FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Artikel / Jahrgang 2005

 

Auszüge aus Hassensteins »Verhaltensbiologie des Kindes«
 

Vorbemerkung: Was der immer noch sehr aktive Verhaltensforscher Prof. Dr. Bernhard Hassenstein in seiner bereits 1973 erschienenen und 2001 in fünfter Auflage gedruckten »Verhaltensbiologie des Kindes« zum Pflegekinderwesen schrieb, ist in den gegenwärtigen Diskussionen so aktuell, daß wir mit seiner freundlichen Genehmigung folgende Passagen nochmals veröffentlichen.
K. E.  (April, 2005)

 

Aus dem Kapitel VIII B 3 der Abschnitt »Pflegekinder«:

Die Jugendämter dürfen Kinder, die wegen der Gefahr der Verwahrlosung oder aus anderen Gründen nicht bei ihren Eltern aufwachsen können, in Familienpflege geben. Die Pflegeeltern übernehmen dabei oft eine besonders schwierige, verantwortungsvolle Aufgabe; denn vielfach hatten die Kinder in ihrer Bindungsfähigkeit oder durch die bisherige Erziehung Mangel gelitten. Die Pflegeeltern müssen dann geduldig und liebevoll versuchen, den Kindern Vertrauen einzuflößen, ein inneres Band zwischen ihnen und sich zu knüpfen und eventuelle Verhaltensstörungen zu lindern oder durch Fachkräfte beheben zu lassen.

Unter Umständen gilt für Pflegeeltern der Auftrag, die in Pflege genommenen Kinder gegebenenfalls in die Herkunftsfamilie zurückzuführen. Dies wirft oft schwierige, zwiespältige Fragen auf: Erhielt die Herkunftsfamilie, die zuvor in der Erziehung versagt hatte, inzwischen eine therapeutische Betreuung oder Hilfe, die sie instand setzt, das ihr zurückgegebene Kind jetzt besser zu betreuen und nicht erneut zu gefährden oder zu schädigen? Hat sich das Kind inzwischen an seine Pflegeeltern gebunden und möchte lieber bei ihnen bleiben? Wäre eine nicht nur mit Bezugspersonenwechsel, sondern auch mit Orts- und Schulwechsel verbundene Rückführung zu verantworten, oder verstößt sie gegen das Kindeswohl? Wie weit ist der Wille des Kindes maßgebend?

Sollen Pflegeeltern innere Bindungen zu ihren Pflegekindern knüpfen oder absichtlich vermeiden?
Pflegekinder können in sehr verschiedenen Lebenslagen sein. Werden sie beispielsweise in Pflege genommen, weil ihre Mutter nach einem schweren Unfall einen zwar langen, aber vorübergehenden Krankenhausaufenthalt vor sich hat, so haben die Pflegeeltern diese Bindung zu stützen und zu pflegen, und sie sollten dem Kind immer wieder vor Augen führen, daß sie selbst in ihrer Fürsorge und Betreuung nur die Stellvertreter der leiblichen Eltern für das Kind sein wollen und sein dürfen. Dies entspricht dem einen der Konzepte der Familienpflege: Betreuung auf Zeit.

Wenn aber ein Pflegekind leibliche Eltern hat, von denen es selten oder niemals besucht oder abgeholt wird und zu denen keine Bindung besteht, und wenn diesem Pflegekind darum kein Mensch auf dieser Welt näher steht als die Pflegeeltern, dann würde man einem solchen Kind durch absichtliches Vermeiden einer liebevollen Eltern-Kind-Bindung einen inneren Halt verweigern, der für die Entwicklung einer in sich ruhenden Persönlichkeit unentbehrlich ist. Kinder, die noch nicht durch schwere Schicksale innerlich abgestumpft wurden, sind feinfühlig und spüren, auch wenn man es ihnen zu verbergen trachtet, woran sie bei ihren Betreuern sind. Erst die volle intensive Übernahme der Elternschaft durch die Pflegeeltern gibt dem Kind dann die so lebens- und entwicklungsnotwendige Empfindung, ein geliebtes, geschätztes und geachtetes Familienmitglied zu sein und ganz zur Familie zu gehören. Nichts ist für die Selbstfindung eines Kindes schlimmer, als nur auf Abruf angenommen zu sein und in dem Gefühl zu leben, die Erwachsenen würden sich unter Umständen von ihm trennen und nicht für ein Beieinanderbleiben und damit für das Erhaltenbleiben der gewachsenen Bindungen kämpfen.

