 ½

Dienstag nach Ostern, d. 05.04.1994

Schriftliche Stellungnahme der Sozialarbeiterin zum Antrag auf eine sozpäd Familienhilfe gemäß § 31 KJHG für Familie Troost.

Sie schilderte dabei die Vorgeschichte und die aktuelle Situation. Bei letzterem wies die Sozarb ausführlich auf den Krankenhausaufenthalt von Lydia hin. Dazu führte sie aus: Die Tochter (von Frau T.) „ habe am Sonntag plötzlich Ausschlag am ganzen Körper sowie etwas Fieber bekommen, habe nur  noch geschrien und sei apathisch gewesen. Darauf habe sie sie ins M.-Hospital gebracht. Sie habe ein schlechtes Gewissen und wolle zukünftig, wie besprochen, eine Hilfe in Anspruch nehmen. In einem darauffolgenden Gespräch gab sie zu, ihre Wohnung sei zur Zeit ein Schlachtfeld. Wir gingen gemeinsam hinüber, um ggf. etwas Ordnung zu schaffen. Die Wohnung war vollständig verdreckt. Auf dem Boden waren Müll, Kot des Hundes, zerrissene und dreckige Windeln der Kinder, Essensreste, Schnuller, Geschirr und Fläschchen, die Betten waren nicht bezogen und verschmiert, die Toilette war bis zum Rand verstopft.“ In der anschließenden eigentlichen Stellungnahme führte die Sozarb aus:

„Ich halte den Einsatz einer SPFH für dringend erforderlich, da die KM mit der Organisation des Haushalts sowie der Versorgung und Erziehung der Kinder überfordert ist. Sie wisse, wie sie die Arbeit zu verrichten habe, bekomme dies allerdings nicht organisiert. Wenn ihr einmal der Haushalt über den Kopf gewachsen sei, ignoriere sie ihn vollständig und flüchte lieber zu Nachbarn oder in die Stadt. Darüber hinaus sei sie recht faul bei der Erledigung der Arbeiten und benötige hierfür Druck von außen. Darüber hinaus kann die KM nach meiner Einschätzung Peter (er ist 1;6 J.) keine Grenzen setzen, so dass er ungehindert zur Schaffung des Chaos im Haushalt beiträgt.

Frau Troost lässt sich leicht aus dem Gleichgewicht bringen und gerät insofern auch schnell in Krisensituationen, die sich entsprechend der oben geschilderten Situation äußerst zuspitzen. Kleine Anlässe, wie geringfügige Krankheit, Auseinandersetzung mit Freunden, Unzufriedenheit mit sich selbst, Quengeln der Kinder (!), ziehen eine Kette von Folgeerscheinungen hinter sich her, die in Kontaktabbrüchen zu „allen“ Freunden und Verwandten, in völliger Überforderung, in Starrheit, Handlungsunfähigkeit und Vernachlässigung der Kinder enden. Um hier Abhilfe zu schaffen und eine Wiederholung einer solch massiven Krise zu verhindern, ist eine kontinuierliche Begleitung beim Erlernen der Erledigung alltäglicher Dinge, bei der Organisation des Haushaltes und der Versorgung der Kinder und langfristig die Schaffung einer Lebensperspektive durch Betrachten und Ordnen (Organisieren) aller Faktoren der Lebensorganisation erforderlich.

Ziele:

Ziel des Einsatzes einer sozpäd. Familienhilfe in der Familie Troost soll eine selbständige Organisation des alltägl. Lebens, die Kinderversorgung und Umgang mit den Kindern sein. Dies kann durch folgende Schritte erreicht werden:

  • Pläne erstellen, Terminpläne, Putzpläne, Zeitpläne usw.;
  • Anleiten in der alltäglichen Arbeit;
  • Reflexion des Erlernten;
  • Aufzeigen von Notwendigkeiten;
  • Maßstäbe erarbeiten und diese ansetzen lernen;
  • Zusammenhänge analysieren, aufzeigen und verändern;
  • Konkrete Schritte müssten zu Beginn der sozpäd. Familienhilfe miteinander erarbeitet werden.“ (M&R, 60).

