FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Rezension / Jahrgang 2004

 


Klaus Grawe

Neuropsychotherapie

Verlag Hogrefe, 2004

(509 Seiten, 40 Euro)


Über seine Motivation und Aufgabenstellung schreibt Prof. Dr. Klaus Grawe, der prominenteste deutsche Psychotherapieforscher, im Vorwort:
"Vorerst klafft eine große Lücke zwischen der Welt der Neurowissenschaft und der der Psychotherapie. Für Psychotherapeuten ist es auf Anhieb nicht einfach, neurowissenschaftliche Arbeiten mit ihrem spezifischen Fachjargon zu lesen, und nur ausnahmsweise verfügen sie über eine so genaue Kenntnis des Gehirns, dass sie die berichteten Befunde in einen Gesamtzusammenhang einordnen könnten. Neurowissenschaftler auf der anderen Seite haben, wenn sie sich überhaupt über eine therapeutische Anwendung ihrer Erkenntnisse Gedanken machen, in der Regel eine antiquierte Vorstellung von der Psychotherapie, die mit dem aktuellen Erkenntnisstand der Psychotherapieforschung und den heutigen Möglichkeiten der Psychotherapie nicht viel gemein hat. Es hat mich deshalb gereizt, eine Brücke zwischen diesen beiden Welten zu schlagen. Die ersten drei Kapitel dieses Buches informieren Psychotherapeuten, die sich dafür interessieren, in verständlicher Weise über psychotherapierelevante Erkenntnisse der Neurowissenschaften. In diesen Kapiteln stelle ich noch keinen Bezug zu unserer eigenen Forschungstätigkeit zu psychischen Störungen und zur Wirkungsweise von Psychotherapie her. Die Kapitel 4 und 5 sind dagegen konzeptionelle Kapitel. In Kapitel 4 entwerfe ich ein Bild von der Entstehung psychischer Störungen und in Kapitel 5 eine Konzeption der Wirkungsweise von Psychotherapie. In beide Kapitel sind nicht nur viele neurowissenschaftliche Befunde eingeflossen, sondern auch Ergebnisse unserer eigenen Forschungsarbeit. Diese war, wie ich oben bereits erwähnte, in den letzten Jahren von konsistenztheoretischen Annahmen geleitet." (S. 12)

In der Einleitung erläutert er diese Zielsetzung:
"Neurowissenschaftler und Psychotherapeuten leben in weit voneinander entfernten Welten. Erst seit kurzem beginnen sie, sich füreinander zu interessieren. Etwas, was sie eigentlich natürlicherweise miteinander verbinden könnte, ist ihr gemeinsames Interesse an psychischen Störungen. Das Interesse der Neurowissenschaftler daran ist vor allem durch die Entdeckung der funktionalen Bedeutung des Neurotransmitterstoffwechsels für psychische Störungen intensiviert worden. Das hat aber zunächst eher eine Brücke zur biologisch orientierten Psychiatrie geschlagen als zur Psychotherapie, zumal die Psychiater ihrerseits alle ihre Hoffnungen auf die medikamentöse Therapie zu setzen begannen. Psychotherapie war in der Psychiatrie erst einmal "out", allenfalls etwas für Psychologen. Die vereinfachende Vorstellung, dass psychische Störungen zum größten Teil vererbt seien, tat dazu das ihre.
Dann aber entdeckten die Neurowissenschaften die enorme Plastizität des Gehirns durch Umwelteinflüsse. Es wurde immer klarer, dass der genetische Anteil am Zustandekommen manifester psychischer Störungen viel geringer ist als eine Zeit lang angenommen und dass individuelle Lebenserfahrungen über die Genexpression eine weit größere Rolle spielen. Es zeigte sich auch, dass Plastizität in beide Richtungen gleichermaßen besteht, in krankheitsfördernde und Schädigungen wieder beseitigende oder kompensierende Richtung (s. Kapitel 2). Seitdem enden neurowissenschaftliche Schriften immer öfter mit Spekulationen über Möglichkeiten, psychotherapeutisch gezielt auf neuronale Strukturen und Prozesse einzuwirken oder darüber, wie die Psychotherapie sich unter dem Einfluss der Neurowissenschaft weiterentwickeln könnte." (S. 23)

Ein ausführliches und tiefgegliedertes Inhaltsverzeichnis macht die voluminöse wissenschaftliche Arbeit transparent. Hier nur die Hauptüberschriften:

