FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Rezension / Jahrgang 2006

 




Joachim Bauer

Das Gedächtnis des Körpers

Wie Beziehungen und Lebensstile
unsere Gene steuern

Piper-Verlag,  2005, 5. (erweiterte) Ausgabe
(271 Seiten, 9.95 Euro)
 


Prof. Dr. Joachim Bauer ist Internist, Psychiater und Facharzt für Psychotherapeutische Medizin in der Abteilung für Psychosomatische Medizin am Universitätsklinikum Freiburg.
Der Klappentext benennt kurz das Anliegen seines Buches:
»Gene steuern nicht nur, sie werden auch gesteuert - durch Signale, welche vom Gehirn ausgesandt werden, als Folge von zwischenmenschlichen Beziehungen, Umwelteinflüssen und individuellen Erfahrungen. Welche Konsequenzen sich daraus ergeben und was dies mit Blick auf körperliche und seelische Erkrankungen bedeutet, das zeigt der Mediziner Joachim Bauer - verständlich und pointiert.«

Einen weiteren Überblick über das Programm bietet das Inhaltsverzeichnis:

1. Das Zusammenspiel von Genen und Umwelt: Wie aus einem Konzertflügel Musik wird

2. Alltagssituationen und die Biologie des Körpers: Die Rolle der zwischenmenschlichen
   Beziehung

3. Gene sind keine Autisten

4. Wie Gene auf Stress reagieren

5. Die Entwicklung der individuellen Stressreaktion: Die biologischen Folgen biografischer
   Erfahrungen

6. Synapsen, Nervenzell-Netzwerke, Lebensstile und zwischenmenschliche Beziehungen

7. Subjektive Erlebnismuster im Netzwerk Seele: Persönlichkeits-"Typen" im Alltag

8. Umwelt und Neurobiologie am Beispiel einer Erkrankung: Die Depression

9. Körperliche Risiken von Stress und Depression: Auswirkungen auf Herzkrankheiten,
   Herzinfarkt und Herztod

10. Körperliche Risiken von Stress und Depression: Immunabwehr und Tumorrisiko

11. "Blindflug" von Arzt und Patient? Was an der Behandlung mit Psychopharmaka zu
     kritisieren ist

12. Schmerzerfahrungen und Schmerzgedächtnis: Chronische Schmerzkrankheiten ohne
     Befund

13. Effekte von Traumen auf Gene und Strukturen des Gehirns: Die posttraumatische
     Belastungsstörung

14. Seelische und neurobiologische Folgen von Gewalt und Missbrauch bei Kindern

15. Körperliche Spuren bei Problemen am Arbeitsplatz: Das Burnout-Syndrom

16. Psychotherapie: Ihre Auswirkungen auf die Seele und auf neurobiologische Strukturen

17. Die Welt der Gene: Wie sie wirklich funktionieren

Literatur

 

Einige Textproben sollen einen Eindruck über Inhalt und Stil des Buches vermitteln:

Unter der Zwischenüberschrift Sichere Bindungen des Kindes: Streßdämpfer mit Langzeitfolgen berichtet der Autor:
»Wie zahlreiche Beobachtungen zeigen, ist die Anwesenheit und Fürsorge der Mutter oder einer anderen konstanten Bezugsperson für die CRH-Stressachse des Säuglings das beste "Beruhigungsmittel" (als 'Stressachse' bezeichnet man das System von Hypothalamus, Hypophyse und Nebennierenrinde, welches das CRH anschaltet und zur Produktion des Stresshormons Cortisol führt). Die Trennung von der Mutter nach der Geburt stellt für Jungtiere einen außerordentlich starken biologischen Stressor dar, der zu einer anhaltenden Sensibilisierung des Stresssystems führt. Stressforscher von der Stanford University fanden bei Menschenaffen, die sie früh nach der Geburt von ihren Artgenossen isoliert hatten, in einer Nachuntersuchung nach drei Jahren eine - im Vergleich zu normal aufgezogenen Jungen - massiv erhöhte Reaktion der CRH-gesteuerten Stressachse, wenn die Tiere unter Stress standen. Nicht nur die biologischen Stresswerte waren gesteigert, die Tiere verhielten sich auch allgemein ängstlicher.
     Frühe Erfahrungen des Kindes, insbesondere die Bindung zur Mutter, haben also biologische Langzeitfolgen: Sie regulieren beziehungsweise justieren die Empfindlichkeit des neurobiologischen Stresssystems bis in die Erwachsenenzeit. Die Rolle der Mutter kann auch durch eine andere, konstante und liebevolle Bezugsperson eingenommen werden.
     Wie Untersuchungen von Stressforschern an den Universitäten Minneapolis und Madison bei Kindern zeigten, hat die Sicherheit der Bindung des Kindes zur Mutter einen entscheidenden Einfluss auf kindliche Stressgene. Kleinkinder mit einer beeinträchtigten Bindung zur Mutter hatten - im Vergleich zu Kindern mit sicherer Bindung - in Stresssituationen deutlich erhöhte Konzentrationen des Stresshormons Cortisol.« (S. 46/47)

