FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Erfahrungsbericht / Jahrgang 2005

 

Erfahrungsbericht über die Rückführung unseres Pflegekindes

 

Im Februar 1988 nahmen wir den damals achtjährigen David S. in unsere Familie (bestehend aus drei eigenen und einem Pflegekind) als jüngstes Kind auf. Es handelte sich um eine 'Herausnahme' des Jugendamts. Das Kind wurde direkt aus dem Schulunterricht zu uns gebracht. Es lebte seit Jahren bei seiner Großmutter in einer Einraumwohnung. Es war der Mutter wegen deren fortgesetzten Alkoholmißbrauchs mit der Maßgabe entzogen worden, daß nach erfolgreicher Entziehungskur und nach langsamer Wiederannäherung ein erneutes Zusammenwohnen möglich wäre.

Um es vorweg zu nehmen: dieses Kriterium erfüllte die Mutter während der acht Jahre seines Lebens bei uns nie; sie versuchte es nicht einmal. Ihren Beruf als OP-Schwester konnte sie seit Jahren nicht mehr ausüben, und meines Wissens ist ihr bis heute keine Berufstätigkeit mehr gelungen.

Der Vater des Jungen, ein Arzt, war zum Zeitpunkt der Zeugung seit Jahren verheiratet und hatte drei eheliche Kinder. Er wanderte mit seiner Familie nach Kanada aus. Die Großmutter besuchte ihren Enkel regelmäßig bei uns und war froh, daß sich für ihn eine nach ihrer Meinung so günstige Lebenssituation gefunden hatte.

Wir wohnten zu dieser Zeit in einer eigenen großen Doppelhaushälfte in Frohnau, einem kleinen beschaulichen Ortsteil von Berlin-Reinickendorf. Jedes Kind hatte ein eigenes Zimmer. Die Schulsituation war geradezu ideal. Es gab kaum verhaltensauffällige Kinder, so daß es für die Klassenkameraden und Lehrer verkraftbar war, verhaltensgestörte Pflegekinder mitzutragen.

David entwickelte sich allmählich zu einem netten, allseits beliebten Kind, dem die Lernanforderungen der Schule keinerlei Probleme bereiteten. Allerdings verstärkte sich in zunehmendem Maße ein überaus störender Tic, der bald völlig von dem Kind Besitz ergriff. Die Diagnose 'unheilbares Tourette-Syndrom' erfolgte erst nach einer langen Odyssee durch die verschiedensten Arztpraxen. Die von ihm nicht zu kontrollierenden Lautierungen (Kolali) und körperlichen Zuckungen verlangten von allen Menschen seiner Umgebung viel Toleranz und eiserne Nerven.

David bekam eine Gymnasialempfehlung. Wir entschlossen uns wegen seiner Krankheit für eine Gesamtoberschule, in der wir die größere Geduld und mehr Verständnis erhofften, was sich im Großen und Ganzen auch bestätigte.

Dort machte er allerdings Bekanntschaft mit Drogen. Der gepflegte, lernwillige, ehrgeizige Junge, für den Abitur und nachfolgendes Studium selbstverständlich gewesen waren, der auch in der Wahl seiner Freunde wählerisch war, veränderte sich in wenigen Wochen dramatisch. Als wir ihm ins Gewissen redeten, seine Zukunft nicht mit Drogen zu gefährden, machte er uns mit seiner neuen Lebensphilosophie bekannt: er hätte jetzt erlebt, daß man auch ohne Beruf und ohne Arbeit durchs Leben kommen könne und das wäre nun sein neues Ziel.

Wir kämpften beharrlich gegen die dramatische Persönlichkeitsveränderung und die sich daraus ergebenden Folgen an: er mußte weiterhin morgens pünktlich aufstehen, er mußte duschen und saubere Kleidung anziehen, er mußte - mit Unterstützung von Nachhilfe - seine Hausaufgaben machen und Mahlzeiten einnehmen. Schon nach kurzer Zeit entzog er sich diesen Zumutungen, indem er nicht nach Hause kam und wir ihn mehrfach bei der Polizei als vermißt melden mußten.