1. Einleitung
2. Was Psychotherapeuten über das Gehirn wissen sollten
3. Neuronale Korrelate psychischer Störungen
4. Bedürfnisbefriedigung und psychische Gesundheit
5. Schlußfolgerungen für die Psychotherapie
6. Resümee und Ausblick

Für das  2. Kapitel werden viele Leser sehr dankbar sein, weil es eine mit vielen Abbildungen angereicherte Darstellung des Gehirns und seiner Arbeitsweise ist, beginnend bei den einzelnen Neuronen bis hin zu übergreifenden Schaltkreisen, die für Gedächtnis, Musikempfinden, Verliebtheit, Angst, Intentionen, Bewußtsein und Willensentscheidungen verantwortlich sind. Wie auch in den anderen Kapiteln wird in gesonderten Einschüben immer wieder die praktische Relevanz für die Psychotherapie demonstriert.

Wir gehen gleich zum 3. Kapitel über, in dem die Neurologie psychischer Störungen (Depression, Posttraumatische Belastungsstörung, Generalisierte Angststörung, Panikstörung, Zwangsstörung) präsentiert wird. Für uns sind die Ausführungen zur Posttraumatischen Belastungsstörung besonders interessant:
"Es wird inzwischen durch mehrere Untersuchungen bestätigt, dass sexueller und physischer Missbrauch in der Kindheit zu einer Volumenverringerung des Hippocampus führen kann (z. B. Stein, Koverola, Hanna, Torchia & McClarty, 1997). Man ist sich auf Grund der angeführten Befundlage bis vor kurzem ziemlich sicher gewesen, dass die festgestellten Schädigungen des Hippocampus bei PTSD-Patienten wie bei Depressiven auf einen zeitweise oder dauerhaft zu hohen Cortisolspiegel zurückzuführen sind (Bremner, 1999a; 2001; Heim et al., 2000). Die Bedeutung von frühkindlichen Stresserfahrungen für die spätere Ausbildung psychischer Störungen gilt jedoch nicht nur für die PTSD und für die Depression, sondern für psychische Störungen allgemein. .... Frühkindlich erlittene traumatische Erfahrungen prädisponieren generell zur späteren Herausbildung psychischer Störungen. Personengruppen mit einer solchen Vorgeschichte haben oft mehrere psychische Störungen, die dann mehr im Vordergrund des Beschwerdebildes stehen können als die Kriterien für eine PTSD, die ebenfalls erfüllt sind." (S. 159)

"Die neurowissenschaftlichen Untersuchungen zur PTSD sind über ihren Beitrag zum spezifischen Verständnis dieser Störung auch aufschlussreich für die Pathogenese psychischer Störungen ganz allgemein. Bei den untersuchten PTSD-Stichproben wurde jeweils eine massive Komorbidität festgestellt. Fast alle untersuchten Patienten hatten eine oder sehr oft sogar mehrere andere klinische Störungen. Das gilt besonders für Patienten, die nach dem Kriterium von Missbrauchserfahrungen in der Kindheit ausgewählt worden waren. Diese massive Komorbidität spricht eine klare Sprache: Traumatisierende, d. h. unkontrollierbaren Stress verursachende Lebenserfahrungen spielen für die Entwicklung psychischer Störungen, und zwar auch anderer Störungen als der PTSD selbst, eine ganz zentrale Rolle. Bei anderen Störungen ist die Quelle des unkontrollierbaren Stresses oft viel weniger offensichtlich als bei der PTSD. Am Beispiel der PTSD können wir besonders gut sehen: es ist nicht das schlimme Ereignis an sich, das zu einer Störung führt. Wenn wir von extremen Traumata wie schlimmster Folter oder Zuschauen müssen, wie Familienangehörige grausam getötet werden, einmal absehen - bei diesen Erfahrungen entwickeln bis zu 50% eine PTSD - dann reagieren auf dasselbe katastrophale Ereignis, wie etwa auf den Zusammenbruch des World Trade Centers, zwischen 7 und 15% der davon Betroffenen mit einer PTSD. Etwa 8 bis 9 von 10 Personen werden damit fertig, ohne eine Störung zu entwickeln. Es sind also zum überwiegenden Teil Personenmerkmale, die darüber entscheiden, ob sich eine PTSD entwickelt oder nicht. Die Begriffe Trauma, traumatisch, traumatisierend und Stress müssen deshalb sehr sorgfältig verwendet werden. Ein schlimmes Ereignis wird in der Regel nur für eine Minderzahl der davon Betroffenen zu einem Trauma, indem es eine nicht abklingende neuronal-physiologische Stressreaktion mit dauerhaften schädlichen Folgen auslöst." (S.164/165)

