FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Diskussion / Jahrgang 2006

 

Sie sehen aber schlecht aus

Der Fall Natascha Kampusch hat gezeigt: Journalisten haben im Umgang mit Betroffenen eine große Verantwortung. Hier die wichtigsten Regeln für Opfer-Befragungen.

VON ULLA FRÖHLING

 

Die Gruppe Journalisten und Journalistinnen schaute gespannt. Im Weiterbildungskurs an der Freien Universität Berlin ging es um Tabuthemen und Tabubrüche in den Medien. Mein Thema: Sexualstraftaten an Kindern. Ich stellte mich kurz vor und fragte dann, fast unvermittelt: »Wer von Ihnen wurde in der Kindheit sexuell missbraucht?« Jähe Stille. »Wer wurde von den Eltern systematisch geprügelt?« Die Erstarrung hielt auch bei der nächsten Frage an: »Wer wurde als Erwachsener vergewaltigt?« Erst als ich nachschob – »Wem wurde schon mal etwas gestohlen?« – löste sich der Schock, einzelne meldeten sich, lachten. »Haben Sie wirklich Antworten erwartet?« fragte eine Studentin. Natürlich nicht. Ich hatte sogar gehofft, dass niemand reagieren würde. Aber dass es Tabugrenzen gibt, sollten sie am eigenen Leib spüren. Es war riskant und ein bisschen hinterhältig, aber es führte uns direkt zur Sache: dem journalistischen Umgang mit Opfern von Gewalt.

Medienhatz auf Natascha Kampusch
Das Entführungsopfer Natascha Kampusch empfand den journalistischen Umgang, die »Medienhatz« auf sie, als verunglimpfend, verleumdend und demütigend. Dies sagte die 18-Jährige in dem aufsehenerregenden Interview, dass der Journalist Christoph Feurstein im Österreichischen Rundfunk mit ihr führte, nur 14 Tage nach der Flucht aus dem Keller ihres Entführers (www.orf.at, 06.09.2006). Gegen diese »Hatz« versuchte sie sich mit einem Team aus Psychologen, Anwälten und Medienberatern zu wehren. Deren Strategien im Umgang mit dem weltweiten Medieninteresse sollten ein Bild von Natascha Kampusch schaffen, das ihr so wenig wie möglich schaden und so viele Vorteile wie machbar verschaffen sollte.

Das ORF-Interview
Über das ORF-Gespräch, so kurz nach der Flucht Kampuschs, ist viel diskutiert worden. Im Hinblick auf den Umgang mit traumatisierten Menschen enthielt es aber einige wertvolle Hinweise. Natürlich waren die Interviewfragen abgesprochen. Das Beraterteam saß mit im Studio und sein Einfluss war bis in die Formulierungen der Fragen hinein spürbar. Im Gegensatz zu anderen Interviews ist das Absprechen des Ablaufs im Fall der Opferberichterstattung sinnvoll. Es ist wichtig, den Betroffenen Sicherheit zu vermitteln. Auffällig war, dass Christoph Feurstein siebenmal seine eigentliche Frage mit einer Frage nach dem Einverständnis Kampuschs einleitete: »Wollen Sie uns darüber berichten? Wollen Sie uns darüber etwas erzählen? Wollen Sie beschreiben?« Damit betonte er die autonome Entscheidung seiner Interviewpartnerin. Anders als in den vergangenen acht Jahren konnte sie jetzt auch »nein« sagen. »Wenn Sie nicht antworten wollen, sagen Sie sofort stopp«, begann Feurstein dann eine seiner letzten Fragen. Ob bewusst oder unbewusst, benutzte er hier ein Signal, das Psychotherapeuten bei der Behandlung von Traumatisierten verwenden, um das Risiko eines Flashbacks zu verringern. Flashbacks sind Erinnerungsbilder, die beispielsweise durch einen Geruch oder einen Anblick ausgelöst werden können (siehe dazu Kasten).
 