Hier widerspräche es also dem Kindeswohl, die Familienpflege nur als eine Institution auf Zeit aufzufassen; man spricht dementsprechend von Dauerpflegestellen. Manche Dauerpflegeeltern würden ihr Pflegekind gern adoptieren; doch können sie auf das gewährte staatliche Pflegegeld nicht verzichten, oder die leiblichen Eltern verweigern die Einwilligung.

Besondere Erziehungsaufgaben
Gegenüber Pflegeeltern, die ein zuvor vernachlässigtes oder mißhandeltes Familienkind oder ein älteres Heimkind aufzunehmen bereit sind, haben die Jugendämter eine besondere Aufgabe: die vorherige Information über die möglichen Schwierigkeiten des Kindes sowie Beratungen, durch welche Art der Betreuung und Erziehung die Pflegeeltern dem Kinde beim Überwinden seiner Antriebsspannungen helfen können. Beispielsweise sollten die Pflegeeltern im voraus darüber orientiert werden, daß Bettnässen und Stereotypien der Kinder keine Unarten, sondern Erkrankungen der Verhaltenssteuerung sind. In immer neuen Formulierungen und an Beispielen sollten den Pflegeeltern frühbelasteter Kinder die folgenden Aussagen von Annemarie DÜHRSSEN nahegebracht werden: "Wird ein Kind in früher Entwicklungsepoche übertrieben geängstigt, beunruhigt oder allein gelassen, so schieben sich notgedrungen noch lange Zeit immer wieder die alten beunruhigenden Affektwallungen in den Vordergrund, selbst dann, wenn die Gegenwart inzwischen heiter, wohlwollend und freundlich geworden ist. Das Lebensgefühl eines in den frühen Entwicklungsphasen nachhaltig geängstigten Kindes bleibt lange und hartnäckig getönt von allgemeiner Ängstlichkeit und Unruhe. "Den Pflegeeltern sollte außer der Beratung für eigene Erziehungsarbeit therapeutische Hilfe für das Kind angeboten werden, aber auch Mitgefühl, Trost, Lob und Anerkennung.

In den Beratungsgesprächen sollte immer wieder besonders eindringlich davor gewarnt werden, Pflegekindern mit einer Rückgabe ins Heim zu drohen. Das dürfen die Pflegeeltern selbst dann nicht tun, wenn dieser Gedanke aufgrund des Verhaltens des Kindes ernstlich aufkommt. Die Erziehbarkeit eines Kindes hängt in hohem Maße von seiner Verwurzelung und sicheren Geborgenheit ab, die ihm seine neue Familie gibt. Die Androhung der Rückgabe ins Heim kann ein Kind in seiner Vertrauensentwicklung weit zurückwerfen, und sein daraufhin schwieriger werdendes Verhalten belastet seinerseits die Pflegeeltern. So kann ein Teufelskreis entstehen mit der Gefahr des Abbruchs des Pflegeverhältnisses und der Verpflanzung des Kindes in eine andere Pflegestelle oder in ein Heim. Hier sind Hilfen durch die Jugendämter und durch Vereinigungen von Pflegeeltern dringend geboten, um Pflegeeltern und Pflegekindern rechtzeitig zu raten und beizustehen, bevor es zu einem weiteren, überaus belastenden Betreuungsabbruch kommt.

