FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Veröffentlichungen / sozialppädagogische Fabeln

 

Tim und Tom auf dem Schulweg
 

Vorbemerkung: Da Pflegeeltern besonders verantwortungsfreudig sind - sonst wären sie es nicht geworden - , neigen sie zu intensiver Hilfe in schulischen Angelegenheiten, ohne zu bedenken, daß sie als Makler oder gar Anwalt der schulischen Interessen nicht gleichzeitig die Hoffnungen des Kindes auf eindeutige Parteinahme zu seinen Gunsten erfüllen können. Hinzu kommt, daß die schulischen Anforderungen nicht gut zu den heilpädagogischen Anforderungen der traumatisierten Pflegekinder passen. Weil die Darstellung unserer einschlägigen Erfahrungen und Forschungen und ihrer theoretischen Hintergründe sehr kompliziert wäre und weil wissenschaftlichen Darstellungen immer der Geruch dogmatischer Wahrheitsansprüche anhaftet, versuche ich es lieber mit einer Fabel.
Kurt Eberhard (Dez. 2003)


Tim und Tom wurden als Zwillinge geboren. Ihre Eltern waren sehr jung und hatten selbst nie eine glückliche Familie erlebt. Sie reagierten auf die Zwillinge erst hocherfreut, dann aber hilflos, immer öfter wütend und schließlich sogar böse und feindselig.

Das merkten ihre Nachbarn, wagten jedoch lange nicht, es weiterzutragen. Als aber das Wimmern der Zwillinge immer kläglicher zu ihnen herüberdrang, erzählten sie davon dem Pfarrer und der dem Bürgermeister.

Diese grübelten gründlich hin und her und beschlossen, die Gemeindeschwester hinzuschicken, daß sie nach dem Rechten sehe. Sie ging hin, sah aber nichts Rechtes, sondern zwei Knaben in jämmerlichem Zustand. Daraufhin erhielt sie vom Pfarrer und vom Bürgermeister den Auftrag, sich regelmäßig um die Familie zu kümmern.

Das tat sie unter Einsatz ihres ganzen Diensteifers. Aber nach jahrelangen Bemühungen mußte sie sich und dem Pfarrer eingestehen, daß sie von den Kindern und auch von den Eltern zwar immer freundlich begrüßt worden sei, sich aber sonst nur wenig geändert habe. Im Gegenteil, die blauen Flecke hätten an Zahl und Größe zugenommen. Allerdings seien beide Jungen überhaupt nicht mehr wehleidig und hätten sich noch nie über ihre Eltern beklagt, seien ihnen gegenüber sogar besonders anhänglich. Ansonsten hätten sie ihre frühere Schüchternheit völlig abgelegt und seien nun die am meisten respektierten Kinder in der Nachbarschaft.

Dem Pfarrer wurde bei dieser Geschichte unbehaglich, und er ließ sich in regelmäßigen Abständen berichten. Als er erkennen mußte, daß alles immer schlimmer wurde, fragte er die fromme Frau seines Küsters , ob sie ein bemitleidenswertes aber sehr braves Zwillingspaar bei sich aufnehmen könnte. So nachdrücklich gebeten, sagte jene zu, gab aber wegen ihrer engen Räume den Tom zur Schwägerin ins Nachbardorf und behielt den Tim. Dem Pfarrer war es recht, noch mehr dem Bürgermeister, und die Eltern waren erleichtert, daß ihre Zustimmung als Beweis ihrer pflichtbewußten Verantwortlichkeit gewertet wurde. Nicht einverstanden war die emsige Gemeindeschwester, fand aber schnell ein neues Betätigungssfeld.

Die Küstersfrau war nicht nur fromm, sondern auch sehr auf eine erfolgreiche Zukunft für Tim bedacht. Deshalb achtete sie besonders darauf, daß dieser jeden Morgen pünktlich die Schule aufsuchte und sorgfältig seine Hausarbeiten anfertigte. Tim aber war längst nicht so brav, wie er vom Pfarrer angekündigt war und wehrte sich mal heftig mal heimlich gegen derlei Zumutungen. Seine Pflegemutter beriet sich immer wieder mit der Lehrerin, mit dem Pfarrer, sogar mit dem Landarzt und folgte gelehrig den vielen guten Ratschlägen. Mit viel Ermahnungen, Belohnungen und zuweilen auch mit Strafen schaffte sie es allmählich, daß Tim seine Schulpflichten, wenn auch unter ständigem Murren, einigermaßen erfüllte und eines Tages das allseits ersehnte Abschlußzeugnis nach Hause brachte.