DIE FOLGEN EINES TRAUMAS

  • Laut World Health Organization ist ein Trauma »ein lebensbedrohliches Ereignis, das fast in jedem Menschen tiefe Verzweiflung auslösen würde«.
  • Zwei Drittel erholen sich ohne Therapie von einem psychischen Trauma. Etwa ein Drittel erlebt nach einem halben Jahr noch Schlafstörungen, Alpträume, Panikattacken und Flash backs (unwillkürliche Erinnerungsbilder, die durch einen Auslösereiz, einem »Trigger«, wie zum Beispiel einem Geruch oder Anblick, ausgelöst werden können). Dies sind normale Reaktionen auf unnormale Erlebnisse!
  • Einige entwickeln eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTSD = engl. posttraumatic stress disorder), das heißt, sie sind emotional betäubt, vermeiden die Erinnerung an das Trauma und erleben Flashbacks. Auch Betäubungsversuche mit Alkohol oder Drogen, selbstverletzendes Verhalten und Suizidversuche kommen vor.
  • Einmalige Erlebnisse – Naturkatastrophen, Unfälle, technische Katastrophen – werden leichter verarbeitet als menschliche Gewalt, besonders wenn sie durch nahestehende Personen verübt wurde. KZ-Traumatisierungen und langandauernder sexueller Kindesmissbrauch führen in rund sechzig Prozent der Fälle zu chronischer PTSD.
  • Viele Betroffene leben in einem labilen Gleichgewicht, das leicht gestört werden kann. Unsensible Journalisten können eine solche Störung sein. Die Einhaltung von Grenzen ist oberstes Gebot im Interview mit Betroffenen.

Weitere Hinweise siehe www.dartcenter.org

HINWEISE FÜR INTERVIEWS MIT BETROFFENEN

Vorbereitung

  • Überlegen Sie, ob Sie ein wirkliches Anliegen haben. Wenn es Ihnen nur um Voyeurismus geht, sollten Sie die Betroffenen in Ruhe lassen.
  • Haben Sie den richtigen Zeitpunkt für das Interview gewählt? Der ist oft entscheidend für das Gelingen eines Interviews. Betroffene brauchen Zeit und Ruhe, bevor sie sich öffnen.
  • Es ist besser, schriftlich Kontakt aufzunehmen (Brief, Fax, Mail). Nach einer Schocksituation ist das Ge-dächtnis schlecht.
  • Stehen Sie nicht unangemeldet vor der Tür!
  • Besprechen Sie den Interviewablauf vorher und beziehen Sie den Interviewpartner in Ihre Planung unbedingt mit ein.

Vorort-Interviews

  • Wenn Sie das Interview am Ort des Verbrechens führen, dann in einem sicheren Raum; niemals neben einem Rettungs wagen mit angeschalteter Sirene.
  • Stellen Sie sich und Ihr Medium ausführlich vor.
  • Behandeln Sie Betroffene mit Respekt und akzeptieren Sie ein »Nein«. Bleiben Sie auch bei heftiger Ablehnung ruhig. Lassen Sie Ihre Visitenkarte da.

Interview

  • Gehen Sie gut informiert und mit ausreichend Zeit zu den Betroffenen.
  • Akzeptieren Sie Begleitpersonen.
  • Sagen Sie, dass der Interviewpartner das Gespräch jederzeit unterbrechen kann.
  • Vereinbaren Sie dafür ein Stoppsignal, zum Beispiel Handheben. In einer akuten Phase können traumatisierte Menschen ihre Bedürfnisse oft nicht artikulieren.
  • Fragen Sie ruhig, sachlich und nicht zu mitfühlend. Dies ist kein Gespräch unter Freunden.
  • Hören Sie zu und bohren Sie nicht nach. Verlangen Sie keine anschaulichen Details. Trigger! Das Erlebnis kann auf eine Weise auftauchen, die für die Betroffenen kaum zu verarbeiten ist.
  • Sagen Sie nie: »Ich weiß, wie Sie sich fühlen« oder Sinngleiches. Denn das wissen Sie nicht.