Bewußtes Unterbinden kindlicher Bindungen
Leider müssen die Jugendämter immer wieder mit folgendem rechnen: Manche Mütter, die ihr Kind nicht selbst versorgen, aber das Recht zur Bestimmung des Aufenthaltes des Kindes besitzen, verhindern systematisch eine engere Bindung an eine Pflegemutter. Aus Furcht, daß eine solche Bindung eine Konkurrenz zur Beziehung des Kindes zu ihnen selbst werden könnte, nehmen sie kurzerhand das Kind immer dann aus einer Pflegestelle heraus, wenn sie merken, daß es dort Wurzeln zu schlagen beginnt. Was dieser wiederholte Heimatverlust für ein Kind bedeutet, kann man sich kaum ausmalen: Ein Kind von Pflegestelle zu Pflegestelle zu geben, damit es sich nirgends fest bindet, ist seelische Mißhandlung. In rechtlicher Hinsicht ist es ein Mißbrauch des Aufenthaltsbestimmungsrechtes und Sorgerechtes der leiblichen Mutter zum Schaden des Kindes.

Gesetzlicher Schutz für Dauerpflegeverhältnisse
Manchen Kindern in Pflegefamilien und damit deren Pflegeeltern droht eine weitere Gefahr: daß Eltern ihre leiblichen Kinder, die in einer Pflegefamilie fest verwurzelt sind, dort herauslösen und zu sich nehmen wollen. Früher konnten sich weder die Pflegeeltern im Namen des Kindes noch das Kind selbst zum Schutze der gewachsenen Bindung gegen die Herausnahme wehren. In der ersten Auflage dieses Buches (1973) wurde die Forderung des Schutzes des Pflegekindes in der gewachsenen Bindung erhoben. Dieser Schutz ist inzwischen (seit 1980) im Bürgerlichen Gesetzbuch verankert, seit 1998 in folgender Formulierung:

"§ 1632 (4). Lebt das Kind seit längerer Zeit in Familienpflege und wollen die Eltern das Kind von der Pflegeperson wegnehmen, so kann das Familiengericht von Amts wegen oder auf Antrag der Pflegeperson anordnen, daß das Kind bei der Pflegeperson verbleibt, wenn und solange das Kindeswohl durch die Wegnahme gefährdet würde."

Ein Briefausschnitt
Wie an einigen anderen Brennpunkten dieses Buches soll auch hier ein Dokument unmittelbaren Erlebens Platz finden. Bewegt durch den Zeitungsbericht über den Antrag von leiblichen Eltern an die Pflegeeltern auf Herausgabe deren Pflegekindes schrieb eine Frau im Juli 1974 in einem handschriftlichen Brief an den ihr persönlich unbekannten zuständigen Richter u. a. folgendes:
"Auch ich war ein Pflegekind, und meine Mutter holte mich zurück, obwohl ich viel lieber bei meinen Pflegeeltern geblieben wäre. Doch ich wurde nicht gefragt. .... Heute noch nach vielen Jahren meine ich, es wäre besser gewesen, mich bei meinen Pflegeeltern zu lassen. Einen herzlichen Kontakt, wie er zwischen Mutter und Kind sein müßte, bekam ich zu meiner Mutter nie!  Seitdem sind fast vierzig Jahre ins Land gezogen, und es schmerzt mich heute noch. Mein ganzes Leben habe ich darunter gelitten. Da unsere Ehe kinderlos blieb, entschieden mein Mann und ich uns für ein Adoptivkind. Wir haben seit zehn Jahren sogar zwei.  Unsinn, wie manche behaupten, das Blut spiele eine Rolle. Ich liebe meine Adoptivkinder so, als hätte ich sie jeden Tag ihres Hierseins (10 Jahre) unter dem Herzen getragen und nicht nur neun Monate. Unsere Kinder sind über alles informiert, und sie möchten nie zu ihren Eltern. Lassen Sie dieses Kind bei den Pflegeeltern! Es würde sein Leben lang unter einem falschen Urteil leiden. Hier muß das Herz, nicht das Blut sprechen."

