FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Veröffentlichungen / sozialppädagogische Fabeln

 

Der sehr verliebte Schmetterling


Aus dem Land der Sümpfe und Moore war ein schmucker blauer Schmetterling herübergeflogen und hatte sich gleich am ersten Morgen in eine wunderschöne Lilie von hohem Wuchs und strahlend weißer Blütenfarbe verliebt. Im Fluge gewann er ihre Gunst. Am Abend desselben Tages sah er eine dunkelrote Rose, die ihn mit ihren süßen Düften betörte. Er verliebte sich auch in sie, und sie öffnete sich ihm im Mondlicht der heraufziehenden Nacht. In den folgenden Tagen flog er jeden Morgen zur weißen Lilie und jeden Abend zur roten Rose. In vollen Zügen genoß er sein doppeltes Liebesleben. Aber je schöner die Liebe wurde, desto mehr wünschte die Lilie den Schmetterling sich auch am Abend und die Rose ihn auch am Morgen. Beide beweinten und beklagten ihr Schicksal. Ihre Köpfe hingen herunter und ihre Blätter fingen an zu welken.

Verwirrt und hilflos verließ der Schmetterling die Gegend und flog in das Land, aus dem er gekommen. Dort ließ er sich in eine Schilfinsel fallen und schlief erschöpft ein. Im Traum sah er die weiße Lilie von Osten her gen Himmel schweben und vom Westen flog die rote Rose ebenfalls empor. Hoch oben fanden und umschlangen sie sich. Ihr fröhliches Lachen drang bis zu ihm herunter. Das lachen wurde immer mehr zum Locken. Ohne seine Flügel zu bewegen, glitt er hinauf zu ihnen. Selig verschmolzen alle drei im warmen Licht der Mittagssonne. Nach dem Aufwachen hielt der blaue Schmetterling eine Weile die Augen geschlossen, um sich die Erinnerung an das Erlebte fest einzuprägen. Dann machte er sich auf den Weg zurück zu seinen Geliebten, um ihnen von seinem Traum zu erzählen. Als er am Morgen des dritten Tages die weiße Lilie erreicht hatte, sah er voll Entsetzen, daß bereits ein anderer Schmetterling, ein anmutiger Zitronenfalter, auf ihrem Blütenkelch Platz genommen hatte und innige Zärtlichkeiten mit ihr austauschte.

 

„Was ist los?“ empörte sich der blaue Schmetterling. „Ist die Liebe mit dem Zitronenfalter besser als mit mir?“ „Sie ist genauso gut, überdies hat er versprochen, mir allzeit treu zu sein“, antwortete die weiße Lilie. Ganz verstört flatterte der blaue Schmetterling zur roten Rose und fand sie im feurigen Liebesspiel mit einem prächtigen Schwalbenschwanz. „Was tust Du?“ fuhr der blaue Schmetterling dazwischen. „Ist die Liebe mit dem Schwalbenschwanz schöner als mit mir?“ „Sie ist genauso schön, obendrein hat er mir ewige Treue geschworen!“ Verbittert zog sich der blaue Schmetterling auf einen abgebrannten Baumstumpf zurück und beschloß zu sterben.

Binnen kurzem kam der Zitronenfalter des Weges und fragte ihn höflich nach dem Befinden. „Ich will sterben,“ seufzte der blaue Schmetterling, „aber vorher habe ich noch eine Frage an Dich - sei ehrlich, verliebst Du Dich nicht zuweilen in fremde Blumen?“ „Immerzu und gerne“, bekannte ohne Zögern der Zitronenfalter. „Und warum hast Du Dich zur Treue bekannt?“ „Ich bin treu, weil ich denken kann. Wenn ich eine statt zwei Blumen liebe, verzichte ich höchstens auf die Hälfte meines Liebeslebens. Die von mir geliebte Blume aber verlöre, wenn ich diesen Verzicht nicht aufbrächte, ihr ganzes Liebesleben, denn wenn ich mich bei der zweiten aufhielte, hätte sie keine Liebe, weil sie keinen anderen Schmetterling nebenher begehrt, und wenn ich endlich zu ihr zurückkäme, könnte sie nicht vergessen, daß ich bei der anderen war und irgendwann zu ihr zurückfliegen würde. Unter solchen Umständen würde sie bald verwelken. Ich kenne keine Blumen, bei denen das anders wäre, und kein Mittel, es ihnen abzugewöhnen. Kennst Du eines?“ „Natürlich nicht, sonst säße ich nicht hier und wollte sterben.“ „Siehst Du“, lachte der Zitronenfalter und flog davon.

Als der blaue Schmetterling noch über diese Worte nachdachte, kam auch der Schwalbenschwanz vorbeigesegelt. „Halt,“ rief der blaue Schmetterling, „bevor ich sterbe, mußt Du mir noch eine Frage beantworten: verliebst Du Dich nie in andere Blumen?“ „Immer wieder, ich kann nicht anders“, antwortete etwas verlegen der Schwalbenschwanz. „Wieso hast Du dennoch ewige Treue geschworen?“ „Ich bin treu, weil ich fühlen kann. Wenn ich meine geliebte Blume verließe, um zu einer anderen zu fliegen, täte ihr Leid mir so weh, daß mir gar nichts anderes übrig bliebe, als wieder umzukehren.“ Mit diesen Worten segelte der Schwalbenschwanz weiter und ließ einen sehr nachdenklichen blauen Schmetterling zurück.

„Ich kann doch auch denken und fühlen“, grübelte er. „Aber ich kann auch träumen!“ setzte er trotzig hinzu. Weit öffnete er seine Flügel und rief hinauf zu den Sternen: „Auf in das Land, wo die Blumen fliegen können und einander so lieb haben, daß sie beisammen bleiben, wenn sie einen Schmetterling empfangen.“ Statt zu sterben, machte er sich auf die Reise. Niemand weiß, ob er das Land seiner Träume je erreicht hat.

aus „Fabeln statt Pillen“ von Kurt Eberhard und Istrid Hohmeyer

 

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