Schreiben

  • Vorsicht bei der Verwendung von Passivkonstruktionen. So machen Sie die Betroffenen noch einmal zu Opfern.
  • Schreiben Sie die Betroffenen nicht auf den Opferstatus fest. Niemand weiß, wie die Zukunft der Betroffenen verläuft. Manche erholen sich gut.
  • Besprechen Sie alle Fotos und Illustrationen sorgfältig und verwenden Sie keine entwürdigenden Bilder.
  • Halten Sie Ihre Versprechen. Schicken Sie den Text zum Gegenlesen und nehmen Sie Anmerkungen Ihrer Interviewpartner ernst.

Nachbereitung

  • Informieren Sie die Betroffenen über Sendetermin, Wiederholung und Weiterverwertung des Beitrags. Schicken Sie ihnen den Beitrag nach der Veröffentlichung zu.
  • Fragen Sie nach, wie Ihr Interviewpartner die Sendung bzw. den Beitrag erlebt hat.

U.F.

 

Um einen Flashback zu verhindern, sollten Journalisten Betroffenen im Vorgespräch anbieten, dass sie das Interview jederzeit unterbrechen dürfen. Es ist auch hilfreich, ein Stoppsignal, beispielsweise ein Handheben, zu vereinbaren, da traumatisierte Menschen sich in schwierigenSituationen oft nicht artikulieren können.

Das Osthoff-Interview
Nicht erst seit dem Kampusch-Interview hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass für gute Berichterstattung über Gewaltopfer ein Basis wissen der Trauma- und Gehirnforschung nötig sei. Fee Rojas, Trainerin in der Zentralen Fortbildung von ARD und ZDF (www.zfp.de), organisierte die ersten Workshops zum Thema »Trauma und Journalis mus«. Sie sagt, dass das Interesse am journalistischen Umgang mit Opfern anfangs sehr verhalten war, es sich aber insbesondere nach dem Interview mit dem Entführungsopfer Susanne Osthoff im Dezember 2005 verstärkt habe (www.heute.de, 29.12.2005). Das von der heute-journal-Moderatorin Marietta Slomka geführte Interview im ZDF geriet von Frage zu Frage immer mehr zu einer Katastrophe. Nach 23 Tagen als Geisel im Irak war die deutsche Archäologin gerade einmal elf Tage frei. Sie befand sich in einer verletzlichen Phase, in der Menschen nach einer Extrembelastung eigentlich ganz in Ruhe gelassen werden sollten. »Für Menschen, die durch einen schweren Schicksalsschlag den Boden unter den Füßen verloren haben, ist es wichtig, wieder relativ sicher zu stehen oder zu sitzen, bevor sie vom Geschehen berichten«, sagt Fee Rojas. Nur dann könnten sie in ihrem eigenen Tempo beginnen, das Erlebte zu verarbeiten.