Bei Verhandlungen in der zweiten Instanz warf der Oberstaatsanwalt der Sozarb vor, sie habe die Dinge zwar erkannt, aber nicht die richtigen Konsequenzen daraus gezogen. Ihre Aufgabe sei es gewesen, Anwältin der Kinder und nicht der Mutter zu sein. Mit der Einsetzung einer sozialpädagogischen Familienhilfe (SPFH) habe sie nicht Lydia und ihrem älteren Bruder geholfen, sondern eher den Haushalt und die Putzpläne im Blick gehabt“ (M&R, 134).

 

 

Kurz zuvor:

Zuvor hatte die Sozarb den Fall im Team besprochen. Man „war gemeinsam der Meinung, dass die sozialpäd. Familienhilfe wegen völliger Überforderung der Mutter bei der Versorgung und Pflege der Kinder sowie der Organisation des Haushalts notwendig sei. Damit solle langfristig der Verbleib der Kinder bei der Mutter gesichert werden (Bringewat, 122)

 

 

12.04.1994

Erstgespräch zw. Sozarb, SPFH, einer weiteren Mitarbeiterin des Sozialdienstes kath. Frauen und der Km in deren Wohnung. „Während dieses Gesprächs versorgte Frau T. (KM) beide Kinder mit Nahrung. Die SPFH gewann dabei den Eindruck, dass die KM in der Lage war, ihren Kindern Zuwendung zukommen zu lassen und auch die Grundversorgung (!) zu gewähren.... (Die KM) erläuterte in dem Gespräch, sie brauche jemanden, der >sie in den Arsch treten solle<. ...Dass die KM insbesondere mit der Versorgung und Pflege der Kinder überfordert sei, dass der Zeuge Dr. Schmidt eine zweistündige Pflege allein des Babys verlangt hatte, wurde nicht angesprochen“. Vereinbarung mit der SPFH: 3x wöchentlich Besuche. KM solle alles bedenken und in der folgenden Woche Bescheid geben. 

 

 

12.04.1994

Das Verhungern des Kindes hatte bereits begonnen. (Ausführungen des Sachverständigen Prof. Sch.). „Der Sachverständige hat überzeugend ausgeführt, dass das Kind völlig abgemagert gewesen sei, ein solcher Zustand werde auch bei einem Baby nur erreicht, wenn zwar Flüssigkeit zugeführt würde, aber über mindestens 3 bis 4 Wochen unzureichende Nahrung. Bemerkbar sei dies nach 7 bis 10 Tagen des Beginns der unzureichenden Nahrungszufuhr an einem greisenhaften und faltigen Gesicht und eingefallenen Augäpfeln“ (M&R, 66).

6 Mon.

1;7 Jahre

Mo., 18.04.

Die KM meldet sich bei der Sozarb und erklärt ihre Zusammenarbeit.

 

 

Die., 19.04.

1. Woche SPFH: Ziel = Eine Beziehung zur Familie aufzunehmen.

 

 

Do.,  21.04.

Anlässlich der ersten Besuche fütterte und wickelte die KM die Kinder.

 

 

Fr.,   22.04.

Es wurden Wochenpläne zur Versorgung der Kinder und der Wohnung sowie ein strukturierter Tagesablauf erstellt (M&R, 61, 112). (Über den Verlauf der Betreuung sagte die Sozpäd. Familienhilfe der Sozarb, die sich erkundigte, dass die Arbeit gut laufe.

 

 

23.04.1994

2 Wochen vor dem Tod Lydias, d.h. ab dem 23. April 1994,  seien die Hautschäden, die bei ihrem Tod festgestellt wurden, verursacht worden, wobei dies im Erleben des Kindes 14 endlos scheinende Tage und Nächte gewesen sein müssen:  Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme besteht kein Anhalt dafür, „dass das Kind in den ersten Wochen nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus keine ordnungsgemäße Windelpflege erfuhr. Die Hautschäden, die bei ihm nach seinem Tode festgestellt wurden, können maximal in den letzten 2 Wochen vor seinem Tode verursacht worden sein. Das Ausmaß ist nicht dergestalt, dass ein längerer Zeitraum in Betracht kommt. Danach ist davon auszugehen, dass die KM ihre Tochter zunächst sorgfältig oder zumindest ordnungsgemäß pflegte“ (M&R, 116). (Gesundheit und Leben gehören zu den Rechtsgütern! H:N.).

 

 

Die., 26.04.

2. Woche SPFH

 

 

Do., 29.04.

Die zuständige Sozarb tritt ihren Urlaub an.

