FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Diskussion / Jahrgang 2001

 

Ja, Kinder brauchen starke Eltern

von Christine Bergmann

 

Vorbemerkung: Die von Gaschke, Gerster und Nürnberger erhoffte öffentliche Diskussion über die Erziehungsmisere kommt tatsächlich in Gang. Sogar die Bundesfamilienministerin fühlt sich herausgefordert. Sie bestätigt die Notwendigkeit der Diskussion, benennt auch die sozialen und pädagogischen Probleme, sieht aber „keinen Grund, pessimistisch in die Zukunft unserer Kinder zu blicken“. Sie setzt auf „verbesserte Vereinbarkeit von Familien- und Erwerbsarbeit“ und ignoriert die Gefahren dieses Konzepts für Kinder in den ersten 3 Lebensjahren.
C.M. (Okt. 01)


21. Aug. 2001 - Wer vom Ausland einen Blick in Deutschlands Kinderzimmer wagt, erschrickt - sofern er sich nicht selbst ein Bild macht, sondern durch die Brille von Susanne Gaschkes Buch „Die Erziehungskatastrophe“ schaut. 
Nirgendwo sind klare Linien in der Erziehung und Bildung zu erkennen; überall sieht man verzogene, aggressive, verspannte, einsame und seelisch verwahrloste Kinder. Elternhaus, Kinderbetreuungseinrichtungen, Schule, Freizeitinstitutionen - sie alle haben nicht den Mut, Kinder richtig zu erziehen und gut für sie zu sorgen, so der Befund der Autorin. Es herrscht Kälte im Kinderzimmer, und die Eltern sind schuld. 

Stimmt das Wort von der Katastrophe? 
Wichtig und richtig ist, dass wieder über Erziehung diskutiert wird - über Ziele und Wertevermittlung, über das Setzen von Grenzen. 
Ich betrachte die Situation von Familien und ihrem Nachwuchs mit kritischen Augen - nicht nur als Familienministerin, auch als Mutter und Großmutter. Es gibt eine große Erziehungsunsicherheit. Ich treffe Eltern, die sich fragen, ob sie alles richtig machen. Auch ich sehe Kinder mit Konzentrationsschwächen und Unruhe. Ich erlebe orientierungslose Jugendliche und aufgebrachte Eltern. Kein Zweifel, hier stellt sich die Frage nach wirkungsvollen Hilfen. 

Kinder in Deutschland werden heute anders groß
Die Mehrzahl der Jugendlichen wächst jenseits der Extreme auf, die manche Medien zugespitzt vermitteln. Wenn die Mehrzahl der Jugendlichen laut Shell-Jugendstudie angibt, ein gutes Verhältnis zu ihren Eltern zu haben, in den Familien emotionale Geborgenheit zu erleben, sehe ich keinen Grund, pessimistisch in die Zukunft unserer Kinder zu blicken. 
Wir müssen aber sehen, dass Kinder und Jugendliche heute in Deutschland anders als früher groß werden. Darauf müssen sich nicht nur die Erziehenden einstellen, sondern die ganze Gesellschaft. Neben die Familie sind als Instanz, die Kinder maßgeblich beeinflussen, die Gleichaltrigen, die Erzieherinnen und Erzieher, die Lehrerkräfte und die Medien getreten. Damit wird nicht die primäre Erziehungsverantwortung der Eltern in Frage gestellt - im Gegenteil. Es gilt, sich mit den unterschiedlichen Akteuren abzustimmen, anstatt Verantwortung weiterzuschieben. 

Die Institutionen müssen auf den Prüfstand
Wo gibt es denn die enge Zusammenarbeit zwischen Eltern, Schule, Kita und Jugendlichen wirklich? Der 11. Kinder- und Jugendbericht fordert die „öffentliche Verantwortung für das Aufwachsen der Kinder“ ein. Um diesem Anspruch gerecht zu werden, müssen die Institutionen auf den Prüfstand, müssen wir aber auch eine Verständigung über Erziehungsziele erreichen. 
Kindheit und Jugend in Deutschland ist von unterschiedlichen Werten und Milieus, von Migrationserfahrung und auch von sozialer Ungleichheit geprägt. Rund eine Millionen Kinder leben in Deutschland von der Sozialhilfe. Ihre Zahl ist unter der rot-grünen Bundesregierung bereits gesunken; wir müssen alles daran setzen, ihre materielle Situation weiter zu verbessern. Benachteiligten Familien fehlt es am ehesten an Unterstützung und Hilfsangeboten. Nicht zuletzt der Armutsbericht der Bundesregierung hat gezeigt, dass die Gründe für Armut bei Familien im Wesentlichen Arbeitslosigkeit und Niedrigeinkommen sind. Wenn wir die Vereinbarkeit von Familien- und Erwerbsarbeit durch Kinderbetreuung verbessern, helfen wir, die Armut bei allein Erziehenden zu reduzieren. 

