FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Diskussion / Jahrgang 2004

 

Aus einem Text von Martin Bonhoeffer
und Peter Widemann

 

Vor genau 30 Jahren haben die beiden eng befreundeten Jugendhilfereformer Peter Widemann und Martin Bonhoeffer den einflußreichen Sammelband »Kinder in Ersatzfamilien« herausgegeben. Am  26. des vergangenen Monats ist Peter Widemann gestorben (s. Nachruf). Martin Bonhoeffer verstarb schon lange vor ihm. Ihr kritisches Potential war geachtet und gefürchtet. Sie waren aber nicht nur Kritiker, sondern vor allen Dingen tatkräftige Reformer. Ihre bedeutendste Errungenschaft ist die Heilpädagogische Pflegefamilie, die gerade jetzt von ihren Nachfolgern liquidiert werden soll (s. Diskussionsbeiträge).

Aus der Einführung zu dem o.a. Text soll hier ein längeres Zitat in Erinnerung gebracht und durch eingeschobene Anmerkungen (kursiv) mit der Gegenwart verknüpft werden.

„Die Jugendhilfeträger bringen mehr Kinder und Jugendliche in Heimen als in fremden Familien unter. Die Ersatzfamilie wird vernachlässigt , sie wird nicht für voll genommen. Hierfür gibt es folgende Indizien:

  • Die für Ersatzfamilien aufgewandten öffentlichen Mittel liegen pro Kind wegen der Ersparnis fast sämtlicher Personalkosten um ein Vielfaches niedriger als die Heimpflegesätze. Sie stagnieren im Verhältnis zu der durch Löhne und Gehälter verursachten Kostenexplosion in den Heimen.
  • Die herkömmliche "Pflege"-familie entbehrt fast überall jeder fachlichen Kontrolle. ....
  • Während über Heimerziehung zu jeder geschichtlichen Epoche öffentlich nachgedacht und auch geschrieben wurde, während Repräsentanten der Heimerziehung zu den großen Erziehern der Völker zählen, während die empirische Forschung sich mit dem Phänomen Heim zu beschäftigen beginnt, gibt es bisher fast nur verstreute Aufsatzliteratur zur Ersatzfamilie, oft seicht, und insgesamt so wenig, daß die neuere annähernd vollständig in diesem Bande bibliographiert werden konnte. Im deutschsprachigen Raum liegen aus der Zeit nach 1945 nur zwei ernstzunehmende Untersuchungen vor: Dührssen und Blandow. Die Ersatzfamilie gerät- so scheint es - erst dieser Tage in den Blick der Wissenschaft. Die private Sphäre einer Familie eignet sich auch schlechter als Institutionen zum Objekt der Forschung.“

Noch immer wird die Ersatzfamilie benachteiligt, sie soll sogar möglichst weitgehend durch die Ergänzungsfamilie ersetzt werden. Noch immer werden Pflegeeltern wesentlich schlechter bezahlt als Heimerzieher. Die Kontrolle freilich hat zugenommen, allerdings mehr die bürokratische als die fachliche. Kontinuierliche Beratung und Supervision sind noch längst nicht die Regel. Empirische Forschung gibt es (s. Herten,TPP), aber immer noch viel zu wenig.

„Die mangelhafte Aufmerksamkeit der Sozialwissenschaft für einen ihr angehörigen Spezialbereich, der Mangel also an seiner theoretischen Durchdringung kann als Indiz für die Vernachlässigung genommen werden; zugleich ist er auch ursächlich für sie. Die schattenhafte Existenz der Ersatzfamilie ist strukturell bedingt. Wir sehen dafür folgende Ursachen:
Die Kinder, als Objekt einer gesellschaftlichen Aufgabe, verschwinden im Versteck. der Privatheit, im tabubelegten Intimbereich einer Familie. Die Gloriole der intakten, funktionstüchtigen Keimzelle alles Guten in unserer sozialen Ordnung wirft ihren Glanz auch auf die Pflegefamilie, deren Tauglichkeit durch einen Hausbesuch schon nachgewiesen ist. Sie bietet Schutz vor öffentlichem Einblick und Kontrolle. Umgekehrt wird auch Kritik von innen kaum zur Geltung kommen. Den Pflegepersonen, meist sind es Frauen - oder doch Versorgung und Probleme des Kindes ihre Angelegenheit -, den Pflegemüttern also, fehlt es an Übersicht, an sprachlicher Gewandtheit und an Übung, ihre Sache öffentlich zu machen. Sie identifizieren sich mit ihrer Aufgabe in einem Maße, das unfrei macht und beschränkt. Falls sie es aber wagen, für die Lage ihrer Pflegekinder aufzumucken, stehen sie apriori im Verdacht, aus Eigennutz für sich allein zu sprechen.“