Schlechte Vorbereitung
Ein kurzes Vorgespräch war geplant, »dass man ein Gefühl füreinander hat« und Osthoff Vertrauen fassen könne, so Marietta Slomka (www.faznet.de, 22.01.2006). Natür lich ist nach einer gewaltsamen Entführ ung die Bereitschaft, sich auf Fremde einzulassen bei fast jedem Menschen stark eingeschränkt. Hinter Osthoff lag ein lebensbedrohliches Erlebnis, weder Kampf noch Flu cht waren möglich. Kein vernünftiger Mensch würde aber in einem kurzen Vorgespräch Vertrauen zu einer Journalistin fassen, die er noch nicht einmal sehen kann: Im al-Dschasira-Studio stand kein Kontroll monitor für Susanne Osthoff. »Ich kann Sie sehen, aber Sie können mich wahrscheinlich nicht sehen«, beschreibt Marietta Slomka naiv das Machtgefälle. Aus ihrer Sicht ist das nur eine Bemerkung zur Technik, auf anderer Ebene bildet es Osthoffs Situation als Geisel ab, als sie keine Kontrolle mehr über das eigene Leben hatte. Unbewusst ruft Slomka wahrscheinlich dieses Gefühl in Osthoff wieder hervor – keine vertrauensbildende Maßnahme. Eine gute Vorbereitung und etwas so Selbstverständliches wie die Prü fung der Technik gewinnen für ein Interview mit dem Opfer eines Gewaltver brechens ganz entscheidende Bedeutung. Für das Gespräch mit Susanne Osthoff waren die Voraussetzungen jedenfalls denkbar schlecht. Die erste Frage, die Slomka dann an Susanne Osthoff richtete, war »Wie geht es Ihnen?«. Das entspricht zwar unseren Konventionen für gutes Benehmen. Die Frage war auch höflich gemeint, aber in diesem Fall unangebracht. Eine Person, die um Fassung ringt, kann nicht noch eine Ausforschung ihrer Gefühlslage gebrauchen. Fragen und Kommentare wie: Wie fühlen Sie sich? Wie geht es Ihnen jetzt? sind in Schocksituationen tabu. Susanne Osthoff erwiderte dann auch lapidar: »Schlecht«.

Keine emotionalen Formulierungen
Marietta Slomka wollte weiter wissen, »wie das am Tag der Entführung abgelaufen ist. Sie waren in einem Auto, und plötzlich wurden Sie dort herausgezerrt?« Natürlich muss sie als Journalistin danach fragen. Denn genau das wollen schließlich alle wissen: Wie war das denn so in der Hand der Entführer? Mit emotionalen Formulierungen wie »plötzlich, herausgezerrt« will sie der Erinnerung des Opfers auf die Sprünge helfen. Doch in dieser Interviewsituation ist es falsch, nach anschaulichen Details zu fragen. Denn als Journalistin läuft man so Gefahr, die Traumatisierte zu »triggern«. Ein »Trigger« (engl.: Abzug am Gewehr) ist ein Auslösereiz, der Erinnerungssplitter blitzartig ins Bewusstsein holt. Denn die Erinnerung traumatisierter Menschen ist ohnehin auf dem Sprung. Sie haben ja gerade das Problem, ihre Erinnerungen in Schach zu halten. Wenn Traumatisierte getriggert werden, dann kann das bei ihnen den bereits erwähnten Flashback auslösen. Das Live-Gespräch im heute-journal vom 29. Dezember 2005 zwischen ZDF-Moderatorin Marietta Slomka und Susanne Osthoff geriet zur Katastrophe.

Rücksichtsloses Verhalten
Die Interviews mit Natascha Kampusch und Susanne Osthoff sind ohne Frage die meist diskutierten Beispiele für den journalistischen Umgang mit Opfern in den vergangenen Monaten. Doch zahlreiche Betroffene, deren Schicksal nicht zu einem Medienereignis geworden ist, klagen immer wieder über rücksichtsloses Verhalten von Journalisten ihnen gegenüber.