Eine neue öffentliche Debatte um Erziehung ist notwendig
Der gesellschaftliche Wandel, der sich in den Familien vollzogen hat, geht nicht spurlos an der Erziehung vorbei. Dieser Wandel macht eine neue öffentliche Debatte um Erziehung notwendig. Wie können wir unsere Kinder zu verantwortungsbewussten Mitgliedern unserer Gesellschaft erziehen, die sich auf dem Arbeitsmarkt behaupten, die Sozialkompetenz zeigen, die selbstbewusst sind? Wie können wir soziale Chancengleichheit garantieren in einer Gesellschaft, in der es noch soziale Ungleichheit gibt? 
Es fehlen Orientierungshilfen für Kinder und Erwachsene im Anforderungsgeflecht der modernen Welt. Kinder müssen früher erwachsen werden. Unbeschwert ist die Jugend heute nicht. 

Wie kann ein Aufwachsen in öffentlicher Verantwortung aussehen?
Die meisten Eltern wissen, dass Kinder Grenzen brauchen, dass man in der Familie Regeln des Miteinanders und Kompromissbereitschaft lernt. Das haben auch Eltern, die alternative Erziehungsstile hochhielten, nie ernsthaft bestritten. 
Es gilt, Kinder und Eltern nicht alleine zu lassen in der Erziehungsverantwortung. In diesem Sinne fordert die Kommission des 11. Kinder- und Jugendberichts ein neues Verständnis von öffentlicher Verantwortung für das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen: „Staat und Gesellschaft müssen die Lebensbedingungen von Kindern und Jugendlichen so gestalten, dass die Eltern und die jungen Menschen für sich selbst und füreinander Verantwortung tragen können.“ Wie kann ein solches Aufwachsen in öffentlicher Verantwortung aussehen?

  1. Familien müssen auch künftig im Zentrum der Politik stehen. Sie brauchen unsere materielle Unterstützung, aber auch bessere Rahmenbedingungen. Denn Familien mit Kindern sind eher von sozialer Ausgrenzung bedroht.
  2. Eine verbesserte Vereinbarkeit von Familien- und Erwerbsarbeit hilft, das Armutsrisiko zu senken. Daher ist ein bedarfsgerechtes Angebot an Betreuungsmöglichkeiten auch für die unter-3-jährigen und die Schulkinder das Gebot der Stunde. 
    Entgegen Frau Gaschkes Meinung belegen Studien, dass es Kindern gut bekommt, nicht ausschließlich von den Eltern betreut zu werden. Kindertageseinrichtungen müssen nicht nur Betreuung leisten; vielmehr noch müssen sie Erziehung und Bildung vermitteln. Allerdings muss es auch darum gehen, Familienfreundlichkeit zum Teil der Unternehmenskultur zu machen. Flexible Arbeitszeitmodelle, Arbeitszeitreduzierungen, ohne auf berufliche Karriere zu verzichten, sind notwendig. Kinder brauchen Zeit und Kinder brauchen auch ihre Väter. Deshalb ist mir die Väterkampagne so wichtig, die sich nicht nur an Väter, sondern auch an Unternehmen richtet.
  3. Alle Kinder und Jugendlichen müssen die Chance zum selbstständigen Leben erhalten. Dazu ist Bildung die Voraussetzung. Jugendpolitik ist in diesem Sinne auch Bildungspolitik. Sie muss umfangreiches Wissen und Kompetenzen vermitteln, zu Demokratie und Toleranz erziehen. Erziehung zu Demokratie setzt voraus, dass Kinder Erfahrungen mit demokratischen Prozessen machen können, deshalb sind mehr Beteiligungsmöglichkeiten wichtig.
  4. Kinder müssen lernen, sich selbst behaupten zu können. Dazu zählt das Recht, ohne Gewalt aufzuwachsen, Respekt zu erfahren. Wir wollen Eltern in ihrer Erziehungskompetenz mit Beratungsangeboten und Hilfen stärken. Insbesondere Familien in prekären sozioökonomischen Verhältnissen brauchen verstärkt erzieherische Hilfen. 

Gaschkes Forderung nach starken Eltern stimmt
Familien gehören nicht in die Kuschelecke der Sozialidylle. Das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen ist keine Privatangelegenheit. 
Wenn der Diagnose der „Erziehungskatastrophe“ von Frau Gaschke auch nicht zuzustimmen ist, so doch ihrer Forderung im Untertitel des Buches: „Kinder brauchen starke Eltern“. Starke Eltern und starke Kinder sind die, die ihr Leben meistern können. Dafür die Bedingungen zu schaffen, sind wir alle gefordert.

Dr. Christine Bergmann (SPD) ist Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend.

weitere Beiträge zum Thema Erziehungskrise

[AGSP] [Aufgaben / Mitarbeiter] [Aktivitäten] [Veröffentlichungen] [Suchhilfen] [FORUM] [Magazin] [JG 2011 +] [JG 2010] [JG 2009] [JG 2008] [JG 2007] [JG 2006] [JG 2005] [JG 2004] [JG 2003] [JG 2002] [JG 2001] [JG 2000] [Sachgebiete] [Intern] [Buchbestellung] [Kontakte] [Impressum]

[Haftungsausschluss]

[Buchempfehlungen] [zu den Jahrgängen]

Google
  Web www.agsp.de   

 

 

 

 

 

simyo - Einfach mobil telefonieren!

 


 

Google
Web www.agsp.de

 

Anzeigen

 

 

 

 


www.ink-paradies.de  -  Einfach preiswert drucken