 

 

Do., 29.04.

An diesem Tag wurde der für den 2.5.1994 vereinbarte Arztbesuch mit den Kindern thematisiert, welcher bereits von der Sozarb abgesprochen war.

 

 

Mo., 2.05.,

3. Woche SPFH: Der Arztbesuch mit den Kindern war vereinbart. Die KM öffnete der SPFH weder vor- noch nachmittags. Lydia bekommt keine ärztliche Hilfe, H.N.)

 

 

Die., 3.05.

KM öffnete der SPFH nicht die Tür, KM wurde nicht angetroffen

 

 

Do., 5.05.

KM wird erreicht, mit der KM gesprochen; SPFH hat die Kinder nicht gesehen. Arzttermin wird thematisiert und der (Arzt-)Besuch am gleichen Tag vereinbart. Die KM öffnete nicht zum verabredeten Zeitpunkt (M&R, 112). Die SPFH „konnte sie (KM) am 5.5.94 erreichen, es wurde nochmals über den Arztbesuch gesprochen. Der Zeugin (SPFH) fiel auf, dass die Küche relativ aufgeräumt war (siehe hierzu unter 7.5.94). Zu dem verabredeten Besuch am 5.5.1994 öffnete Frau Troost (KM) nicht. Die SPFH hinterließ ihr eine Nachricht, dass sie mit ihr über die Zusammenarbeit sprechen wolle. (M&R, 62). „Am 5. Mai 1994 unterhielt sie (SPFH) mit der Mutter, ohne die Kinder zu sehen“ Bringewat, 154).

 

 

Fr., 6.05.

Der Termin wird von der KM versäumt, die KM wird von der SPFH  nicht angetroffen (M&R, 112).

6 ¾ Monate

1;7 Jahre (19 Mon.)

07.05.1994, Sterbetag von Lydia

Tod des Säuglings:

„Am frühen Nachmittag des 7.5.1994 – einem Samstag – erschien die KM bei der Nachbarin und bat sie, in ihre Wohnung zu gucken und im Schlafzimmer nachzusehen. In einem der Kinderbetten lag Lydia. Der herbeigerufene Notarzt konnte nur noch ihren Tod feststellen. Bei der Obduktion am 9.5.94 wurde festgestellt, dass Lydia an Herz-Kreislaufversagen bei hochgradiger Auszehrung und Austrocknung auf nicht natürliche Weise verstorben ist. Es fehlte quasi jegliches Fettgewebe. Weiterhin fanden sich ausgedehnte Spuren von Vernachlässigung in Form von ausgedehnten flächigen Hautdefekten im Genital- und Beckenbereich sowie in großen Anteilen des Rückens. Der 64 cm lange Säugling wog 3673 Gramm.“

„Die (Polizei wurde) am 7.5.1994 durch die Feuerwehr in die (Wohnung der Troost) gerufen. Dort trafen sie gegen 14.55 Uhr ein und fanden das Kind Lydia tot im Kinderbettchen liegen. Aus dem Mund des Kindes trat Erbrochenes aus. Die Windel des Kindes war extrem mit Kot gefüllt. Oberhalb ihres Kopfes lag in ihrem Bett ein fast geleertes Babyfläschchen. Die Mutter erklärte gegenüber den Beamten, (ihr Kind) Lydia habe gegen 11.00 Uhr die letzte Nahrung zu sich genommen, habe aber diese sofort wieder erbrochen“ (M&R, 20).

 „Zum Zeitpunkt des Todes befand sich die Wohnung der Familie Troost in einem völlig verwahrlosten Zustand. Der Zeuge KHM P., der gegen 15.00 Uhr die Wohnung besichtigte, stellte fest, dass in allen Räumen extreme Schmutzanhaftungen und starker Urin- und Kotgeruch wahrnehmbar waren. In der Dusche stand eine verdreckte Katzentoilette, in allen Räumen lag ungewaschene Kleidung am Boden. In der Küche standen größere Mengen schmutzigen Geschirrs, auf dem Boden lagen Speisereste. Eine als Wickeltisch in der Küche dienende Kommode und die Kinderbetten waren durch Urin und Kotanhaftungen extrem verdreckt.“ (siehe Hinweis der SPFH vom 5.5.94, dass die Küche relativ aufgeräumt war), (M&R, 63).