Ganz anders bei Tom. Seine Pflegemutter hatte ihn sehr lieb, war aber im Ganzen etwas leichtlebig und ihr Verhältnis zur Schule aus eigenem Erleben ziemlich gestört. Sie half ihrem Tom bei den Schularbeiten nur, wenn er sie darum dringend bat. Das tat er zwar auf herzerweichende Art, jedoch viel zu selten.

Die Lehrerin wies ihn auf den Ernst des Lebens, auf die späteren Berufsanforderungen und auf den fleißigen Tim hin. Alles vergebens. Auch ihre eindringlichen Gespräche mit der Mutter blieben ohne die erhoffte Wirkung, weil diese froh war, die Schule hinter sich zu haben und sich nicht erneut damit beschäftigen wollte.

Es kam, wie es kommen mußte. Tom blieb mehr als einmal sitzen und verließ die Schule ohne gehörigen Abschluß. Ihm war es recht, denn auf seinem letzten Zeugnis prangte in Sport eine stolze Eins.

Tim hatte indessen eine Schlosserlehre angetreten. Er kam regelmäßig und pünktlich in die Werkstatt. Wie immer gehorchte er, wenn auch etwas unwillig und vor allen Dingen sehr lustlos. Den anderen Lehrlingen war er fremd, und die Gesellen scheuchten ihn, wenn seine Bewegungen wie so oft bis zur Reglosigkeit erlahmten. Das machte die Sache nur noch schlimmer. Er verlor sogar seine Pünktlichkeit und fehlte immer häufiger wegen mancherlei Kränklichkeiten. Nach einigen freundlichen und immer öfter auch unfreundlichen Ermahnungen des Meisters blieb er ganz weg. Niemand weinte ihm eine Träne nach.

Davon hörte Tom und lief vergnügt in die Schlosserei mit dem Ansinnen, die Lücke zu füllen, die sein Bruder hinterlassen hatte. Dort wurde er ausgelacht, weil er sich erdreistete, ohne Schulabschluß eine Schlosserlehre beginnen zu wollen. „Ich habe schon immer gerne herumbebastelt“ entgegnete er „laßt es mich versuchen, und wenn Ihr nicht zufrieden seid, dann schickt mich ohne Lohn wieder nach Haus!“ Der Meister erinnerte sich an seine eigene Jugend: „Nun gut, eine Lehrstelle darf ich Dir nicht geben, aber Du kannst als Helfer bleiben, und dann wollen wir weiter sehen.“ Tom blieb, half den anderen, so gut er konnte und war bald wegen seiner Arbeitslust und seines freundlichen Wesens sehr beliebt.

Nach ungefähr einem Jahr wollte er doch auch eine Lehre beginnen. Der Meister lachte nur: „Du mit Deinen jämmerlichen Künsten im Lesen, Schreiben und Rechnen? Schlag Dir das aus dem Kopf!“ Tom aber hatte einen eigensinnigen Kopf, aus dem sich nichts so leicht herausschlagen ließ. So ging er zu einem der Gesellen und bettelte: „Du kannst lesen, schreiben und rechnen, bitte, bitte, bring es mir bei!“ Weil der Geselle ihn mochte, sagte er ohne viel Nachdenken zu, und weil er gewöhnt war, seine Versprechen zu halten, quälte er sich viele Nachhilfestunden mit dem gänzlich ungebildeten Tom herum, bis dieser fast so lese- schreib- und rechenkundig war wie Tim am Ende seiner Schulzeit.

Toms Lehre dauerte ziemlich lange, aber inzwischen ist er ein tüchtiger Geselle, und seine Freundin glaubt zuversichtlich, daß er eines Tages jemand findet, der ihm gerne hilft, auch noch Meister zu werden. Dann könnte er vielleicht sogar seinem Bruder Tim eine späte Chance bieten.

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