FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Rezension / Jahrgang 2006

 



U. Rüth, S. Pankofer, F.J. Freisleder

Geschlossene Unterbringung
im Spannungsfeld
von Kinder- und Jugendpsychiatrie
und Jugendhilfe

W.-Zuckschwerdt-Verlag, München, 2006

(192 Seiten, 24.50 Euro)

 

Herausgeber:

Dr. med. Franz Joseph Freisleder, Ärztlicher Direktor der Heckscher-Klinik des Bezirks Oberbayern, München
Prof. Dr. Sabine Pankofer, Kath. Stiftungsfachhochschule München
Dr. med. Ulrich Rüth, Heckscher-Klinik des Bezirks Oberbayern, München

Die Aufgabenstellung ihres Sammelbandes wird in der Einführung dargelegt:
»Für eine geschlossene Unterbringung Minderjähriger kommen einerseits im Rahmen der Jugendhilfe entsprechend konzipierte Heimeinrichtungen und andererseits kinder- und jugendpsychiatrische Stationen in Frage. Beide sind bislang in eher geringer Anzahl vorhanden. Die zeitweilig von weiten Kreisen vertretene Meinung, auf geschlossene pädagogische Institutionen ganz verzichten zu können, hat sich als Trugschluss erwiesen, da es offensichtlich einen kleinen, aber zahlenmäßig nicht zu unterschätzenden Personenkreis von Jugendlichen mit zum Teil schwer ausgeprägter dissozialer Problematik gibt, der zumindest vorübergehend, quasi als "ultima ratio", einer Betreuung und Führung in einem geschlossen geführten Erziehungs- und Behandlungssetting bedarf. Im Kontext der Jugendhilfe haben sich in letzter Zeit speziell auch kurzfristige Aufenthalte in geschlossen konzipierten Clearingstellen als hilfreich erwiesen und auch für die betroffenen Jugendlichen bewährt. .....
     Im vorliegenden Band äußern sich Autorinnen und Autoren, die alle professionell mit pädagogisch schwer erreichbaren bzw. psychisch kranken Jugendlichen befasst sind, in zehn Beiträgen aus unterschiedlichen Blickrichtungen zur Problematik der geschlossenen Unterbringung. Sie sind das Ergebnis eines interessanten und fruchtbaren Dialogs, der im Rahmen eines interdisziplinären Symposiums – veranstaltet von der Heckscher-Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie des Bezirks Oberbayern und der Katholischen Stiftungsfachhochschule München im April 2005 – stattfand. Vor dem Hinter- grund der historischen Entwicklung werden daher aus kinder- und jugendpsychiatrischer, sozialpädagogischer, psychologischer und juristischer Perspektive Indikationsstellung, Verfahrenswege sowie Möglichkeiten und Grenzen dieser besonderen Betreuungs- bzw. Behandlungsform diskutiert. Hinterfragt werden in diesem Zusammenhang auch notwendige Wege der Kooperation und Vernetzung verschiedener Institutionen und Fachlichkeiten. Dargestellt werden aber ebenso Alternativstrategien zur geschlossenen Unterbringung von Jugendlichen und Planungskonzepte, die sich an eine entsprechende Maßnahme anschließen können.«

Als Autoren haben mitgewirkt:
Prof. Gunter Adams, Evangelische Kinder- und Jugendhilfe, Würzburg
Dr. med. Frank Beer, Heckscher-Klinik des Bezirks Oberbayern, München
Silvia Fischer, Familienrichterin am Amtsgericht München
Martina Fritz, Einrichtung Niefernburg, Niefern-Öschelbronn
Sabrina Hoops, Deutsches Jugendinstitut, München
Michael Köhler, Stadtjugendamt München
Prof. Dr. phil. Christian von Wolffersdorff, Erziehungswiss. Fakultät der Univ.Leipzig

Inhaltsverzeichnis:

Geschlossene Unterbringung und Kinder- und Jugendpsychiatrie
Ulrich Rüth:
Die geschlossene Unterbringung in der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Abgrenzung zur geschlossenen Unterbringung in der Jugendhilfe
Frank Beer & Ulrich Rüth:
Psychopharmakotherapie besonders schwieriger Kinder und Jugendlicher in der Jugendhilfe

Verfahrenswege aus interdisziplinärer Sicht
Silvia Fischer:
Verfahrenswege und Verfahrensrealitäten freiheitsentziehender Maßnahmen bei Minderjährigen aus gerichtlicher Sicht.
Ulrich Rüth:
Indikationen zur geschlossenen Unterbringung in der Jugendhilfe aus Sicht des jugendpsychiatrischen Gutachters.
Sabrina Hoops:
Zum Problem der Indikationsstellungen und der Verfahrensweisen bei Unterbringungen nach § 1631 b BGB im Rahmen von Jugendhilfe