Nur zwei Beispiele
Ulrike M. Dierkes ist eine der ganz wenigen Inzestkinder, die ihr Schicksal öffentlich gemacht haben. Ihr Vater war im Dorf ein angesehener Mann. Doch seine Tochter bekam ein Kind von ihm: Ulrike. Die Journalistin versuchte, ihr Trauma schreibend zu verarbeiten und veröffentlichte ein Buch über das eigene Schicksal mit dem Titel »Meine Mutter ist meine Schwester«. In ihrem Heimatdorf nahm man Dierkes übel, dass sie das Verbrechen öffentlich machte. Als sie im August dieses Jahres zu Dreharbeiten dort war, sollte sie, stehend vor ihrem Elternhaus, wieder und wieder dieselbe Frage beantworten. Nie schien die Antwort so richtig gelungen. Dann setzte die Kamera aus. Ulrike Dierkes wurde wütend: »In dieses Dorf, wo ich Morddrohungen bekam, man würde mich mit Benzin übergießen und anzünden, gehe ich wirklich nicht gern. Das Team kann verdammt noch mal dafür sorgen, dass ich hier nicht lange herumstehen muss!« sagt sie. Auch wenn ihr Trauma schon lange zurückliegt, kämpfen die Betroffenen oft noch lange mit den Folgen. Wie eine Meute hungriger Wölfe erschienen auch der Hörfunkjournalistin Susanne Poelchau die Kollegen, die in Rudeln durch das Krankenhaus in Sharm-el-Sheik zogen, wo man Überlebende des Attentats vom 24. April 2006 im ägyptischen Dahab notdürftig versorgte. Susanne Poelchau ist eine der Überlebenden. Ihr Sohn überlebte nicht. Der zehnjährige Marcel starb durch Bomben splitter noch am Anschlagsort. Zusammen mit ihrem Kind ließ sie sich in das Krankenhaus bringen. Dort wurde sie ein zweites Mal zum Opfer gemacht. Journalisten bedrängten sie und filmten ohne ihr Wissen. Sie versprachen ihr Trinkwasser, ein Handy und den Kontakt zur Botschaft, vergaßen ihre Versprechen dann aber sehr schnell wieder.

Der Schreibprozess
Wer als verantwortungsvoller Journalist über traumatisierte Menschen berichtet, sollte sich beim Schreiben des Artikels bewusst machen, dass das Opfer den Text lesen wird. Und er sollte sich einmal die Fragen stellen: Wie sieht das Opfer sich in dem Spiegel, den ich ihm vorhalte? Vielleicht verzerrt? Die meisten Gewaltopfer, so eine aktuelle Studie der Universität Zürich, reagieren negativ auf die Medienberichterstattung über ihre Geschichte – selbst wenn sie die Darstellung als korrekt empfinden. Nachdem die Betroffenen einen Bericht über sie gelesen, gehört oder gesehen hatten, reagierten zwei Drittel traurig, die Hälfte erschrocken und ein Drittel wurde wütend. Je traumatisierter die Person war, desto negativer reagierte sie auch. Opfer, die die Berichte über sie als faktisch falsch einschätzten, zeigten negativere Reaktionen. Die Wissenschaftler gehen davon aus, dass die Berichterstattung eine erneute Erinnerung oder ein wiederholtes Durchleben der Situation auslöst. Professor Andreas Maercker, einer der Verfasser der Studie, hält es »aus psychologischer Sicht deshalb für nicht vertretbar, stark beeinträchtigte Opfer in die Medien zu bringen.« Durch die Medienberichte erhielten sie weder Unterstützung noch soziale Anerkennung. Im Gegenteil: Bis zu einem gewissen Grad könnten Opfer mit schwachem Wohl befinden durch die Medien wieder traumatisiert werden (Maercker 2006). Hörfunkjournalistin Susanne Poelchau, die das Attentat in Sharm-el-Sheik überlebte, relativiert dagegen Maerckers Ergebnisse. Nach vielen Berichten, die sie nicht beeinflussen konnte, tat es ihr gut, »gezielt einer befreundeten Journalistin ein langes Interview zu geben, aktiv zu entscheiden, was vorkommt und was nicht, zu beschließen, dass es mit einem Bild meines Sohnes erscheint und nicht – wie die Redakteurin vorschlug – mit einem Bild von seinem Grab«. Trotz früherer negativer Erfahrungen mit Kollegen findet sie, dass »guter journalistischer Umgang mit Traumatisierten stärkend wirken und den Betroffenen helfen kann, aus der Opferrolle herauszukommen und eine aktive Rolle zu übernehmen.«

