FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Diskussion / Jahrgang 2006

 

Falsifizierbare Argumente statt Polemik!

Replik zur „Antwort auf die Studie zur Sozialkompetenz
von Pflegekindern“ von Dr. Arnim Westermann vom 10.11.2005

von Dr. Walter Gehres
(mit Kommentar von Prof. Dr. K. Eberhard)

 

Zunächst eine Vorbemerkung. Es ist mir schleierhaft 1. wie Herr Westermann an ein nicht veröffentlichtes Manuskript von mir kommt und 2. darüber eine Rezension schreibt und aus dem nicht zitierfähigen Manuskript zitiert. Das halte ich für eine sehr fragwürdige Praxis, auch deshalb, weil die Leserin und der Leser nicht die Möglichkeit haben, den rezensierten Text selber zu lesen und die Einschätzungen des Rezensenten zu relativieren.

Es ist doch erstaunlich, mit welchem Duktus sich Herr Westermann mit meiner Zwischenbilanz zur Sozialisation und Identitätsbildung in der Pflegefamilie zumindest ansatzweise auseinandersetzt. Offenbar zeigt sich in seinen kurzen Ausführungen ein Problem der sozialpädagogischen Fachdiskussion in Deutschland, das schon seit Mitte der 80er Jahre bekannt ist, wenn es um Pflegeelternkonzepte geht. Man könnte es als eine Mischung aus polemischer Aufgeregtheit und fachlicher Ideologie bezeichnen, bei der eine an der Sache interessierte, reflexive und zugleich für neue Perspektiven offene Auseinandersetzung mit der Sozialisation in Pflegefamilien auf der Strecke bleibt.

Es geht - Herr Westermann - gar nicht darum, dass Kinder sich ihre zentralen Bezugspersonen selbst aussuchen (diesen Fall haben wir auch in unserem Sample), sondern um eine differenzierte und multiperspektivische Analyse der Möglichkeiten und Grenzen des Sozialisationsmodells Pflegefamilie. Die Leistungen von Pflegeeltern können aber nur erkannt werden, wenn man zunächst auch die Unterschiede zwischen den beiden Familiensystemen, nämlich Herkunfts- und Pflegefamilie, deutlich macht und dabei bereits bekanntes familiensoziologisches Wissen einbezieht. In der bisherigen veröffentlichten Fachdiskussion ist dies bisher selten passiert und die Unterschiede zwischen den Familienformen wurden überhaupt nicht wahrgenommen. Dadurch entsteht dann ein undurchsichtiges, verschwommenes Bild von Pflegefamilien und ihren Aufgaben, womit vor allen den Pflegeeltern wenig geholfen ist, weil von ihnen dann Leistungen erwartet werden, wie z. B. Eltern zu ersetzten, die sie gar nicht einlösen können, selbst wenn sie es wollten.

Das Besondere meines Konzeptvorschlages, nämlich die Pflegefamilie als eine „Familie eigener Art zu verstehen“ (dazu und zur kompletten Studie wird im nächsten Jahr eine Monographie erscheinen), besteht darin, dass einerseits komplexe sozialisatorische Zusammenhänge im biographischen Verlauf berücksichtigt werden und andererseits den besonderen Kompetenzen der Pflegeeltern im Zusammenleben mit dem Pflegekind eine eigenständige Wertigkeit zugestanden werden. Nicht mehr der Vergleich mit Eltern steht im Mittelpunkt, sondern die Sozialisationspraxis der Pflegefamilie jenseits von Herkunftsfamilien, ohne allerdings deren Vorhandensein und lebenslange Ver- und Gebundenheit der Pflegekinder mit ihnen zu ignorieren. Leibliche Eltern lassen sich nicht ersetzten. Wer wissen möchte, warum das so ist, erfährt leider im Beitrag von Herrn Westermann nichts darüber, obwohl die Begründung für diesen Sachverhalt in meinem Aufsatz einen relativ breiten Raum einnimmt (S. 246-251 in der veröffentlichten Version).

Dennoch können Pflegepersonen sehr viel für ihre Pflegekinder tun, es kann ihnen gelingen durch ihr Handeln, durch das Zusammenleben mit dem Pflegekind mit allen seinen Facetten eine Alternative zum Aufwachsen in der Herkunftsfamilie zu entwickeln, indem sie in ihrer Sozialisationspraxis einen gegenüber dem Herkunftsmilieu anderen Zugang zu und Umgang mit Familiengrenzen, Beziehungen und affektiven Bindungen vermitteln. Pflegeeltern sind im Zusammenleben mit Pflegekindern gezwungen, sich in diesen Sozialisationsbereichen zu bewähren, bzw. sie haben die Möglichkeit entsprechende Vorerfahrungen der Pflegekinder in diesem sozialisatorischen Dreieck (Grenze, Triade, affektive Rahmung) auszudifferenzieren und damit eine gegenüber dem Herkunftsmilieu nicht bessere, sondern eine andere Sozialisationspraxis zu etablieren. Dazu bedarf es in der Alltagspraxis nicht der Orientierung des Handelns am Pflegeelternkonzept der Ersatz- oder Ergänzungsfamilie, sondern – wie wir bei der Analyse herausgefunden haben – einer „unbedingten Solidarität bis auf weiteres“ dem Pflegekind gegenüber. Alle untersuchten Pflegefamilien entwickeln diese Verbundenheit, unabhängig von ihrer Orientierung an einem der beiden bisherigen Pflegeelternkonzepte und ohne Herkunftseltern ablehnen zu müssen.