Freiheitsentziehende Maßnahmen in der Jugendhilfe
Sabine Pankofer:
Spannungsfelder der geschlossenen Unterbringung und des Freiheitsentzugs im Kontext der Jugendhilfe - Kritische Reflexionen.
Martina Fritz:
Die geschlossene Unterbringung in der konkreten Umsetzung am Beispiel der Mädcheneinrichtung Niefernburg
Gunter Adams:
Clearingstellen in Bayern – ein neues Angebot der mittelfristigen freiheitsentziehenden Jugendhilfe
Michael Köhler:
Alternativen zur geschlossenen Unterbringung im Kontext der Hilfen zur Erziehung aus Sicht eines Jugendamtes

Ausblick
Christian von Wolffersdorff: Freiheitsentziehung – eine Maßnahme mit Zukunft?

Anhang
Gesetzliche Grundlagen einer geschlossenen Unterbringung von Minderjährigen
Praktisches Vorgehen für eine geschlossene Klinikaufnahme
Praktisches Vorgehen zur Begutachtung
Literatur
Stichwortverzeichnis

Statt der bei diesem Thema früher üblichen ideologischen Polemik wird in allen Beiträgen sehr sachlich über die Möglichkeiten und Grenzen der geschlossenen Unterbringung – oder wie man heute sagt der Freiheitsentziehenden Maßnahmen – informiert, insbesondere aus der Praxis in Bayern, weil sie dort am weitesten entwickelt ist und z.T. auch von solchen nichtbayerischen Jugendämtern genutzt wird, die sich nach außen von der geschlossenen Unterbringung demonstrativ distanzieren.

Der Verzicht auf Polemik führt aber nicht zum Verzicht auf kritische Reflexion. Herausragend hierzu sind die Artikel von Sabine Pankofer und Christian von Wolffersdorf, die sich beide schon viele Jahre mit dem Thema beschäftigen und mit vielzitierten einschlägigen Publikationen hervorgetreten sind.
»Ein besonders schwieriges Spannungsfeld ist die Frage nach den Indikationen. Dabei ist zwischen psychiatrischen und psychosozialen Indikationen zu unterscheiden. Psychiatrische Indikationen zeigen eine größere Klarheit durch ein eindeutigeres Klassifikationssystem auf (vgl. Beitrag Rüth). Dagegen stehen psychosoziale Indikationen, die durch eine hohe Komplexität gekennzeichnet sind. Entgegen der Position, dass auch die Jugendhilfe über eindeutige Indikationen für geschlossene Unterbringung bzw. freiheitsentziehende Maßnahmen verfügt (vgl. Stadler 2005), erscheinen mir die faktisch genannten Indikationen für Einweisungen (vgl. Beitrag Hoops) weiterhin als sehr unklar – ja, sie müssen fast unklar bleiben, um der Heterogenität des Klientels gerecht zu werden. Darüber hinaus weisen diese KlientInnen sehr komplexe Hintergründe und Problemlagen auf. Eine geschlossene Unterbringung verweist demnach immer auch auf langjährige soziale und/oder ökonomische Probleme in den Herkunftsfamilien, schwierige Erziehungsprozesse, Gewalt in den ver- schiedensten Formen und eine Kette unglücklicher Abläufe. Soziale Faktoren werden dabei häufig zu Persönlichkeitseigenschaften, auch um den massiven Eingriff 'Freiheitsentzug' zu legitimieren. Das zentrale Kriterium des 'permanenten' Weglaufens kann demnach auch als höchst berechtigte Überlebensstrategie von Kindern und Jugendlichen verstanden werden. Auch hier verweist die Frage, ob geschlossene Unterbringung oder nicht, eigentlich auf vielfältige Problemlagen.
     Die grundsätzliche Frage, ob und für wen geschlossene Unterbringung / freiheitsentziehende Maßnahmen tatsächlich die richtige Maßnahme ist / war, zeigt sich meines Erachtens meist erst nach mehreren Wochen, ganz im Sinne eines 'Versuchs und Irrtums'. Dann wiederum besteht eine große Problematik darin, die 'falsch' untergebrachten Kinder und Jugendlichen wieder in andere Jugendhilfeeinrichtungen zu vermitteln, da sie bereits stigmatisiert sind und sich auch dementsprechend verhalten müssen. Die Schwierigkeit, eine passende Anschlussmaßnahme an den Aufenthalt im geschlossenen Heim (oder auch aus der Kinder- und Jugendpsychiatrie) zu finden, ist überhaupt groß.
   Auffällig ist auch, dass die Indikationen, je nachdem, ob geschlossene Unterbringung anvisiert ist oder nicht, quasi variabel angepasst werden können und auch müssen: Um einen richterlichen Beschluss zu bekommen, müssen schwerwiegende Gründe benannt werden, die eine freiheitsentziehende Maßnahme legitimieren. Gleichzeitig fragen aber Jugendämter für die gleichen Kinder und Jugendlichen auch in anderen, offenen Einrichtungen nach, dafür dürfen die Indikationen nicht so schwerwiegend sein, damit diese die Jugendlichen überhaupt noch nehmen. Betrachtet man die Anfragepraxis der Jugendämter, zeigt sich, dass es hoch zufällig ist, ob ein Kind oder Jugendlicher geschlossen untergebracht wird – und das ist kein Hinweis auf eine wirklich klare Indikation.« (Pankofer, S. 93/94)