Die Neugier ist noch nicht gestillt
Natascha Kampusch und ihren Beratern scheint es bisher gelungen zu sein, die aktive Rolle im Umgang mit den Medien zu übernehmen. Doch viele Fragen zu diesem weltweit einmaligen Fall sind noch unbeantwortet. Denn trotz ähnlicher Verbrechen ist der Fall Natascha Kampusch durch ihre Persönlichkeit und die Medienresonanz sehr speziell. Journalisten, Therapeuten und Mediziner würden lügen, wollten sie behaupten, ihre Neugier sei befriedigt. Bleibt zu hoffen, dass Journalisten Kampuschs Würde und auch die Würde nicht so prominenter Opfer in Zukunft ernstnehmen und sich ihnen gegenüber dementsprechend verhalten.

 

AUCH JOURNALISTEN KÖNNEN ZU TRAUMA-PATIENTEN WERDEN

Im August 2006 wurde der amerikanische Fotograf John McCusker nach einer Amokfahrt verhaftet. »Erschießt mich«, bat er die Polizisten. Seine Monate zuvor aufgenommenen Bilder vom Horror des »Katrina«-zerstörten New Orleans hatten ihm zwar den Pulitzer-Preis gebracht, doch sie ließen ihn nicht wieder los. Ein noch extremeres Beispiel für unerkannten psychischen Stress und seine Folgen ist der Augenzeugenbericht im britischen Guardian über die Ermordung eines chinesischen Dissidenten. Der Bericht erwies sich als falsch. Der mehrfach preisgekrönte Autor indessen war überzeugt, die Tat gesehen zu haben: Bilder aus seinem eigenen Kopf verstellten dem traumatisierten 24-Jährigen die Wahrnehmung. »Krieg und Gewalt nisten sich in uns ein«, schreibt auch Spiegel-Reporterin Carolin Emcke. Für Militär, Polizei, Feuerwehr und Sanitäter gibt es professionelle Unterstützung: Supervision. Aber auch Journalisten sind »first responders« – die ersten vor Ort in Kriegen, bei Tsunamis, dem Transrapid-Unglück oder dem Amoklauf am Gymnasium in Erfurt. Und für Lokalreporter gehört die Berichterstattung über Autounfälle, Kinderpornografie, Bankraub oder Selbstmorde zum Alltag. Reporter und Reporterinnen handeln zwar professionell, aber so manchem bleiben Bilder und Entsetzen unverarbeitet in der Seele stecken. Schlafstörungen, Depressionen, Beziehungsprobleme, zunehmender Alkoholkonsum nach belastenden Einsätzen sind ernstzunehmende Hinweise. Dies unter Kollegen zuzugeben, ist wohl immer noch ein Tabu. U.F.


Ulla Fröhling ist freie Journalistin und Soziologin in Hamburg.

Literaturhinweise:
Maerker, Andreas/Mehr, Astrid (2006): What if Victims Read a Newspaper Report About Their Victimization? A Study on the Relationship to PTSD Symptoms in Crime Victims. In: European Psychologist 2/2006, S. 137-142.

Pfeil, Ulrike (24.05.2006): Der plötzliche Tod nach glücklichen Tagen. In: Schwäbisches Tagblatt.

Bauer, Joachim (2005): Warum ich fühle, was du fühlst. Intuitive Kommunikation und das Geheimnis der Spiegelneurone. Hamburg: Hoffmann & Campe.

Emcke, Carolin (2004): Von den Kriegen – Briefe an Freunde, Frankfurt/ Main: Fischer.

Herman, Judith (2003): Die Narben der Gewalt – Traumatische Erlebnisse verstehen und überwinden. Paderborn: Junfermann Verlag.

Siebenthal von, Rolf (2003): Gute Geschäfte mit dem Tod – Wie die Medien mit den Opfern von Katastrophen umgehen. Basel: Opinio Verlag.

Teegen, F./Grotwinkel, M. (2001): Traumatische Erfahrungen und Posttraumatische Belastungsstörungen bei Journalisten. Internetbasierte Studie. In: Psychotherapeut 46/2001, S. 169-175.

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