 

 

 

Presse: „ Die Menschen, die Lydia und ihren Bruder an jenem Tag sahen, werden den Anblick nie vergessen. Der ausgezehrte Körper des kleinen Mädchens erinnerte auf schreckliche Weise an die Bilder, die man sonst nur von Fernsehberichten über verhungerte Kinder in Afrika kennt. In der Wohnung hilflos der 20 Monate alte Peter, dem jemand die schmutzige Windel vom Körper genommen hat. Wie bei seiner Schwester zeigt auch sein Unterleib offene Wunden. Gierig trinkt der Kleine ein Fläschchen, das ihm die Helfer gegeben haben.“ (Zeitungsartikel v. 4.6.94, M&R, 74).

„Auch ihr 20 Monate alter Sohn Peter zeigte erhebliche Spuren von Verwahrlosung“ (M&R, 80).

„Unbestritten ist, dass die damals 18 Jahre alte Mutter von Lydia völlig überfordert war und ihr Kind aus reiner Hilflosigkeit verhungern ließ. Verständlich, dass einer solchen Frau nicht zugemutet werden kann, ihr Seelenleben vor einem Publikum auszubreiten, das sich sensationslüstern die Hände reibt. Es lässt sich aber auch nicht ausklammern, was Alkohol und Depression, Minderwertigkeitsgefühl und Lähmung bewirkt haben...“ (M&R, 129).

  • Das schlechte Gewissen der KM mitbeachten bei Überlegungen zur Bindung der KM an die Kinder: „Die Kindesmutter war ihren beiden Kindern mütterlich verbunden und zugetan“ (M&R, 101, 107, 112 )
  • Einmal? In der Anklageschrift der Oberstaatsanwaltschaft heißt es: „(eine Nachbarin der Mutter) hat ausgesagt, die katastrophalen Zustände bei Familie Troost könnten der Angeschuldigten nicht verborgen geblieben sein. Dieser Zustand sei schließlich ein Dauerzustand gewesen.
  • „Oft war die KM nachts weg, so berichteten Zeugen gestern (5.5.1995, Erste Instanz) vor Gericht, die Kinder blieben weinend allein in ihren Betten“  (M&R, 79).
  • Der Begriff „Quengeln“ (!) der Kinder wird hier von der Sozarb in Angst abwehrender Identifikation mit der KM gebraucht. Die schwersten Verlassenheits- und Vernichtungsängste der Kinder werden so kaum wahrgenommen, sondern bagatellisierend als „geringfügiger Anlass“ bezeichnet.

Kindesvernachlässigung aus der Sicht von Lydia

Grundbedürfnis: Einen Platz im Leben und im Erleben einer sorgenden Person haben

Was hätte Lydia gebraucht?

Um einen sicheren Platz im Leben, d.h. in der Welt zu haben, hätte Lydia einen Menschen benötigt, der für sie da war, ihr die notwendigen Bedingungen für das Leben bereitstellte und ihr damit das Recht auf eine eigene Existenz einräumte. Lydia wäre darauf angewiesen gewesen, zu fühlen und zu erleben, dass sie am rechten Platz war.

Was erfuhr sie real?

Lydia blieb ein geschützter Platz in ihrem kurzen Leben vorenthalten. Bei ihrer Geburt konnte sie sich kaum erwartet fühlen. Sie war bereits geboren, als Nachbarn aus der Obdachlosenunterkunft die völlig verwahrloste Wohnung so herrichteten, dass ein Neugeborenes zumindest Obdach finden konnte. Bergeweise wurde von den Nachbarn Müll aus der unglaublich verdreckten Wohnung geschafft. Lydia muss die Situation des Ankommens in dieser Welt als bittere Zurückweisung empfunden haben. Sie war ungewollt. Die Mutter hatte der zweiten Schwangerschaft mit Grauen entgegengesehen. Bereits während der pränatalen Zeit war sie starkem Stress ausgesetzt, denn ein Kind nimmt im Uterus an der Gefühlswelt der Mutter teil. Die stressbedingten Spannungszustände der Mutter wie: Angst, Verzweiflung, Schmerz, Wut oder Scham teilen sich ihm auf vielfältige Weise mit (veränderte Hormonkonzentration, die Umwandlung des vegetativen Apparates wie Herzschlag, Atemrhythmus, Muskelkontraktionen, sowie Tönung des Stimmklanges). Während Lydias pränataler Zeit kam es zu starken Familienzwistigkeiten. Die Eltern trennten sich, und der Vater zog in die Wohnung der neuen Freundin, die gleichfalls in der Obdachlosenunterkunft wohnte. Peter, der gerade als erstes Kind der Eltern auf die Welt gekommen war, war diesen Spannungen ebenfalls ausgesetzt. Auch ihm wurde die notwendige Aufmerksamkeit und Zuwendung vorenthalten. Als Lydia geboren wurde, war beispielsweise aufgefallen, dass sein Po stark gerötet und wund, und an einigen Stellen sogar blutig war.