Von der Glorifizierung der Familie ist zwar nicht viel übrig geblieben, und die Pflegeeltern von heute entsprechen selten dem Image der ’naiven Mutti’, aber nach wie vor identifizieren sie sich so mit ihrer Aufgabe, daß ihre Aufraggeber damit fest rechnen und ihren Idealismus exzessiv ausnutzen können, nichtsdestotrotz stehen sie wie ehedem  im Verdacht, aus Eigennutz zu handeln.

„Demgegenüber muß das Heim sich um Privatheit erst bemühen. Öffentlichkeit ist im Heim grundsätzlich hergestellt. Kontrolle einer Institution mit öffentlichem Auftrag wird eher als Pflicht denn als unzulässiger Eingriff verstanden. Auch wenn Kontrolle falsch, selbst wenn sie überhaupt nicht ausgeübt wird, ist sie prinzipiell möglich und mit ihr zu rechnen. Ein Minimum an Öffentlichkeit garantiert - im Vergleich zu der Ersatzfamilie - bereits das Miteinander der Kollegen und die Fluktuation des Personals. Dem neu eingestellten Mitarbeiter, auch Praktikanten und Studenten, wird jede Schwäche des Heims offenkundig. Im Heim finden sich mindestens einzelne Mitarbeiter, die fachlich und politisch zu argumentieren, fähig sind. Der Berufserzieher, der für ’seine’ Kinder Partei ergreift, wird nicht so rasch verdächtigt, für sich selbst zu sprechen. Die Isolation ist vom Heim aus leichter zu durchbrechen, das Heim ist privilegierter.“

Auch diese Diagnose ist noch gültig. Allerdings ist fraglich, ob die Furcht vor Kontrolle die Qualität der Arbeit oder nicht stattdessen die Künste der Verschleierung steigert. Wir haben andere Erfahrungen als W.I.Lenin: ’Kontrolle ist gut, Vertrauen ist besser!’

„Die entscheidende Ursache für den subalternen Rang der Ersatzfamilien liegt in ihrer geographischen Zersplitterung und in ihrer Nicht-Institutionalität. Von der individual-pädagogisch so erwünschten unauffälligen Integration des Pflegekindes in seine Umwelt ist die Kehrseite der subalterne Rang der Ersatzfamilie. Die Probleme der Pflegekinder sind isolierte Einzelfallprobleme, politisch bequem, nie bedrohlich. Geballte Unzufriedenheit im Heim ist ungemütlich. Die Mitarbeiter eines Heims bilden - von ihrer Zugehörigkeit zu Interessenverbänden abgesehen - als Arbeitnehmer je eines Jugendhilfeträgers eine Gruppe. Sie sind gemeinsam gleichen Schwierigkeiten ausgesetzt, die sie vereinen. Als Angestellte einer Einrichtung sind sie per se organisiert. Demgegenüber wäre ein Verbund von Ersatzfamilien erst zu schaffen, um ihre Interessen nachdrücklich zu vertreten und Lobby zu sein für ihre Pflegekinder.“ (S. 11/12)

Dieses Vermächtnis wurde soeben eingelöst: In Berlin hat sich ein »Aktiverbund Pflegeeltern für Pflegekinder« gegründet, der das Erbe Widemanns und Bonhoeffers pflegt und um den Erhalt der Heilpädagogischen Pflegefamilie unbeirrbar kämpft (s. www.aktivverbund-berlin.de).

Kurt Eberhard  (Mai, 2004)

 

 

[AGSP] [Aufgaben / Mitarbeiter] [Aktivitäten] [Veröffentlichungen] [Suchhilfen] [FORUM] [Magazin] [JG 2011 +] [JG 2010] [JG 2009] [JG 2008] [JG 2007] [JG 2006] [JG 2005] [JG 2004] [JG 2003] [JG 2002] [JG 2001] [JG 2000] [Sachgebiete] [Intern] [Buchbestellung] [Kontakte] [Impressum]

[Haftungsausschluss]

[Buchempfehlungen] [zu den Jahrgängen]

Google
  Web www.agsp.de   

 

 

 

 

 

simyo - Einfach mobil telefonieren!

 


 

Google
Web www.agsp.de

 

Anzeigen

 

 

 

 


www.ink-paradies.de  -  Einfach preiswert drucken