Aus demselben Kapitel der Abschnitt C 9 »Umgangsrecht mit Pflegekindern«:

Bisweilen verlangen leibliche Eltern, ihr leibliches Kind solle sie besuchen, auch wenn sie es schon vor langen Jahren in Pflege gegeben haben und es nun in der Pflegefamilie fest verwurzelt ist, so daß seine Pflegeeltern zu seinen faktischen Eltern wurden. Hierbei handelt es sich für das jeweils betroffene Kind um etwas grundsätzlich anderes als der Umgang mit einem nach der Scheidung aus der Familie ausgeschiedenen Elternteil. Das hat zwei Gründe:
- Die Zusammenkünfte sollen in der Regel nicht wie dort der Aufrechterhaltung einer bestehenden Bindung dienen, sondern der Stärkung einer schwachen oder der Begründung einer zuvor noch nicht aufgenommenen Beziehung (zu den leiblichen Eltern).
- Das Kind führt die Besuche nicht von einem Zuhause aus durch, das als Basis für seine weitere Existenz zweifelsfrei gesichert ist; sondern die Zusammenkünfte sollen in der Regel die Möglichkeit eines späteren Übergangs des Kindes in die Obhut der leiblichen Eltern überprüfen, meist mit der (dem Kind gegenüber nicht ausgesprochenen) Absicht, damit die Rückführung, also den Abschied von seinem Zuhause bei den Pflegeeltern anzubahnen.

Zu versuchen, ein Kind über den beabsichtigten Verlust seiner faktischen Eltern zu täuschen, ist aber so gut wie immer aussichtslos: Kinder sind vor dem Abschluß der Pubertät zwar im logischen Denken noch nicht so geschult wie Erwachsene; aber im Erspüren gefühlsmäßiger Zusammenhänge und im Beobachten auch unscheinbarer Anzeichen für bevorstehende Änderungen sind sie vielen Erwachsenen überlegen. Aus diesem Grunde sind die pflichtmäßigen Zusammenkünfte mit den leiblichen Eltern für Kinder, denen ihre Pflegeeltern schon zu den faktischen Eltern geworden sind, fast zwangsläufig mit existentieller Trennungsangst verknüpft. Solche Ängste entstehen ohne jede Beeinflussung des

Kindes, ja sogar entgegen verpflanzungsfreundlicher Beeinflussung seitens der Pflegeeltern. Trotz aller Bemühungen pflegen die Ängste eines Kindes von Besuch zu Besuch zu wachsen, statt abzuflauen.

In verhaltensbiologischer Sicht ist diese Trennungsangst in der Natur des Kindes verankert: Ein Kind wäre seelisch nicht gesund, wenn es auf den sich anbahnenden Verlust seiner faktischen Eltern und damit seines Hortes der Geborgenheit nicht mit existentieller Angst reagieren würde. Was dies für ein Kind bedeutet, ist für Erwachsene, die als Kinder in stets gesicherten Verhältnissen aufwuchsen, beinahe uneinfühlbar - es sei denn, sie hätten die Leiden solcher Kinder unmittelbar miterlebt und mitempfunden. Nach einem derartigen Besuch - und allgemein unter dem Einfluß von Trennungsangst - können Kinder an Schlaflosigkeit, Eßunlust und Erbrechen leiden; sie können zu Bettnässern werden, allgemein gesundheitlich abfallen, zu Unfällen und Infektionen neigen. Sie können wie geistesabwesend oder aggressiv sein und in der Schule versagen. Ein 9jähriges Mädchen schrieb in zwei Diktaten, zwischen denen nur 10 Tage lagen, einen halben Fehler und 25 Fehler; dazwischen hatte es erfahren, daß sein Verbleib bei den Pflegeeltern (in diesem Fall der Großmutter) gefährdet war. Es konnte sich daraufhin nicht mehr auf die Schularbeit konzentrieren (die Gefahr war echt; das Kind wurde wenige Tage später von seinem leiblichen Vater entführt und über die Landesgrenze gebracht, von wo es dann nicht mehr zurückgeführt werden konnte). - Vergleichbare psychosomatische und psychische Erscheinungen kennt man von Erwachsenen nur als Folge schwerer Lebenskatastrophen wie dem Verlust des Ehepartners, eines Kindes oder der Heimat.