Grundbedürfnis: Stabile Bindungen

Was hätte Lydia benötigt?

Zu Beginn des Lebens ist die psychische, körperliche und soziale Entwicklung des Säuglings noch eng miteinander verknüpft, so dass Lydia bei der täglichen Nahrungsaufnahme und Pflege die enge seelische und körperliche Verbundenheit mit der Mutter ersehnte. Das tägliche Miteinander bei der Pflege und Ernährung des Säuglings bilden den Hauptanteil seiner Lebenserfahrungen.

Was erlebte Lydia?

Der von Lydia schmerzhaft erlebte Mangel durch fehlende mütterliche Bindung signalisierte ihr Gefahr. Wenn das Baby in Stresssituationen ganz besonders der mütterlichen Nähe bedurfte, wenn es Schutz vor Hilflosigkeit und Ohnmacht erhoffte, so war diese häufig - weder emotional noch konkret - erreichbar. Weinend blieben Lydia und der nur ein Jahr ältere Bruder Peter oft allein in ihren Bettchen, während die Mutter nachts weg war. Den panikartig aufsteigenden Ängsten war Lydia allein ausgeliefert, hatte niemanden, an den sie sich wenden und der sie in ihren Verlassenheitsängsten hätte auffangen können.

Grundbedürfnis: Ernährung

Was hätte Lydia gebraucht?

Die Nahrungsaufnahme des Säuglings dient - neben der Sättigung - vom ersten Saugen an der Brust der Mutter auch einem kommunikativen Akt zwischen Mutter und Kind, bei dem in frühen Interaktionserfahrungen Nähe und Zärtlichkeit erlebt werden. Kann dieses Bedürfnis befriedigt werden, entsteht beim Säugling das Gefühl des Wohlbefindens, das zur Ausbildung des Urvertrauens führt. Es entsteht ein positives inneres Bild, das auch später in schwierigen Situationen trägt. In den ersten Lebensmonaten der frühkindlichen Entwicklung erfasst der Säugling seine Welt überwiegend durch den Mund. Ist die Nahrung gut, so ist die ganze Welt gut, ist sie schlecht, so ist auch die ganze Welt schlecht und der Säugling nimmt ein böses, unberechenbares Weltbild auf, das seine Grundstimmung prägt.

Zur Nahrungsaufnahme benötigt jeder Säugling – also auch Lydia – eine besondere Gestimmtheit: Abwesenheit von Gefahr und Feindseligkeit, eine angenehme Atmosphäre, eine harmonische Umwelt, Behaglichkeit, eine gute Beziehung und Ansprache.

Was erlebte Lydia?

Lydia erlebte eine lieblose Umwelt mit hohem Gewaltpotential, menschenverachtende Destruktivität, Aggressivität und Streit. Die innere - und oftmals auch äußere - Abwesenheit der Mutter überforderte Lydia über das erträgliche Maß hinaus, setzte sie unter Stress, der zu hoher Anspannung, Appetitlosigkeit bis hin zur Abwendung von ihrer Umwelt führte. Sie erkrankte an Brechdurchfall, ihre Nahrungsaufnahme war gestört. Sie litt an Hunger und Durst, konnte nichts bei sich behalten und hatte doch ein ungestilltes Verlangen nach einer gut verträglichen Nahrung. In ihrem seelischen Bedürfnis nach Sättigung war sie nicht gehalten.

Bereits ein Neugeborenes kann den Geruch der Mutter von dem einer anderen Person unterscheiden. Es reagiert auch auf das Gefühl von Ekel.

