FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Veröffentlichungen / sozialppädagogische Fabeln

 

Im Land der köstlichen Kirschen


Der junge Stieglitz kam zum alten Specht: „Meister Specht, erzähl mir von Deinen Geschichten!“ „Na gut“, sagte der Specht. „Willst Du eine Geschichte aus dem Land, wo die Kirschen runder als rund, roter als rot und süßer als süß sind?“

„Ist es eine wahre Geschichte?“

„Ich habe sie von meinem Großvater.“

„Warum hast Du Dir das Land nicht angeschaut?“

„Weil ich nicht weiß, wo das Land liegt, und weil ich hier Arbeit und Familie habe.“

Der junge Stieglitz hatte weder Arbeit noch Familie, und wenn er sie gehabt hätte, wäre seine Reiselust womöglich noch viel größer gewesen.

„Ich mag keine Geschichten, die nicht wahr sind“, sprach er und flog davon.

In der folgenden Nacht träumte er von dem Land mit den köstlichen Kirschen. Eine besonders saftige hing direkt über ihm, aber er kam mit seinem kurzen Schnabel nicht heran. Ärgerlich erwachte er, flog zum Bach und suchte Ananta, die Kreuzotter.

„He, Ananta, komm heraus, ich will wissen, ob es das Land gibt, in dem die Kirschen runder als rund, roter als rot und süßer als süß sind!“

Die Kreuzotter steckte den Kopf aus ihrem Erdloch und grinste:

„Und ob es das Land gibt, das Land gibt es sogar schon länger als alle anderen Länder! Dort, wo die Sonne im Frühling aufgeht, dort liegt Dein Traumland. Aber der Weg führt über das große Meer, ist weit und sehr gefährlich. Alle Vögel, die es bisher versucht haben, sind in das Meer gestürzt und ertrunken.“

„Woher kennst Du das Land?“ fragte der Stieglitz.

„Ich brauche nur die Augen zu schließen, dann bin ich schon dort!“

Der junge Stieglitz schloß die Augen, aber er sah nur schwarze Luft und hörte das leise Kichern der Kreuzotter, die schon wieder in ihrem Loch verschwunden war.

Am liebsten wäre er noch am selben Abend aufgebrochen, aber er dachte an die vielen ins Meer gestürzten Vögel und entschloß sich, vorab seine Flügel zu stärken. Herbst und Winter hindurch übte er täglich in Wind und Kälte, um endlich an einem klaren Frühlingsmorgen der Sonne entgegenzufliegen.

Nach sechs Wochen erreichte er das große Meer, ruhte sich noch einmal gründlich aus und flog am nächsten Morgen weiter. Er kam gut voran und spürte keine Müdigkeit. Als unser Abenteurer schon glaubte, das Glück sei endgültig auf seiner Seite, kam ein eiskalter Wind auf, der ihm Schnee und Hagel in die Federn trieb. Das Blut gefror ihm in den Adern, aber er flog unbeirrt weiter. Alsbald raste ein wilder Sturm heran, der ihn völlig aus der Richtung warf. Er aber gab noch immer nicht auf. Schließlich umtoste ihn ein reißender Orkan, der ihn packte und ins brodelnde Meer schleuderte. Er wehrte sich verzweifelt mit Flügeln und Füßen und sank doch immer tiefer. Sein Ende schien gekommen.

Das sah ein Delphin. Er fing den heftig strampelnden kleinen Vogel auf und schwamm mit ihm pfeilschnell durch die Weiten des großen Meeres bis an sein fernes Ende. In hohem Bogen spie er ihn in die Dünen des weißsandigen Ufers. Dort empfing ihn die strahlende Wärme der goldglänzenden Frühlingssonne. Flugs waren seine zerzausten Federn getrocknet, und neue Kräfte durchfluteten seinen erschöpften Körper.

Er schwang sich empor, überwand im Sturmflug drei steile Gebirgsketten, hinter denen sich ein wunderschönes Tal versteckte. Dort bot sich ihm der langersehnte Anblick: vor ihm lag ein großer Hain uralter üppiger Kirschbäume mit genau den herrlichen Früchten, von denen ihm Meister Specht erzählt und die er selbst im Traum gesehen hatte. Sie leuchteten roter als alles, was ihm vorher begegnet war. Als er endlich heran war, betastete er sie zärtlich mit zitternden Flügeln, und alle waren so kugelrund, wie er es nie für möglich gehalten hätte. Nun konnte er sich nicht mehr zurückhalten, biß gierig hinein und wahrhaftig - sie schmeckten süßer als das süßeste Süß. Er fraß und fraß, bis er erschöpft hinsank und in einen tiefen Schlaf fiel.



Als er am nächsten Tag wieder aufwachte, wollte er sich gleich wieder über die köstlichen Früchte hermachen, fühlte aber mit Entsetzen, daß er seinen Schnabel nicht mehr öffnen konnte. An jeder Seite seines Schnabels hatte sich eine Kirsche festgesetzt. Er schüttelte sich, er kratzte sich, er rieb sich an den Bäumen. Alles vergeblich - der süße Saft der Früchte hatte sich zu einem festen Leim verdickt und ließ nicht locker.

Da er keine feste Nahrung mehr zu sich nehmen konnte, blieb ihm nichts weiter übrig, als Wasser durch die Schnabelritze zu saugen. Am Anfang litt er furchtbaren Hunger und weinte viele Tränen über sein schreckliches Mißgeschick. Allmählich aber gewöhnte er sich daran, und schließlich fühlte er sich ohne Nahrungsuche, Essen und Verdauen sogar unbeschwerter und freier als je zuvor.

Allerdings hatte sein Federkleid die bunte Farbenpracht verloren, auf die er wie alle Stieglitze so stolz gewesen war. Er wurde grau, dann weiß, und schließlich war er so durchsichtig wie die drei Wassertropfen, die er täglich zu sich nahm. Seine Flügel waren noch etwas gewachsen, aber sein Leib war so zusammengeschrumpft, daß er eher einer ausgezehrten Libelle als einem Vogel glich. Gleichwohl gab er sich mit allem zufrieden, wurde vom Wind hoch über die Wolken gehoben und kehrte nie wieder auf die Erde zurück. Wenn er Durst hatte, senkte er seinen Flug in eine Wolke hinab, saugte ein Wassertröpfchen und ließ sich gleich wieder in die höchsten Höhen tragen.

Dort schwebt er noch heute nach dem Willen der Winde. Wenn Ihr einmal in einem Flugzeug über den Wolken fliegt, könnt Ihr ihn vielleicht entdecken. Man sieht allerdings nichts außer zwei winzigen dunklen Kügelchen; das sind die beiden eingetrockneten Kirschen, die einst runder als rund, roter als rot und süßer als süß waren und denen unser Vogel soviel Freud und Leid zu verdanken hat, daß er beides nicht mehr auseinanderhalten kann.

aus „Fabeln statt Pillen“ von Kurt Eberhard und Istrid Hohmeyer

 

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