FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Diskussion / Jahrgang 2006

 

Sozialarbeit und Schule in Brandenburg:

Humanismus, Partizipation und Selbstständigkeit, an Stelle des  „wohlwollenden“ Autoritarismus

oder

Die unendliche Geschichte autoritärer Fremdbestimmung

von Michael Kreyenborg und Nina Schmitz

 

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

die einleitende Überschrift lässt vielleicht erahnen, dass es hier um eine grundsätzliche Problematik in der Pädagogik und Sozialarbeit in Brandenburg geht.

Wir sind als Menschen und als Fachkräfte über den mehrheitlich anzutreffenden „wohlwollenden“ Autoritarismus in der Sozial- / Jugendarbeit und in der Schule betroffen und entsetzt.

„Wohlwollender“ Autoritarismus ist dabei als autoritäres Verhalten auf der Ebene der Lenkungsdimension im Kontext der Erziehung oder des Leitens und Führens von Menschen zu verstehen. Dieses Verhalten degradiert Kinder und Jugendliche zu Objekten und beschneidet sie ihrer Selbstständigkeit, Eigenverantwortung und Möglichkeiten der Partizipation.

In der Regel geschieht dies zum “Wohle“ des Kindes und der Jugendlichen, weil die Erwachsenen und Pädagogen meinen zu wissen, was für Kinder und Jugendliche gut und das Beste ist.

Können Erwachsene/Pädagogen in der heutigen Zeit aber wirklich wissen, was das Beste für Kinder und Jugendliche in der morgigen Zeit sein wird?

Hat Margaret Mead nicht schon 1974 den kulturellen Wandel in ihrem Buch „Der Generationskonflikt“ beschrieben: “Wie ich meine, sehen die heutigen Kinder einer Zukunft entgegen, die so weitgehend unbekannt ist, dass man sie nicht, wie wir es gegenwärtig zu tun versuchen, als einen Wandel auf Generationsbasis mit Konfiguration innerhalb einer stabilen, von den Älteren kontrollierten und nach elterlichen Vorbild geformten Kultur unter Einschluss zahlreicher postfigurativer Elemente behandeln kann“ (S.80)

„Nunmehr müssen wir offene Systeme schaffen, die sich auf die Zukunft konzentrieren – und damit auf die Kinder, auf diejenigen, über deren Fähigkeiten wir noch am wenigsten unterrichtet sind und deren Entscheidungsfreiheit nicht vorgegriffen werden darf. Damit anerkennen wir ausdrücklich, dass die Wege, die uns in die Gegenwart geführt haben, nicht mehr gangbar sind und nie wieder begehbar sein werden…“.( S.108)

In diesem Kontext hat sich nun wieder ein (kultureller) Wandel in der Erziehung vollzogen. Ein Wandel vom autoritären Erziehen durch Befehlen, rigide Strafen und defizitärem Denken, hin zu einem partnerschaftlichen und gemeinschaftlichen Erziehungs- und Lernprozess, der durch gegenseitigen Respekt, Achtung und Verhandeln gekennzeichnet ist.

Dieser Wandel hat sich sogar schon im SGB VIII durch entsprechende Zielstellungen oder Aufgabenbeschreibungen niedergeschlagen.

Und sind es nicht die heute so eindringlich geforderten Schlüsselkompetenzen, welche durch Pädagogik und Sozialarbeit gefördert werden sollten und eine junge Persönlichkeit kennzeichnen?

Die Realität sieht leider anders aus. Praxiserfahrungen im Land Brandenburg zeigen, dass diese gesetzlichen Vorgaben sowie das dahinterstehende Menschenbild selten umgesetzt werden.

Wir erleben die „Ergebnisse“ des wohlwollenden Autoritarismus hautnah und life in der täglichen Arbeit, nämlich:

Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene, die

in der Schule Angst vor Gewalt haben

  • in der Schule Angst vor Lehrern/Lehrerinnen und dem ganzen "System Schule" haben
  • Angst vor der Gesellschaft und ihrer Zukunft haben
  • die kein Vertrauen zu sich selbst, aber auch nicht zu Erwachsenen, Pädagogen/Pädagoginnen, Parteien oder Institutionen haben

und somit

  • unfähig sind, Verantwortung für sich oder die Gesellschaft zu übernehmen
  • den Leistungsanforderungen nicht standhalten und auffällig werden
  • jegliche Leistung oder Anforderungen an ihr Leben verweigern
  • ihre Sehnsüchte in verschiedensten Süchten suchen
  • bei kleinen Krisen „das Handtuch“ werfen und sich zurückziehen
  • ihre Probleme aggressiv bzw. autoaggressiv ausleben
  • wieder offen sind für autoritäre Autoritäten und Strukturen – je nach Belieben, radikale Kameradschaften, Bünde, Parteien oder Sekten
  • in egoistischer Weise mit Ellbogenmentalität ihre Interessen und Bedürfnisse durchsetzen, aber gleichzeitig Wegsehen wenn es gilt, Zivilcourage zu zeigen