  • Was gehörte zum realen Erleben Lydias?
  • ekelerregender starker Urin- und Kotgeruch in der völlig verdreckten Wohnung;
  • das Babyfläschchen mit Milchrest und Maden;
  • das schmutzige Geschirr, z.T. mit Schimmel bedeckt;
  • am Boden: Müll, der Kot des Hundes, der Schnuller, das Babyfläschchen.

Unerträglich ist es sich vorzustellen, wie Lydia in der Wohnung der Mutter qualvoll verhungert und verdurstet ist.

Grundbedürfnis: Pflege des Säuglings

Was hätte Lydia benötigt?

Damit Lydia sich hätte als Baby gesund entwickeln können, hätte zu ihrem Wohlbefinden die tägliche liebevolle Pflege gehört. Über die sensiblen Hautempfindungen werden von dem Baby sowohl die zärtlichen Berührungen als auch Schmerz, Wärme und Kälte wahrgenommen.

Als Lydia an Windeldermatitis erkrankte, wäre sie auf eine besonders sorgfältige tägliche Pflege angewiesen gewesen. Scheuerten die Hautschichten aneinander, was gerade im Windelbereich besonders unangenehm ist, hätte eine vorsichtig aufgetragene Paste Linderung bringen können. Ein entzündungshemmender Badezusatz lindert zudem den unerträglichen Juckreiz. Wäre das Baby wesentlich öfter trockengelegt worden und hätte im frisch bezogenen Kinderbettchen auch zwischendurch einmal ohne Windel frei strampeln können, wären die entzündeten Stellen schnell abgeheilt. Zudem hätte der scharfe Urin nicht so schmerzlich auf der wunden Haut gebrannt, so dass Lydia nicht jedesmal hätte weinen müssen, wenn sie musste. Unerlässlich wäre auch die peinliche Sauberkeit des Wickeltischs gewesen.

Was hat Lydia real erfahren müssen?

Schon als Säugling von 7 Wochen musste Lydia in verschmiertem Bettzeug liegen. Später waren Bettzeug und Matratze nicht einmal mehr bezogen und – wie auch das Kinderbettchen selbst – extrem mit Kot verschmiert. War kein sauberer Strampelanzug für sie da, so wurde ihr ein ungewaschener angezogen, der zuvor auf dem Boden gelegen hatte. Gewickelt wurde sie auf der mit Kot und Urin verdreckten Wickelkommode, die in der Küche stand. Von hier aus begann sie mit ihren immer geschickter werdenden Händchen, die Welt begreifen zu wollen. Dabei steckte sie alles in den Mund, was für sie erreichbar war.

Statt mit Windeln gewickelt zu werden, welche auf ihre Größe und das Gewicht abgestimmt gewesen wären, wurde Lydia in die viel zu großen Windeln des 1-jährigen Peter gesteckt, die ihr bis unter die Arme gingen und nach unten hin fast bis an die Kniekehlen reichten. Wegen ihrer dünnen Beinchen floss an den Seiten leicht alles heraus, besonders wenn sie einmal aus ihrem Bettchen herausgehoben wurde. Die viel zu großen Windeln störten sie und schränkten ihre Bewegungsfreiheit ein, so dass das Strampeln zur Anstrengung wurde. Stundenlang lag sie in ihren eigenen Exkrementen. Die feuchte Kühle spürte sie unangenehm auf ihrer Haut. Manchmal brannte die wunde Haut wie Feuer. Bei unerträglichem Juckreiz konnte sie sich nicht einmal durch Kratzen vorübergehend Linderung verschaffen. Denn in ihren Bewegungen war sie noch zu ungeschickt. Und später, als sie zunehmend schwächer wurde und beinahe schon wieder das Geburtsgewicht wog, während andere Säuglinge ihr Gewicht verdoppelt hatten, reichten ihre Kräfte nicht mehr aus, um selbst den Schmerz etwas zu lindern.

Grundbedürfnis: Schutz vor Reizüberflutung

Was hätte Lydia dringend benötigt?