Noch ein Hinweis zur wissenschaftlichen Zuverlässigkeit der Studie. Unverkennbar ist die gar nicht so selten praktizierte Strategie beim Fehlen sachlicher Gegenargumente auf angebliche methodische Unzulässigkeiten oder Schwächen zurück zu greifen, wie dies auch Herr Westermann praktiziert. Die von uns bei der Analyse der Daten angewandte Methode der Fallrekonstruktion ist in der Soziologie ein weit verbreitetes und seit längerer Zeit anerkanntes Verfahren (vgl. zur Übersicht: K. Kraimer, 2000, Die Fallrekonstruktion. Frankfurt a. M.; im Besonderen B. Hildenbrand, 2005, Fallrekonstruktive Familienforschung, Wiesbaden, 2. Auflage). In der Art und Weise wie Herr Westermann über diese Methode in seinem Beitrag schreibt, zeigt sich aber, dass er mit diesem Ansatz nicht vertraut ist bzw. dass ihm dieses Forschungsverfahren gar nicht bekannt zu sein scheint. Es wäre daher ratsam, in solch einem Fall, sich als Rezensent erst einmal mit den entsprechenden Verfahren zu befassen, bevor weitreichende Urteile gefällt werden.

Im Übrigen rate ich allen Nutzerinnen und Nutzern dieses Forums, die ernsthaft an der fachlichen Entwicklung des Pflegekinderbereiches interessiert sind, meinen mittlerweile veröffentlichen Aufsatz im Original zu lesen und sich ein eigenes Urteil zu bilden: „Jenseits von Ersatz und Ergänzung. Die Pflegefamilie als eine andere Familie. Zeitschrift für Sozialpädagogik, Heft 3, 2005, S. 246271“. Wer sich darüber hinaus für die weiteren Ergebnisse des Forschungsprojektes interessiert, kann den Abschlussbericht an die DFG unter der EMailAdresse bruno.hildenbrand@uni-jena.de anfordern.

Adresse: Dr. Walter Gehres, Kaiser-Friedrich-Str. 62, 10627 Berlin
E-Mail:
walter.gehres@uni-jena.de

 


Kommentar:
Ohne einer gründlichen Diskussion der Forschungsergebnisse von Gehres vorgreifen zu wollen, möchte ich doch einige kritische Anmerkungen anfügen:

  1. Herr Gehres hat sein Manuskript für eine hochschulöffentliche Tagung selbst verteilt und darf sich nun nicht wundern, wenn darauf reagiert wird.
  2. Unsere Leser hatten sehr wohl die Möglichkeit, die Publikation von Gehres selbst zu lesen, weil per Link darauf hingewiesen (s. Soziologische Dialektik im Ungewissen) und vorher eine diesbezügliche Pressemitteilung des Informationsdienstes Wissenschaft e.V. bei uns publiziert wurde (s. Kinder im Spannungsfeld zwischen Pflege- und Herkunftsfamilie).
  3. Die fachliche Diskussion um das Ersatzfamilien- und Ergänzungsfamilien-Modell auf  eine "Mischung aus polemischer Aufgeregtheit und fachlicher Ideologie" zu reduzieren, ist entweder ignorant oder arrogant. Gegenüber Westermann ist ein solcher Vorwurf in anbetracht seiner langjährigen praktischen Erfahrungen und anerkannten wissenschaftlichen Verdienste vollends absurd.
  4. Die verblüffende These, daß Pflegeeltern leibliche Eltern nicht ersetzen können, bestreitet eine jahrtausendealte Wirklichkeit, es sei denn, es ist gemeint, daß Pflege- und Adoptiveltern eine glückliche frühe Kindheit nicht ersetzen können - dann ist es eine Banalität.
  5. Wenn Gehres schon die Existenz der Ersatzfamilien bezweifelt und auch die empirisch belegten Erfolge dieses Konzepts nicht aufgreift, wird er sein erklärtes Ziel, nämlich die synthetische Integration der beiden konkurrierenden Modelle, kaum erreichen können.
  6. Es geht nicht darum, Herkunftseltern "abzulehnen" - das würde die Identitätsentwicklung des Kindes irritieren - aber Umgangskontakte mit traumatisierenden und retraumatisierenden leiblichen Eltern können die psychische Heilung in der Pflegefamilie erheblich gefährden.
  7. Methodologische Kritik ist natürlich ein legitimes und in diesem Fall sehr gebotenes Mittel wissenschaftlicher Argumentation, und der Hinweis, daß die Methode der Fallrekonstruktion in der Soziologie ein anerkanntes Verfahren sei, schützt eben nicht vor deren Validitätsmängeln.

Kurt Eberhard  (Jan. 2006)

 



s.a. Kinder im Spannungsfeld zwischen Pflege- und Herkunftsfamilie
s.a. Soziologische Dialektik im Ungewissen
s.a. Schwierigkeiten und Widersprüche in Pflegefamilien und deren therapeutische Potentiale
s.a. Einbahnstraße Pflegefamilie? Zur (Un)Bedeutung fachlicher Konzepte in der Pflegekinderarbeit
 

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