Wir erleben weiterhin in der Arbeit,

  • ein Schulsystem, was einzig auf Leistung, Ruhe, Ordnung und Sauberkeit setzt und Probleme durch Gewalt löst, indem Macht ausgeübt und Ausgrenzung betrieben wird
  • als Reaktion hierauf Mobbing in: Klassen, Schulen, Institutionen, der Arbeit und der Gesellschaft
  • Ein Schulsystem, welches die eigentlichen Protagonisten des Geschehens – die Kinder und Jugendlichen sowie Eltern – ausschließt und zum Funktionieren degradiert
  • eine Haltung, die auf allen Ebenen defizitär denkt
  • ein Übermaß an lebendigen Kindern, welche mit Ritalin "ruhig gestellt" werden
  • eine Jugendarbeit, die mit ihrer „wohlwollenden Angebotspädagogik“ Kinder und Jugendliche in ihrer Konsumerwartung „sättigt“, sie aber, analog der (menschlichen) Bedürfnispyramide sowie der Stufen der Partizipation, in der Jugendarbeit ausschließt
  • Eine Jugendarbeit/Jugendhilfe, die Kindern/Jugendlichen offensichtlich und aus unterschiedlichen Gründen misstraut und sie anstatt da abzuholen, wo sie stehen, dahin bringen möchte, wo sie wohlwollender weise zu wissen glaubt
  • Eine Jugendhilfe, die Kinder/Jugendliche immer noch zu Tätern abstempelt und erwartet, dass diese doch nur das tun müssten, was Eltern, Lehrer oder Pädagogen in wohlwollender Weise von ihnen erwarten, dann wäre alles in Ordnung
  • Qualitätsstandards, die entweder den Namen nicht verdienen oder nicht durchgesetzt werden
  • Pädagogische oder sozialpädagogische Arbeit ohne jede fachlich qualitative Standards, ohne jegliche Überprüfbar- und Evaluierbarkeit

Wir wollen diesem wohlwollenden Autoritarismus, der gekennzeichnet ist durch Bevormundung, Entmündigung, Misstrauen, Verlogenheit und erwartetes Demutsverhalten, etwas entgegensetzen.

Deutlich möchten wir betonen, dass es uns hier nicht um die Ausgrenzung der z.Zt. Agierenden geht, sondern um die Wahrnehmung unserer Verantwortung.

Die Zeit für eine echte Wende ist mehr als reif. Wir stehen für einen menschlichen und humanistischen Umgang miteinander. Dieser Umgang ist ein achtungsvoller und respektvoller, der den anderen/die andere nicht ändern will, sondern auf seinem/ihrem Weg begleitet und wenn nötig unterstützt. Dieser Umgang verzichtet auf alles Autoritäre und Profilneurosen. Er verzichtet aber nicht auf Autorität, Authentizität und Auseinandersetzung in der Beziehung. Wie auch nicht auf das Herz und die Intuition verzichtet wird.

Wir stehen für die Änderung der inneren Haltung des Autoritarismus hin zum fördernden Humanismus. Aus Bevormundung wird Begleitung der Beteiligten. Dieses Begleiten ist gekennzeichnet durch Respektierung der Autonomie, der Selbstständigkeit, der Eigenverantwortung und der Eigenwilligkeit der Menschen, mit denen es Pädagogik und Sozialarbeit zu tun haben.

In einer solchen Atmosphäre können Selbstwertgefühl, ein positives Selbstbild, eine eigenständige Identität und Kreativität reifen und wachsen.

Praktische Beispiele hierfür sind: Förderung reformpädagogischer Schulen, Einführung von Supervision, gleiche Bezahlung für Lehrer/Lehrerinnen verschiedener Schulformen, Jugendparlamente und selbstverwaltete Jugendprojekte etc.

Als Ost / West Team sehen wir die längst überfällige Auseinandersetzung, die spätere Anerkennung beider verschiedener Kulturen und die Erarbeitung eines "dritten Weges" als unerlässlich an.

Als Beitrag zu dieser Wende wollen wir eine Plattform schaffen. Hierzu bedarf es der Zusammenarbeit und Vernetzung verschiedenster Kompetenzen. Zu diesem Zweck laden wir zu einem ersten Treffen ein.

Wir bitten in diesem Zusammenhang ein inhaltliches und fachliches Feedback, als auch um eine Rückmeldung in welcher Art und Weise sie sich zu dieser Arbeit einbringen wollen bzw. können.

Wir stehen zwar mit Freunden, Bekannten und KollegInnenn im Kontakt und Austausch, aber es ist uns nicht bekannt, dass eine Bewegung bzw. Arbeitsgemeinschaft die hier beschriebenen Inhalte bearbeitet und eine konsequente Änderung vorantreibt. Sollten Sie Menschen kennen, die einer solchen Arbeitsgemeinschaft angehören, bitten wir um Kontaktvermittlung.

Wir bitten ebenso, diesen Brief an Menschen weiterzuleiten, welche Ihrer Meinung nach Interesse an einer Veränderung der sozialen Arbeit, auch bundesweit, haben.

Wir danken für Ihre Aufmerksamkeit, hoffen auf eine für Sie mögliche Teilnahme an unserer "Plattform" am Freitag, den 15. September, 14 Uhr in 14959 Glau/Trebbin, Dorfstraße 18 und bitten diesbezüglich um eine Rückmeldung.

Kontakt: nina.schmitz.undine@nexgo.de

 

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