FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Rezension / Jahrgang 2006

 


B. Blanz, H. Remschmidt,
M. H. Schmidt, A. Warnke

Psychische Störungen
im Kindes- und Jugendalter

Ein entwicklungs-
psychopathologisches Lehrbuch

Schattauer, 2006
(566 Seiten, 99 Euro)


Die vier Autoren gehören zu den prominentesten Experten der deutschen Kinder- und Jugendpsychiatrie:

Prof. Dr. med. Bernhard Blanz
Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Friedrich-Schiller-Universität Jena

Prof. Dr. med. Dr. phil. Helmut Remschmidt
Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie, Philipps-Universität Marburg

Prof. Dr. med. Dr. rer. nat. Martin H. Schmidt
Zentralinstitut für Seelische Gesundheit Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg

Prof. Dr. med. Dipl.-Psych. Andreas Warnke
Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie,
Julius-Maximilians-Universität Würzburg

Die entwicklungorientierte Konzeption des umfangreichen und doch sehr übersichtlichen Werkes wird in der Einleitung dargestellt und überzeugend begründet:
»Biologisch, neuropsychologisch und sozialpsychologisch orientierte Forschung ist für ihre Arbeit auf eine gute Phänomenologie psychischer Auffälligkeiten angewiesen (Kupfer et al. 2002). Dazu sagt eine verlaufsorientierte Betrachtung mehr als eine symptomorientierte. Erstere bezieht außerdem therapeutische Aspekte insoweit ein, als sie die Beeinflussbarkeit oder Nichtbeeinflussbarkeit von Störungen durch bestimmte Interventionen zum Verlaufskriterium machen kann. Sie orientiert sich also an mindestens drei der häufig genannten vier Bestimmungsstücke für die Abgrenzung von Störungen gegeneinander, nämlich an Symptommuster, Verlauf und Behandlungseffekt...
     In der beschriebenen Situation haben Remschmidt und Schmidt (2000) Überlegungen zur Klassifikation psychischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen vorgestellt, die sich an deren Verlauf und dem daraus abgeleiteten Interventionsbedarf orientieren. .....
     Der Klassifikationsvorschlag, an dem sich die Gliederung dieses Buchs orientiert, unterscheidet folgende Gruppierungen:

  • Entwicklungsvarianten und Belastungsreaktionen (Abschnitt II)
  • Früh beginnende Störungen mit überdauernder Entwicklungsbeeinträchtigung (Abschnitt III)
  • Reifungsabhängige (passagere) Störungen (Abschnitt IV)
  • Altersspezifisch beginnende Störungen (Abschnitt V)
  • Entwicklungsabhängige Interaktionsstörungen (Abschnitt VI)
  • Früh beginnende erwachsenentypische Störungen (Abschnitt VII)

Drei allgemeine Abschnitte (VIII bis X) zu übergreifenden Fragen entwicklungsorientierter Diagnostik sowie Therapie und Sekundärprävention und zu Epidemiologie, Pathogenese und Primärprävention schließen den Band ab.« (S. 4)

Da die Darstellung der Störungen immer nach dem gleichen Muster vorgenommen wurde, soll hier eine - für unsere Leser besonders interessante - herausgegriffen werden: die Reaktive Bindungsstörung im Kindesalter.
Das Kapitel beginnt mit der Fallvignette eines 12-jährigen Jungen, der nach einer sehr deprivierenden Vorgeschichte und wiederholten Beziehungsabbrüchen durch erhebliche Bindungsstörungen mit depressiver und dissozialer Symptomatik auffiel.
Danach folgt mit Bezug auf die diagnostischen Leitlinien der ICD-10 das Klinische Bild der Reaktiven Bindungsstörung und die Entwicklungspsychopathologie:
»Die Reaktive Bindungsstörung des Kindesalters ist eine anhaltende Störung der sozialen Beziehungen und der Emotionalität, die sich in den ersten fünf Lebensjahren ausbildet. Die Störung der sozialen Beziehungen äußert sich in stark widersprüchlichen und ambivalenten sozialen Reaktionen und geringen sozialen Kontakten mit Gleichaltrigen. Bei Zuwendung können die Kinder das Gesicht oder den Blick abwenden und bei Zuspruch gleichgültig oder ablehnend sein. Sie ziehen sich sozial zurück und kapseln sich ab. Manche sind gegen sich und andere aggressiv. Das Kind ist grundsätzlich fähig, mit Erwachsenen sozial zu interagieren, es ist auch ansprechbar, die Qualität des Bindungsverhaltens ist jedoch gestört. Die begleitende emotionale Störung äußert sich durch Apathie, Unglücklichsein, Übervorsichtigkeit und Furchtsamkeit und eine mangelnde emotionale Ansprechbarkeit. Soziales Spielen ist durch negatives emotionales Reagieren beeinträchtigt. Die Bindungsstörung ist meist Ausdruck von erheblicher elterlicher Vernachlässigung, schwerem Kindesmissbrauch oder schwerer Kindesmisshandlung. Die Störung kann durch den Wechsel in ein entwicklungsförderndes Milieu gemildert oder behoben werden.« (S. 297)

