FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Diskussion / Jahrgang 2004

 

Thesen zur Konkurrenz

»Ersatzfamilie« contra »Ergänzungsfamilie« im Pflegekinderwesen

Angelika Eichhorn,
Sozialarbeiterin im Pflegekinderdienst eines Berliner Jugendamts

 

Vorbemerkung: Auf unsere Frage in der Vorbemerkung zum Münsteraner Konflikt, "warum eigentlich hochintelligente, von gutem Willen beseelte Amtsleiter zum Schaden der durch Vernachlässigung, Mißhandlung und Mißbrauch traumatisierten Kinder und auf Kosten der ahnungslosen Steuerzahler sich derart kontraproduktiv verhalten", reagierte die praxiserfahrene Pflegedienst-Mitarbeiterin, Angelika Eichhorn, mit folgenden Thesen. Was meinen Sie dazu?
K.E.

 

1. Jeder Mensch hat ein eigenes inneres Bild von einer (glücklichen) Familie.

Auch Jugendamtsmitarbeiter und Familienrichter tun sich deshalb schwer, ein Kind aus seiner Familie herauszulösen und einer anderen Familie zuzuordnen. Das Ergänzungs-Familien-Modell glaubt diesen Schnitt vermeiden zu können.

2.  Fremdunterbringungen erzeugen Schuldgefühle .

Es geht um das Versagen der Eltern, um Schaden, der dem Kind unwissentlich und unbeabsichtigt oder wissentlich und vorsätzlich zugefügt wurde und um einen staatlichen Eingriff in ein verfassungsrechtlich geschütztes Grundrecht der Eltern.

3. Die Zusammengehörigkeit von Mutter bzw. Eltern und Kind gehört zu den bedeutendsten Werten unserer Kultur.

4. Erwachsenen Menschen fällt es leichter, sich mit anderen Erwachsenen zu identifizieren als mit Kindern. Daher ist das Mitgefühl mit der Mutter bzw. den Eltern oftmals größer als mit dem Kind.

Einer Mutter ein Kind wegzunehmen, heißt, gegen einen hohen moralischen Wert zu verstoßen. Das löst Schuldgefühle bei den Mitarbeitern der Jugendämter aus, erst recht, wenn erkannt wird, dass die Mutter bzw. die Eltern nicht schuldhaft gehandelt haben.

In allen Jugendämtern hat der familientherapeutisch orientierte systemische Denk- und Handlungsansatz Einzug gehalten. Erziehungshilfe soll auf das Familiensystem wirken und dort Änderungen bewirken. Langwierige Reparaturversuche am Familiensystem werden nicht selten wichtiger genommen als der Schutz des Kindes.

5. Die Verfechter des systemischen Denk- und Handlungsansatzes bevorzugen in den meisten Fällen das Ergänzungsfamilien-Modell.

Das Familien-System (Mutter, Vater, Kind u.a. Angehörige) und die primären Bindungen des Kindes an seine Herkunftsfamilie bleiben erhalten. Die Pflegeeltern sollen lediglich vorübergehende Erziehungsfunktion erhalten, aber keine eigenen Ansprüche an das Kind entwickeln. Herkunftseltern und Pflegeeltern werden als ein vorübergehendes Zwei-Eltern-System definiert. Dieses Modell macht in vielen Fällen Sinn, beispielsweise, wenn eine allein erziehende Mutter ins Krankenhaus muss und anschließend ihr Kind wieder zu sich nehmen kann, oder wenn eine Familie in eine vorübergehende Krise geraten ist, zwischen Eltern und Kindern aber gesunde Bindungen vorhanden und die Eltern grundsätzlich erziehungsfähig sind.

6. Der Kostendruck, der auf den Jugendämtern lastet, verführt dazu, das Ergänzungsfamilien-Modell zu bevorzugen.

Das Ergänzungsfamilien-Modell unterstellt, daß das Kind primär an seine Eltern gebunden bleibt, jederzeit zu seiner Familie zurückkehren kann und sich somit langjährige Jugendhilfekosten vermeiden lassen. Dieses Modell ignoriert aber, daß traumatisierte Kinder für ihre Heilung der dauerhaften und liebevollen Bindungsangebote in der Pflegefamilie bedürfen.

7. . Für traumatisierte Kinder kommt deshalb i.d.R. nur das Ersatzfamilien-Modell in Betracht.

Warum findet das Ersatzfamilien-Modell so wenig Anerkennung in der Jugendhilfe?

  • Wie oben angeführt, sind es die Schuldthemen und die Fantasien, dass durch gut geplante Jugendhilfe (fast) alles wieder gut wird und das Kind zu seiner Herkunftsfamilie zurückkehren kann .
  • Die wissenschaftlichen Erkenntnisse der Bindungstheorie und der Traumaforschung gehören noch nicht zum selbstverständlichen Wissen aller in den Jugendämtern tätigen SozialarbeiterInnen.
  • Auch die Kompetenzen, um die Erziehungsfähigkeit der Eltern und den Charakter der Bindung zwischen Eltern und Kind zu beurteilen, sind oft nur unzureichend ausgebildet.
  • Es mangelt in den Jugendämtern an Zeit und Personal. Obwohl die JugendamtsmitarbeiterInnen Entscheidungen von weitreichender Konsequenz treffen müssen, erhalten sie im allgemeinen keine Supervision. So können sich Ideologien entwickeln, die als solche nicht erkannt werden und folglich auch nicht infrage gestellt werden.
  • Pflegefamilien haben anders als die großen Heimträger keine Lobby.
  • In der Heimlandschaft gibt es viele Veränderungen hin zu familienähnlichen Modellen, die aber von wirklicher Familienäquivalenz weit entfernt sind. Gleichwohl sind sie für viele Jugendämter attraktiv, weil Heimkinder eher zu ihren Herkunftsfamilien zurückkehren oder verlegt werden können als Pflegekinder. Darüber hinaus sind die Bindungen des Pflegekindes an seine Pflegefamilie durch § 1632 Abs, 4 BGB geschützt.

1990 fand in Hamburg ein Pflegekinderkongress unter dem Titel „Mut zur Vielfalt“ statt.
Wo sind der Mut und die Vielfalt geblieben?

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Leserbrief einer Pflegemutter zu den Thesen Frau Eichhorns:
In welchem Jugendamt arbeitet Frau Eichhorn? Wenn ich mich zukünftig entschließen sollte, wieder ein Pflegekind zu mir zu nehmen, dann würde ich gern mit dieser Frau zusammenarbeiten. Es ist schön zu sehen, dass eine Sozialarbeiterin eines Jugendamtes auch andere als die vorgegebenen Gedanken zulässt und sich inhaltlich und kritisch mit ihrer Arbeit und ihrem Auftrag an den Kindern auseinandersetzt.
Unser Kopf ist rund, damit die Gedanken ab und an die Richtung wechseln können.
In einem Punkt muss ich sie jedoch inzwischen korrigieren. "Pflegefamilien haben anders als die großen Heimträger keine Lobby." Das stimmt so nicht mehr. In Berlin gründet sich gerade ein Pflegeelternverein, der mit jedem Tag stärker wird und in Öffentlichkeit und Politik schon viel für die Pflegefamilien bewirkt hat. Es ist der AktivVerbund Berlin - Pflegeeltern für Pflegekinder.
www.aktivverbund-berlin.de
Mit besten Grüßen
Andrea Trautmann

 

 

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