Einige sehr wichtige Anmerkungen zur Verschreibungspraxis beim Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom (ADS):
»Für die Therapie des ADS-Syndroms stehen wirksame nichtmedikamentöse Behandlungsverfahren zur Verfügung (z.B. Kinderpsychotherapie, Integrative Bewegungstherapie oder heilpädagogische Behandlungen), wie sie kürzlich z.B. von dem in Heidelberg tätigen Experten Helmut Bonney beschrieben wurden. Seit einigen Jahren ist aufgrund einer Reihe von Untersuchungen bekannt, dass sich die hypermotorische Unruhe bei Kindern und Jugendlichen mit ADS-Syndrom durch das Medikament Methylphenidat beziehungsweise Ritalin bessern lässt. (Methylphenidat wird auch unter den Markennamen Medikinet, Atomoxetin und Concerta verkauft.) In Studien wurde nachgewiesen, dass Ritalin, das chemisch zur Substanzgruppe der Amphetamine gehört, die hypermotorische Unruhe und den Aufmerksamkeitsmangel bessern kann - allerdings nur bei einem Teil der Kinder und nur zu einem gewissen Grad. Die bei diesen Kindern regelmäßig vorhandenen Kontaktstörungen und Auffälligkeiten im sozialen Verhalten bessern sich jedoch nicht, wie das Forscherpaar Shaywitz von der Yale University bei einer Zusammenfassung der diesbezüglichen Daten kürzlich feststellte. Methylphenidat beziehungsweise Ritalin kann erhebliche Nebenwirkungen wie z.B. Schlafstörungen und Magenbeschwerden mit sich bringen. Als besonders schwere Nebenwirkung von Ritalin wurde das Auftreten von Ticks (unwillkürliche, zuckende stereotype Bewegungen) beschrieben.
     Methylphenidat beziehungsweise Ritalin sollte, wenn überhaupt, nur zusammen mit Psychotherapie verordnet werden. Der renommierte Pharmakologe Ernst Mutschier schreibt in seinem Standardwerk Arzneimittelwirkungen über die Ritalin-Therapie zu Recht: "Wegen der Gefahr einer ungünstigen psychischen Entwicklung der Kinder ist eine gleichzeitige intensive Psychotherapie erforderlich." Tatsächlich hat sich bei Ritalin in den letzten Jahren jedoch eine geradezu unverantwortliche Verschreibungspraxis entwickelt. Dieser Missstand ist so gravierend, dass im Deutschen Ärzteblatt in letzter Zeit mehrfach darauf hingewiesen wurde. .....
     Auch zahlreiche quirlige, normal aktive Kinder, die gar nicht an ADS leiden, erhalten das Medikament ohne vorherige ausreichende Diagnostik verschrieben. Tatsächlich an ADS leidende Kinder bekommen die Substanz, statt von Kinderärzten oder Kinderpsychiatern, massenhaft von Nichtfachleuten (z.B. von Hausärzten) verschrieben und erhalten in unverantwortlicher Weise keinerlei zusätzliche nichtmedikamentöse (psychotherapeutische) Behandlung.« (S. 141/142)