Wenn sich erzwungene Besuche bei den leiblichen Eltern dermaßen folgenschwer auf die gesundheitliche und seelische Befindlichkeit eines Pflegekindes auswirken, erscheint es als selbstverständliches Gebot der Menschlichkeit und der Wahrung des Kindeswohls, solche Besuche ab sofort ruhen zu lassen. Leider aber hat man jahrzehntelang zwar die beschriebenen Leiden der Kinder wahrgenommen, doch ist es tief tragisch, daß man als deren Ursache nicht die Trennungsängste erkannte. Statt dessen hat man, falls kindliche Verhaltensstörungen der beschriebenen Art auftraten, die Pflegeeltern dafür verantwortlich gemacht und ihnen unter anderem zur Last gelegt:
- Mißlingen des erzieherischen Auftrags an die Pflegeeltern, bei den Pflegekindern nicht als Eltern, sondern nur als Eltern-Stellvertreter auf Zeit zu wirken;
- Versagen bei der erzieherischen Aufgabe, die künftige Rückführung des Kindes zu den leiblichen Eltern vorzubereiten;
- Abneigung der Pflegeeltern gegen die leiblichen Eltern und Beeinflussung des Pflegekindes in diesem Sinne;
- "eigennütziges" Bemühen der Pflegeeltern, das Kind an sich zu binden, um es auf die Dauer bei sich behalten zu können;
- eigene Trennungsängste der Pflegeeltern aus Furcht vor dem Verlust des Kindes und Übertragung der eigenen Trennungsängste auf das Kind.

Den Hintergrund für alle diese Vorwürfe bildete die auch heute noch vorkommende Unkenntnis darüber, daß kindliche Bindungen durch prägungsähnliche Lernvorgänge bei langdauerndem Zusammenleben entstehen und eine echte, existentielle Verwurzelung darstellen, sowie die falsche Vorstellung, daß kindliche Bindungen beim Bestehen von Blutsverwandtschaft selbstverständlich seien. Darum meinte man: Wenn Kinder sich nicht elementar zu ihren leiblichen Eltern hingezogen fühlen und keine Liebesbande entwickeln, so müsse dies in ihrer gegenwärtigen Lebenssituation begründet sein, also auf Erziehungseinflüssen durch die Pflegeeltern beruhen.

Die Wirklichkeit sieht aber anders aus: Wenn Pflegeeltern ihre Aufgabe erfüllen, den Kindern Fürsorge und Geborgenheit zu gewähren, dann fliegt ihnen im Laufe der Zeit das Herz der Kinder zu, ob sie es wollen oder nicht; und die nicht oder selten anwesenden leiblichen Eltern sind und bleiben für die Kinder dasselbe wie alle sonstigen Menschen: nähere oder fernere Bekannte oder Fremde. Die Pflegekinder verspüren unter diesen Umständen ebensowenig den Drang, zu den leiblichen Eltern umzusiedeln, wie zu irgendwelchen anderen Bekannten oder Fremden, ja sie haben davor, wenn man es ihnen auferlegen will, die tiefste Angst; ein anderes Verhalten oder Empfinden widerspräche der menschlichen Natur. Die Kinder hängen vielmehr mit allen Fasern ihres Wesens an ihren faktischen Eltern und wollen dort bleiben.

Die Unkenntnis über diese Zusammenhänge und die falsche Zuschreibung der Verhaltensstörungen von Pflegekindern anläßlich des ihnen auferlegten Umgangs mit den leiblichen Eltern (Pflegeeltern-Versäumnisse statt Trennungsangst) hat im Laufe der vergangenen Jahrzehnte unermeßliches Leid und Unglück der Kinder und auch der beteiligten Erwachsenen zur Folge gehabt. Es ist zu hoffen, daß die Einsicht in das Wesen der kindlichen Bindung und in die Erscheinungsformen der bis zur seelischen und körperlichen Erkrankung reichenden Folgen kindlicher Verlustängste bald allgemein in die Rechtsprechung über Umgangsrechte mit Kindern, die sich in Pflege befinden, Eingang findet. Den Ansprüchen von Erwachsenen den Vorrang vor entgegengerichteten Beweggründen und Verlustängsten von Kindern zuzusprechen, steht im krassen Gegensatz zum Kindeswohl und wird hoffentlich bald der Vergangenheit angehören.