Niemals in den knapp acht Jahren seiner Familienzugehörigkeit hatte er den Wunsch geäußert, seine Mutter zu sehen. Nun aber hatte er plötzlich ihren Wert für sich entdeckt. Mit sicherem Instinkt wußte er, daß sie zu schwach sein würde, ihm den nötigen Halt und Widerstand zu bieten. Deshalb entschied er sich für sie. Sie hatte in der Zwischenzeit keine der Auflagen des Jugendamtes erfüllt. Trotzdem wurde seinem Wunsch vom Jugendamt sofort nachgegeben: er durfte bei ihr und ihrem ebenfalls alkoholabhängigen Lebenspartner einziehen. Unsere Warnungen an das Jugendamt und an die Mutter halfen nicht. Sie war euphorisch und ohne jeden Bezug zu den Schwierigkeiten, die ein pubertierender verhaltensgestörter Jugendlicher in ihr Leben bringen würde. Relativ bald prügelte er sich mit ihrem Lebensgefährten und wurde hinausgeworfen.

Wir sind fest davon überzeugt, daß David in unserer Familie geblieben wäre, wenn die Möglichkeit, bei seiner Mutter unterzukriechen, vom Jugendamt mit der gebotenen Konsequenz verhindert worden wäre.

Das Jugendamt brachte ihn in einem betreuten Wohnprojekt unter. Die Schule hat er seit seinem Weggang von uns nur noch unregelmäßig besucht. Er rutschte in die Dealerszene ab und wurde straffällig. Er rief uns manchmal an, und so erfuhren wir, daß der Richter nach der Untersuchungshaft gnädig urteilte und ihn mit der Auflage entließ, ihn nicht mehr wiedersehen zu wollen.

Was uns an der Vorgehensweise des Jugendamtes bis heute beschäftigt, ist die leichtfertige Art, mit der die Zukunft der Kinder nicht nur gefährdet, sondern in eine Richtung gelenkt wird, die nur noch in seltensten Fällen korrigiert werden kann. Diese Leute verfügen doch über das Wissen, daß mit dem Herauslösen des pubertierenden Jugendlichen aus der Pflegefamilie dessen Schicksal entschieden ist. Sie hätten die Möglichkeit, dem Jugendlichen anhand vieler Beispiele aus ihrem reichen Erfahrungsschatz aufzuzeigen, wohin der vermeintliche Weg in die Freiheit führt. Wir haben zwei unserer drei Pflegekinder mit 16 Jahren an die Herkunftsfamilie verloren. Wir sind heute noch entsetzt, wie diese Vorgänge ohne erkennbare innere Anteilnahme und ohne Aufzeigen von Folgen in den Räumen der Jugendämter abgewickelt wurden. Die jahrelange Arbeit engagierter Pflegefamilien wird auf diese Weise ruiniert und somit das Schicksal der Pflegekinder im Handstreich besiegelt: sie werden zu Bürgern zweiter Klasse, wenn nicht gar zu Kriminellen.

Noch heute haben wir uns mit Davids traurigem Lebensschicksal nicht abfinden können. In den insgesamt 16 Jahren unserer Pflegeelternschaft wurden wir und unsere Pflegekinder, wie viele andere Pflegefamilien, in vorbildlicher Weise von Kurt und Gudrun Eberhard beraten und betreut. Es gab in den vielen Jahren bei fast allen immer mal wieder kritische Situationen und Momente, in denen diese beiden Menschen mit ihrem Einfühlungsvermögen und ihrer Sachkompetenz die Auflösung von Pflegeverhältnissen verhindern konnten. Wir würden uns wünschen, daß die Jugendämter das Ehepaar Eberhard nicht als Konkurrenz ansähen, wie in vielen Fällen geschehen, sondern als willkommene Mitstreiter zum Wohle der Kinder.

Karin und Armin Frommann (Juni 2005)

Zur Problematik der Rückführung von Pflegekindern (Voruntersuchung der Arbeitsgemeinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie und der Bundesarbeitsgemeinschaft für Kinder in Adoptiv- und Pflegefamilien, C. Malter)

 

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