Bei falsch oder gar nicht behandelten posttraumatischen Belastungsstörungen komme es nicht nur zu psychophysiologischen Störungen, sondern sogar zu anatomischen Substanzverlusten:
»Kommt es zu keiner frühzeitigen Therapie (bei vielen Patienten wird die Diagnose leider nicht einmal erkannt), so kann dies bei der posttraumatischen Belastungsstörung zusätzliche neurobiologische Spätfolgen nach sich ziehen: Bei einem Teil der Personen mit posttraumatischer Erkrankung kommt es im Verlauf der Jahre zu einem Untergang von Nervenzellen und einer Substanzverminderung (Degeneration) in Hirnregionen, die eine entscheidende Funktion für die Gedächtnisfunktion haben (Amygdala und Hippocampus). Dies wurde durch mehrere Arbeitsgruppen, unter anderem durch Murray Stein aus San Diego und Douglas Bremner an der Yale University, gezeigt.« (S. 173/174)

Vernachlässigungs-, Mißhandlungs- und Mißbrauchserfahrungen im Kindesalter führen zu besonders gravierenden Schädigungen des Gehirns:
»Traumatisierungen im Kindesalter hinterlassen, wie Martin Teichert von der Harvard Universität feststellte, messbare Funktionsstörungen im Bereich des limbischen Systems (des Zentrums für emotionale Intelligenz). Douglas Bremner von der Yale Universität fand bei betroffenen Patienten darüber hinaus Gedächtnisstörungen. Auf lange Sicht können die neuro- biologischen Folgen einer Misshandlungs- oder Missbrauchserfahrung offenbar bis auf die Grobstrukturen des Gehirns durchschlagen. Murray Stein von der Universität von Manitoba verglich die Kernspintomographie-Aufnahmen des Gehirns von Frauen mit kindlicher Missbrauchserfahrung mit den Aufnahmen anderer Frauen (gleichen Alters und gleicher Ausbildung). Frauen mit kindlicher Missbrauchserfahrung wiesen ein um fünf Prozent vermindertes Volumen der für die Gedächtnisbildung wichtigen Hirnstrukturen auf (interessanterweise korrelierte bei den betroffenen Frauen das Ausmaß der Volumenminderung mit dem Ausmaß an dissoziativen Symptomen).« (S. 194)

Von der Beeinflußbarkeit des Gehirns durch zwischenmenschliche Beziehungen profitiert andererseits die Psychotherapie, und auch deren tiefgreifende Wirkungen kann mit bildgebenden Verfahren sichtbar gemacht werden:
»Wie Arthur Brody und Lewis Baxter von der University of California in Los Angeles mit der PET [Positronen-Emissions-Tomographie] beobachteten, hatten sich im Zustand der Depression sichtbare Veränderungen der Hirnaktivität im Bereich des Gyros cinguli (und in einigen weiteren Bereichen) zurückgebildet, wenn die Patienten eine erfolgreiche Psychotherapie durchlaufen hatten (die dabei angewandte Psychotherapiemethode war ein aus der Tiefenpsychologie weiterentwickeltes Verfahren namens IPT [Interpersonelle Therapie]). Eine vergleichbare Beobachtung gelang dem Engländer Stephen Martin mit der SPECT -Methode [Single-Photonen-Emissions-Computertomographie]. Die durch Psychotherapie veranlasste, mittels PET und SPECT sichtbar gemachte Normalisierung des Gehirnstoffwechsels entsprach der Normalisierung, die bei einer Vergleichsgruppe von Patienten unter alleiniger Medikamententherapie erzielt worden war.« (S. 217)

Die zitierten Textproben dokumentieren Bauers strenge Orientierung an empirischen Untersuchungen, seine eindrucksvolle Fähigkeit, biologische und psychologische Sichtweisen zu integrieren, den Durchblick des erfahrenen Psychotherapeuten und schließlich seinen klaren, sehr verständlichen Schreibstil. Die hohe, zuweilen zu hohe Redundanz des Textes ermöglicht die herausgreifende Lektüre einzelner Kapitel, sogar das lustvolle Lesen von hinten nach vorne.

Kurt Eberhard  (April, 2006)  

 

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