Damit das Baby vor einer Reizüberflutung und damit vor einem frühen psychischen Trauma (Biotrauma) geschützt gewesen wäre, hätte alles zur Befriedigung von Lydias Grundbedürfnissen getan werden müssen. Denn die Reizüberflutung eines Säuglings ruft diffuse Angstzustände, Angst vor Vernichtung und Todesschrecken in ihm hervor. Die traumatische Situation ist im Kern eine Erfahrung von Hilflosigkeit auf Seiten des Ichs gegenüber Erregungszuwachs aus äußeren oder inneren Gründen. Das Verlassensein von der haltenden Mutter und das Vorenthalten der Befriedigung lebensnotwendiger Grundbedürfnisse rufen im Säugling Todesangst hervor. Das unreife Ich des Säuglings kann die bedrohlichen Affektstürme nicht integrieren, so dass der Organismus gezwungen ist, Notfallmaßnahmen auszulösen, um den Säugling vor Vernichtung zu retten. Die primäre Depression ist ein Kompromiss zwischen Schock (Sterben) und Abwehr. Lydia hätte bei der Abfuhr von unerträglich werdenden Spannungszuständen rechtzeitig den Halt und die einfühlsame Unterstützung durch eine tragfähige mütterliche Betreuungsperson gebraucht. Denn fühlt man sich geliebt, so steht das für Lebendigkeit, fühlt man sich verlassen, droht Vernichtung.

Was hat sie real erfahren?

Lydia erwuchs durch das extrem ambivalente und feindselige Verhalten der Mutter Todesangst. Der schädigenden Reizüberflutung war sie schutzlos ausgeliefert. Die notwendige Reizregulierung und das Gefühl des Gehaltenseins blieben ihr verwehrt. Als Lydia 9 Wochen vor ihrem Tod von der Mutter ins Krankenhaus gebracht wurde, befand sie sich in einem Ausnahmezustand zwischen Schreien und Apathisch-Sein. Psychisch war sie nicht mehr erreichbar.

Grundbedürfnis: Gesundheitsfürsorge

Worauf wäre Lydia dringend angewiesen gewesen?

Lydia war nicht in der Lage, die diffusen Angstzustände vor Vernichtung und Todesgrauen in ihrer Unerträglichkeit länger aushalten. Die tödliche Bedrohung des Babys konnte nur vorübergehend durch affektmotorische Stürme mit Strampeln und Schreien abgewehrt werden, bis es in eine Art Ruhezustand fiel oder im Schock ins Nichts abglitt. Es wäre auf jeden Tag, jede Stunde, jede Minute angekommen, in der Lydia ärztliche Hilfe noch hätte zuteil werden können.

Was erfuhr Lydia?

Lydia fühlte sich verlassen, ausgeliefert und ohnmächtig. Die Welt muss für sie untergegangen sein. Langsam erlosch ihr Lebenslicht. Niemand war da, der die lebensbedrohliche Situation für sie noch einmal zum Guten wendete. Ihr Verhungern hatte bereits begonnen, was an ihrem greisenhaften und faltigen Gesicht und den eingefallenen Augäpfeln hätte erkannt werden können. Im Zustand der schockartigen Lähmung fielen die letzten vitalen Funktionen von ihr ab. Die brennenden Wunden auf der Haut spürte sie kaum noch, der quälende Hunger wurde nicht mehr erlebt. Ärztliche Hilfe blieb aus, denn in Lydias letzten Lebenstagen hatte die sozialpädagogische Familienhelferin zum vereinbarten Arztbesuch vergeblich mehrmals vor der Wohnungstür gestanden. Die Mutter hatte nicht geöffnet. Der herbeigerufene Notarzt konnte nur noch Lydias Tod feststellen.

Abschließende Bemerkung:
Für Lydia kam alle Erkenntnis und jegliche Hilfe zu spät. Die Anerkenntnis der Schuld an dem ihr zugefügten Leid, der Schuld an diesem so sinnlosen Tod, erreicht Lydia nicht mehr. Das ist bitter und legt sich auf all jene als schwere Last, denen das Wohl des Kindes ein primäres Anliegen ist. Doch wenn wir damit beginnen würden, die schmerzhaften Emotionen zuzulassen, welche in uns hervorgerufen werden bei der Einfühlung in den abhängigen Säugling, wenn wir die hierbei entstehende Angst nicht mehr abwehren müssten (beispielsweise durch Identifikation mit der Kindesmutter oder einem Behördenmitarbeiter), sondern in Zukunft mehr Sorge dafür trügen, dass alles daran gesetzt wird, Kindern künftig ein solches Leid und ein solches Schicksal zu ersparen, so wäre zumindest im Nachhinein gesehen das, was Lydia erlitten hat, nicht ganz vergeblich gewesen.

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