Nach gründlichen Erwägungen entscheidet sich der Autor im 4. Kapitel für folgende Kategorisierung der menschlichen Grundbedürfnisse: Bindungsbedürfnis, Bedürfnis nach Orientierung und Kontrolle, Bedürfnis nach Selbstwerterhöhung und Selbstwertschutz, Bedürfnis nach Lustgewinn und Unlustvermeidung. Dauerhaft ausbleibende Befriedigung dieser Bedürfnisse gefährdet die seelische Gesundheit. Eine besonders hohe, geradezu fundamentale Bedeutung mißt er dem Bindungsbedürfnis zu. Grawes neuropsychologische Grundlegung der Bindungstheorie ist, für sich genommen, bereits eine Meisterleistung von hoher wissenschaftshistorischer Bedeutung.
"Das Bindungsbedürfnis gehört sicher zu den Grundbedürfnissen des Menschen. Aber der Mensch teilt dieses Grundbedürfnis mit anderen sozial lebenden Tieren. Es liegen inzwischen Untersuchungen zu vielen Tierarten vor, am besten untersucht sind Rhesusaffen. Die Untersuchungen zeigen, dass auch für diese Tiere das Bindungsbedürfnis ein Grundbedürfnis darstellt, dessen Nichtbefriedigung schwerwiegende Schäden verursacht. Die neurobiologischen Untersuchungen werfen ein ganz neues Licht auf das Bindungsbedürfnis auch beim Menschen. Sie lassen Bowlbys Konzeption fast in einem anthropomorphistischen Licht dastehen. Das Bindungsbedürfnis ist in der Neurobiologie und Physiologie des Menschen viel tiefer verankert, als die an Menschen dazu durchgeführten Untersuchungen ahnen ließen. Ich werde deshalb auf die Untersuchungen an Tieren etwas ausführlicher eingehen. Sie machen erst verständlich, wieso ungünstige Bindungserfahrungen so verheerende Auswirkungen auf die psychische Gesundheit haben." (S. 195)

"Wenn man alle Befunde zusammennimmt, über die ich zuvor berichtet habe, kann man keinen vemünftigen Zweifel daran haben, dass es Verletzungen des Bindungsbedürfnisses sind, die schließlich über viele weitere Schritte zu psychischen Störungen führen, und nicht umgekehrt die Störungen es sind, die zum unsicheren Bindungsstil führen. Ein unsicherer Bindungsstil ist nach den hier insgesamt berichteten Befunden zum Bindungsbedürfnis als der größte Risikofaktor für die Ausbildung einer psychischen Störung anzusehen, den wir bis heute kennen. Mir ist kein einziges Merkmal aus der gesamten ätiologischen Forschung zu psychischen Störungen bekannt, für das eine auch nur annähemd so hohe prognostische Bedeutung gefunden wurde wie für unsichere Bindungsmuster." (S. 216)

"Nach den zuvor berichteten Ergebnissen ist davon auszugehen, dass acht bis neun von zehn Psychotherapiepatienten neben ihrer im Vordergrund stehenden Störung auch ein unsicheres Bindungsmuster haben, das sich in all den eben aufgeführten zusätzlich vorhandenen Problemen manifestieren kann. Diese zusätzlich vorhandenen Probleme werden sich von Patient zu Patient unterscheiden. Sie können daher nicht alle in einem störungsspezifischen Manual berücksichtigt werden. Wenn sich die Therapie eng auf die Behandlung der Störung beschränkt, bleiben die zusätzlich vorhandenen Inkonsistenzquellen unbehandelt und stellen einen bleibenden Nährboden für die Entwicklung psychischer Störungen dar. Sie können sogar den Behandlungserfolg überhaupt verhindern, wenn die behandelte Störung weiterhin eine Funktion zur Herabregulierung von Inkonsistenz hat oder wenn der Patient für die Behandlung schlecht motiviert ist, weil sich das Behandlungsziel zu wenig mit seinen eigenen Anliegen deckt." (S. 217)