Ebenfalls aus  Kapitel VIII der Abschnitt C 10 »Angestrebte Gesetzesänderungen«:

Der Begriff des Kindeswohls ist im Rahmen der Rechtsprechung ein 'unbestimmter Rechtsbegriff'; das heißt, er wird in jedem Anwendungsfall vom Gericht durch eigene Sachkenntnis oder durch Gutachter mit Inhalt gefüllt. In solchen Zusammenhängen kann sich ohne neue Gesetze die Rechtsprechung ändern, wenn sich durch neue Erkenntnisse der sachliche Inhalt 'unbestimmter Rechtsbegriffe' gewandelt hat. Beim Begriff des Kindeswohls ergibt sich so etwas beispielsweise durch die inzwischen gewonnene Erkenntnis, daß das Abbrechen einer faktischen EItern-Kind-Beziehung das Kindeswohl nachhaltig gefährdet. Ein wichtiger Schritt zum besseren gesetzlichen Schutz des Kindeswohls war hiernach die Ein- führung des neuen § 1632 (4) ins Bürgerliche Gesetzbuch.

Auch nach diesem außerordentlichen, beim ersten Erscheinen dieses Buches 1973 noch kaum erhofften Fortschritt bestehen noch Möglichkeiten und das dringende Bedürfnis zur weiteren Verbesserung des Schutzes des Kindeswohls. Sechs diesbezügliche Forderungen an die künftige Gesetzgebung sollen im folgenden genannt, wenn auch nicht näher begründet werden:
- Änderungen der Unterbringung eines Kindes sowie Änderungen früherer gerichtlicher Entscheidungen sollten künftig nur um des Kindeswohls willen, nicht wegen sonstiger Änderungen, z. B. Personenstandsänderungen bestimmter Erwachsener, möglich sein, d. h. nur wenn die Weiterführung der bisherigen Unterbringung das Kind gesundheitlich oder seelisch-geistig gefährden würde; wenn auch das Kind den Wechsel bejaht; und (bei jüngeren Kindern, die noch nicht mitentscheiden dürfen) wenn die zu erwartenden Vorteile eines Unterbringungswechsels gegen die zu befürchtenden Nachteile und Spätfolgen eines Bindungsabbruchs sorgfältig abgewogen wurden.
- In rechtlichen Auseinandersetzungen um die Unterbringung von Kindern soll die Herausnahme aus einer familiären Betreuung, in der sich ein Kind seit längerer Zeit befindet, nur aufgrund von nicht mehr anfechtbaren, rechtskräftigen Urteilen möglich sein. Diese Vorschrift soll der Gefahr vorbeugen, daß einem Kind im Verlauf eines über mehrere Instanzen geführten Rechtsstreites wegen abweichender Urteile mehrere Betreuungsabbrüche nacheinander auferlegt werden.
- Drastisch verkürzte Rechtsmittelfristen sind bei allen Adoptivsachen und Beschlüssen über den Wechsel von Bezugspersonen zu fordern, um schnell die Endgültigkeit aller Entscheidungen zu erreichen.
- Weil neben der sorgfältigen Abklärung des Sachstandes die schnelle Erledigung bei den meisten Vormundschaftsverfahren von unvergleichlich viel höherer, oft schicksalsentscheidender Bedeutung für das Kindeswohl ist als die Zeitabläufe in sonstigen zivilrechtlichen Verfahren, sollten den zuständigen Verantwortlichen hierfür die nötigen Stellen, Mitarbeiter, Handhaben und verwaltungstechnischen Vollmachten gegeben werden.
- Einzelpersonen, auch Mitarbeiter in Jugendämtern, sollten Vormundschaften für Kinder aus drei Familien übernehmen dürfen; diese Zahl sollte niemals überschritten werden, damit jeder Vormund auch wirklich die persönliche Verantwortung für das Schicksal der ihm anvertrauten Kinder tragen und hinreichenden Umgang mit seinen Mündeln pflegen kann.

aus “Verhaltensbiologie des Kindes”

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