Aus den Erklärungs- und Präventionsansätzen entnehmen wir folgende Passagen:
»Biologische Ursachen für Bindungsstörungen spielen insofern eine Rolle, als Veranlagungen des Kindes wie schwieriges Temperament oder körperliche Eigenschaften (z.B. Fehlbildungen) das Risiko sozialer Ablehnung erhöhen, denn das unangemessene soziale Interagieren eines Kindes mit schwierigem Temperament erschwert den Bezugspersonen eine positive stabile Bindung zum Kind.
     Der Begriff der Reaktiven Bindungsstörung beinhaltet die Erklärung, dass die Symptomatik reaktiv zu pathogenen Umwelteinflüssen entstanden ist. Misshandlung, elterliche Deprivation, unangepasste elterliche Umgangsweisen sowie Mangel an positiver emotionaler elterlicher Zuwendung und institutionalisierte Erziehung sind mit Reaktiver Bindungsstörung korreliert.« (S. 298)
An dieser Stelle wäre ein Hinweis auf die Ergebnisse neuropsychologischer Traumaforschung nützlich gewesen.

»Die Prävention kann sich auf Ergebnisse der Forschung zu protektiven Faktoren stützen. Primär-präventiv sind beim Kind Temperamentseigenschaften, die bei Bezugspersonen Gefühle von Sympathie und eine positive Zuwendung auslösen. .....
Schützende Faktoren der Familie sind:

  • die enge Bindung zumindest einer Bezugsperson, die zugleich kompetent und stabil ist und auf die Bedürfnisse des Kindes eingeht
  • mütterliche Schulbildung und ihre Kompetenz im Umgang mit dem Kind
  • die Anwesenheit von Großeltern (vor allen einer Großmutter)
  • die Anwesenheit von älteren Geschwistern und Bekannten (Ersatzeltern)
  • sinngebende religiöse Überzeugungen

Von besonders langfristiger protektiver Bedeutung sind Gesundheitszustand und Temperamentseigenschaften des Kindes sowie die erzieherisch-pflegerischen Kompetenzen der Mutter während der Säuglings- und Kleinkindzeit.« (S. 298)

Es folgt ein Abschnitt zur Diagnostik und Differenzialdiagnostik. Aus den daran anschließenden Ausführungen zu den Interventionen soll nochmals kurz zitiert werden:
»Die Intervention kann ambulant und teilstationär so lange erfolgen, solange das Wohl des Kindes beim Verbleib in der Familie nicht akut gefährdet ist und die Eltern befähigt werden können, das Bindungsverhalten des Kindes wahrzunehmen und zu fördern. Sind diese Voraussetzungen nicht gegeben, ist eine stationäre Maßnahme notwendig. Einer vorübergehenden stationären kinderpsychiatrischen Behandlung schließen sich oft eine stationäre Jugendhilfemaßnahme oder die Vermittlung in eine Pflegefamilie und selten zur Adoption an.
     Die Behandlung der Bindungsentwicklung des Kindes ist auf die Sicherung bindungsfördernder sozialer Interaktionen ausgerichtet. Ein erstes Ziel ist die Sicherung einer stabilen, pflegerisch und erzieherisch angemessen handelnden Bezugsperson in einem entwicklungsfördernden und stimulierenden Lebensumfeld. Aufgabe der Bezugsperson ist es, Ansätze adäquaten kindlichen Bindungsverhaltens wahrzunehmen und zu bestärken.« (S. 299)

Das Kapitel endet schließlich mit rechtlichen und ethischen Hinweisen und mit weiterführender Literatur.

Über alle Kapitel hinweg gelangen wir zur folgenden bilanzierenden Bewertung:
Die großen Vorteile des imposanten Werkes – die gut begründete entwicklungsorientierte Konzeption, die nosologische Vollständigkeit, die konsequente Lehrbuchsystematik, die einheitliche Gliederung der Störungskapitel und die klare, graphisch angenehm unterstützte Didaktik – waren nur möglich, durch die enge Zusammenarbeit von wenigen, gut aufeinander eingespielten Autoren. Der dadurch notwendige Verzicht auf Spezialisten führte freilich an einigen Stellen zu fachlichen Schwächen, die aber mit Hilfe der weiterführenden Literaturhinweise leicht ausgeglichen werden können. Insgesamt handelt es sich um ein Lehr- und Handbuch, das Studierenden und Praktikern der Kinder- und Jugendpsychiatrie sehr empfohlen werden kann.

Kurt Eberhard  (März, 2006)

 

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