Noch grundsätzlicher fällt die kritische Reflexion bei Wolffersdorf aus:
»Zugleich erwiesen sich aber die Diagnosekriterien, auf deren Grundlage die dazu erforderlichen Entscheidungen zu treffen waren, in der Jugendhilfepraxis gelinde gesagt als schwach entwickelt. Wie diese Gruppe von Jugendlichen von anderen Fallkonstellationen mit hinreichender Sicherheit zu unterscheiden ist und ob es jenseits der geläufigen Steigerungsrhetorik von 'schwierigen', 'besonders schwierigen' und 'schwierigsten' Fällen so etwas wie eine Indikation für die geschlossene Unterbringung gibt, gehört bis heute zu den umstrittensten Aspekten der Diskussion (vgl. Beiträge Rüth und Hoops im gleichen Band) –wohl auch deswegen, weil diese Diskussion eine uralte historische Hypothek der Jugendhilfe zum Vorschein bringt. Denn schließlich gab es den Topos des 'schwieriger werdenden Jugendlichen' in der sozialpädagogischen Diskussion schon immer. Wir finden ihn bereits um 1912 beim Hamburger Pfarrer Clemens Schulz mit seinen Tiraden über die so genannten Halbstarken, in den seit den zwanziger Jahren geführten Debatten über die Grenzen der Erziehung bis hin zu den pädagogischen Diskussionen der sechziger Jahre, als in der Figur des 'besonders Belasteten' nicht selten schon wieder die in der repressiven Fürsorgetradition wurzelnde Vorstellung von erziehungsunfähigen bzw. nicht erziehbaren Jugendlichen mitschwang. Dies sollte bedacht werden, bevor man zur Kennzeichnung heutiger Probleme im Umgang mit jungen Menschen am Rande sozialer Ausgrenzung auf eine pädagogische Begrifflichkeit zurückgreift, von der sich die Profession zu Recht schon einmal verabschiedet hatte. Was Hans Thiersch in einem kürzlich erschienen Beitrag zur 'Begriffspolitik in der Krise der Sozialen Arbeit« schrieb und am Beispiel des Lebensweltkonzepts konkretisierte, gilt im übertragenen Sinne auch für die hier diskutierte Frage nach den Perspektiven pädagogisch-therapeutischer Hilfen für schwierige Kinder und Jugendliche: "Im Zeichen einer interaktiven, in den Prozessen der Motivation und gemeinsamen Absprache gefassten Technologie, die auf eine betriebswirtschaftlich ausformulierte Effizienz und Effektivität zielt, stehen die Titel einer lebensweltorientierten Gemeinwesenarbeit, Beratung oder Familienhilfe wie Fassaden vor den gleichsam entkernten Konzepten lebensweltorientierten Agierens" (Thiersch 2005, 248). Dass von der am Anfang dieses Rückblicks erwähnten emphatischen Konzeption einer pädagogisch-therapeutischen Intensivbetreuung für hochgradig belastete Jugendliche nur noch die Fassade stehen bleibt, während die dazugehörige Praxis mehr und mehr die Funktion einer sozialen 'Exklusionsverwaltung' annimmt, dürfte in einem größeren sozialstrukturellen Zusammenhang betrachtet das zentrale Risiko für die Zukunft freiheitsentziehender Maßnahmen sein.« (S. 153/154)

Gleichwohl bestreiten beide Autoren nicht die Notwendigkeit freiheitsentziehender Maßnahmen, allerdings für eine viel kleinere Anzahl von Kindern und Jugendlichen als die aufgeregte öffentliche Debatte vermuten läßt. Wie diese Maßnahmen konkret aussehen und mit welchen Problemen sie konfrontiert sind, zeigen die übrigen Beiträge, die hier nicht alle referiert, aber doch sehr empfohlen werden können:
Alle Artikel sind hoch informativ, differenziert und empirisch ausgerichtet. Der Sammelband sollte nicht nur von den betroffenen Praktikern, sondern auch von den zuständigen Sozialpolitikern gelesen und beachet werden.

Kurt Eberhard  (Juni 2006)

 

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