Der übergreifende Rahmen ist Grawes Konsistenztheorie, in der die Begriffe der Inkongruenz und Inkonsistenz (Unvereinbarkeit gleichzeitig ablaufender psychischer Prozesse) eine zentrale Rolle spielen.
"Wenn die Fernhaltung bedrohlicher oder inkongruenter Wahrnehmungen aus dem Bewusstsein nicht nur vorübergehend ist, um einen besonders wichtigen bewussten Plan zu schützen, sondern wenn das "Verdrängen" bedrohlicher Signale, d. h. die Hemmung des Zugangs solcher Wahrnehmungen, Erinnerungen und Gedanken zum Arbeitsspeicher habituell wird, kommt es zu einer Dissoziation der im expliziten und impliziten Funktionsmodus ablaufenden Prozesse. Jetzt wird aus dem kurzfristigen Vorteil der Konsistenzsicherung ein langfristiger Nachteil. Weil keine bewusste Auseinandersetzung mit den unbewusst als bedrohlich bewerteten Situationen stattfindet, behalten sie ihren bedrohlichen Charakter und wirken weiter im impliziten Funktionsmodus auf das Nervensystem ein. Die Vorgänge im expliziten und impliziten Funktionsmodus sind nicht mehr aufeinander abgestimmt, sie dissoziieren. Es findet als Folge keine cortikale Hemmung der Angst statt und durch die dauernde Überaktivierung des Angstschaltkreises kann es mit der Zeit zu solchen Fehlregulationen kommen, wie wir sie in Kapitel 3 als neuronale Korrelate der Generalisierten Angststörung, der Panikstörung und der Zwangsstörung kennengelernt hatten. Die neuronalen Modelle zu allen drei Störungsbildern sehen eine Dysregulation negativer Emotionen als zentralen Bestandteil der Störung an und sehen als Hauptursache dafür das Fehlen einer vom orbitofrontalen Cortex ausgehenden Hemmung. Wegen der engen Kommunikation im PFC müsste an einer solchen Hemmung der Arbeitsspeicher beteiligt sein. Wenn dieser jedoch überhaupt nicht informiert darüber ist, dass es da etwas gibt, um das er sich dringlich kümmern sollte, können von ihm keine hemmenden Signale ausgehen." (S. 315)

Zur Bedeutung frühkindlicher Lebenserfahrungen heißt es:
"Es gibt eben auch Kinder, die schwer vernachlässigt und regelrecht misshandelt oder missbraucht werden. Solche Kinder haben auch bei guten Erbanlagen fast keine Chance, dem soeben beschriebenen negativen Entwicklungsprozess zu entgehen. Sie entwickeln nach Carlson et al. (1989) zu 80 % einen unsicheren Bindungsstil und zwar oft der desorganisierten Art. Sie sind für ihre weitere Entwicklung aufs Schwerste gehandicapt und werden später mit größter Wahrscheinlichkeit schwerwiegende psychische Störungen entwickeln.
     Es sind ja, wie vorher bereits angedeutet, nicht nur die neuronalen Strukturen für negative Emotionen und Vermeidungsschemata, die sich während dieser Zeit entwickeln, sondern es sind auch grundlegende Regulationsprozesse im neurophysiologischen System, die sich während dieser Zeit etablieren. Schwer misshandelte Kinder erleben andauernd unkontrollierbare Inkongruenz. Solche Erfahrungen sind regelmäßig von der Ausschüttung von Stresshormonen begleitet. Normalerweise spielen sich sehr früh in der Entwicklung negative Rückkopplungsmechanismen ein, welche die Ausschüttung von Glucocorticoiden drosseln, wenn sie einen zu hohen Level erreichen. Das Gehirn schützt sich mit dieser negativen Rückkopplung vor den Schädigungen, die es durch einen dauerhaft zu hohen Cortisolspiegel erfährt. Zu diesen Schädigungen gehört insbesondere eine Schrumpfung des Hippocampus, die seine Funktionsfähigkeit beeinträchtigt. Neben der Bildung expliziter Gedächtnisinhalte ist seine wichtigste Funktion die Verortung allen Geschehens in Raum und Zeit. Ohne eine gut funktionierende Verortung emotionaler Reaktionen in Raum und Zeit treten sie nicht nur auf in solchen Situationen, in denen sie angemessen sind, sondern es kommt immer wieder zu überschießenden emotionalen Reaktionen und Stressreaktionen auch in Situationen, die objektiv nicht gefährlich sind, wie es etwa bei Angststörungen der Fall ist.
     Bei andauernder unkontrollierbarer Inkongruenz kommt es also zusätzlich zu den anderen bereits aufgeführten negativen Effekten zu einer Sensitisierung für Stress. Misshandelte Kinder, die solche andauernde, von ihnen nicht kontrollierbare Inkongruenz erleben, reagieren schließlich schon auf relativ geringe Belastungen mit einer überschießenden Stressreaktion, die viel länger als normal anhält. Diese Überempfindlichkeit gegenüber Stress bleibt lebenslang bestehen. Heim et al. (2000) haben bei erwachsenen Frauen, die als Kinder missbraucht worden waren, eine immer noch um das Sechsfache erhöhte Stressreaktion auf eine mittlere soziale Belastung im Vergleich zu Frauen ohne Missbrauchserfahrungen gefunden. Bezeichnenderweise hatten viele dieser Frauen eine Depression entwickelt. Der geschrumpfte Hippocampus, den wir bei Depressiven regelmäßig vorfinden, gibt Zeugnis von dieser Vorgeschichte der Depression. Es müssen aber nicht immer schwerwiegende Misshandlungen sein, die eine geringe Stresstoleranz nach sich ziehen. Gunnar et al. ( 1996) fanden bei ängstlich gehemmten zweijährigen Kindern, also solchen mit einem Vermeidungstemperament, eine stärkere Cortisolreaktion nach einer psychischen Belastungssituation, wenn sie unsicher als wenn sie sicher gebunden waren. Die Bindungserfahrungen, die ein Säugling und Kleinkind macht, schlagen sich also direkt nieder in einer besseren oder schlechteren Stresstoleranz. Auch Kinder mit einem Vermeidungstemperament haben nach zwei Jahren eine bessere Stresstoleranz, wenn sie positive Bindungserfahrungen gemacht haben." (S. 354/355)

Im letzten Kapitel distanziert er sich noch einmal von den Dogmen der herkömmlichen Therapieschulen:
"Was geblieben ist und sich eher noch verstärkt hat, ist meine Überzeugung, dass die Konzepte der herkömmlichen Therapieschulen heute keine angemessene Grundlage mehr für die Psychotherapie darstellen. Ich vermisse nichts, seitdem ich aufgehört habe, in ihnen zu denken. Es sind inzwischen sowohl in der Psychologie als auch in der Neurowissenschaft Grundlagen erarbeitet worden, die einen völligen Verzicht auf diese Konzepte möglich machen bzw. sogar nahe legen. Auch der Ergebnisstand der Psychotherapieforschung lässt sich wesentlich besser auf dem Hintergrund dieser neueren Grundlagen interpretieren als auf der Basis der Therapieschulkonzepte. Auch von dieser Seite wird die Brauchbarkeit dieser Konzepte massiv in Frage gestellt." (S. 443)

Bilanzierende Bewertung:
Klaus Grawe hat sein Versprechen, Grundlagenpsychologie, Neurowissenschaft und Psychotherapieforschung im Rahmen seiner Konsistenztheorie zu integrieren, voll erfüllt. Das konnte nur glücken, weil er sich lange vorher aus der Enge psychotherapeutischer Schulen, auch aus der Schule der Verhaltenstherapie befreit hatte und deshalb nicht in der Gefahr steht, die neuropsychologische Forschung zur Legitimation orthodoxer Lehrmeinungen zu mißbrauchen. Weit über sein selbstgesetztes Arbeitsziel hinaus ist ihm ein brillantes Lehrbuch der Psychologie - incl. Neuropsychologie, Motivationspsychologie, Entwicklungspsychologie, Psychopathologie, pädagogischer und therapeutischer Psychologie - gelungen, das allen Lesern großen Gewinn bringen wird, die sich für die gesunden und gestörten psychischen Funktionen sowie deren Heilung interessieren und die in der Schule einen soliden Biologieunterricht genossen haben.

Eigentlich habe ich nur eine Schwäche entdeckt: Grawes notorische Allergie gegen die Psychoanalyse, von der eine undogmatische Neuropsychotherapie doch ebenso profitieren könnte wie jene von dieser (vgl. z.B. Streeck-Fischer: Adoleszenz und Trauma,  Streeck-Fischer, Sachsse, Özkan: Körper, Seele, Trauma und Solms: Das Gehirn und die innere Welt).

Kurt Eberhard  (Nov. 2004)

 

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