FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Rezension / Jahrgang 2006

 



Robert Bering

Verlauf der Posttraumatischen Belastungsstörung

Grundlagenforschung, Prävention, Behandlung

Shaker-Verlag, 2005

(423 Seiten, 35.80 Euro)


Dr. Robert Bering, Mediziner und Psychologe, ist Leitender Arzt im Zentrum für Psychotraumatologie des Alexianer-Krankenhauses und Dozent am Institut für Klinische Psychologie und Psychotherapie der Universität Köln. Das vorliegende Buch ist seine Habilitationsschrift.

Einen Überblick über den Inhalt bietet er in seinem Vorwort:
»Für den Leser eröffnen sich im Umgang mit der vorliegenden Abhandlung unterschiedliche Möglichkeiten. Der allgemeine Teil eignet sich als Kurzlehrbuch der Psychotraumatologie. Im Unterschied zu anderen Schriften (z. B. Ehlers. 1999; Flatten et al., 2004) liegt der Schwerpunkt auf der prozessorientierten Betrachtung der PTBS. Der spezielle Teil ist für Leser zugeschnitten, die sich Spezialwissen aneignen wollen. Der Abschnitt Grundlageforschung (II) ist naturwissenschaftlich orientiert und bietet detailliertes Wissen über den Diskussionsstand, ob psychische Extrembelastungen im zentralen Nervensystem auf zellulärer Ebene Schaden verursachen können oder nicht. Der Abschnitt Prävention (III) ist besonders für Verantwortliche und professionelle Helfer gedacht, die für die Planung und Umsetzung von Einsätzen im Katastrophen-, Sanitäts- und Militärdienst verantwortlich sind. Am Beispiel von Militäreinsätzen auf dem Balkan wird das abgehandelt, was für Polizei, Feuerwehr und Sanitätsdienste Alltagsrisiko geworden ist. Der Helfer kann zum Betroffenen werden. Um dieses abzuwenden, müssen Konzepte vorgelegt werden, die wissenschaftlichen Prüfkriterien standhalten können. Leser, die an der Weiterentwicklung von Kriseninterventionskonzepten interessiert sind oder sich einen Überblick verschaffen wollen, welche Risiken Bundeswehrsoldaten in Friedensmissionen auf sich nehmen, bietet dieser Abschnitt eine Übersicht. Der Abschnitt Behandlung (IV) liefert einen klinischen Schwerpunkt und eröffnet eine vertiefte Einsicht in die Konzeption des Zentrums für Psychotraumatologie des Alexianer-Krankenhauses Krefeld. Erfolge und Misserfolge in der Behandlung der PTBS werden offen gelegt. Im Mittelpunkt steht die Evaluation eines Modellprojekts zur Verbesserung der Versorgungsstruktur für Menschen, die Opfer von Gewalt und Unfällen geworden sind. Darüber hinaus werden Leser angesprochen, die sich für multiprofessionelle Konzepte zur Behandlung von Psychotraumastörungen interessieren. Der letzte Teil (V) hat ein methodenkritisches Profil. Die Möglichkeiten und Begrenzungen der evidenzbasierten Medizin stehen zur Diskussion. Hierbei handelt es sich um einen Ansatz, der sich an einer Hierarchie von Evidenzstufen zur Absicherung von Forschungsergebnissen orientiert. An der Spitze stehen randomisierte kontrollierte Studien oder Meta-Analysen – dies ein Studiendesign, welches in der Psychotherapieforschung schwer umsetzbar ist und eigene Fehlerquellen in sich birgt. Die Abhandlung soll zeigen, dass es sinnvoll ist, die Vorgehensweise der evidenzbasierten Medizin um Forschungsstrategien des Konvergenzprinzips zu erweitern.
     Einerseits ist dieser Beitrag für spezifisch Fachkundige geschrieben, andererseits wird ein Ansatz verfolgt, der für jeden allgemein interessierten Therapeuten verständlich ist: Eine Belastungsstörung ist nicht eine Momentaufnahme, sondern ein Prozess. Welche Richtung dieser Prozess einschlägt, wird durch das Bedingungsgefüge der Lebensgeschichte, der Situationsfaktoren und der Balance zwischen Risiko- und Schutzfaktoren in der Phase der Bewältigung bestimmt. Die Beschreibung der PTBS aus prozessorientierter Sicht dient als Paradebeispiel für das, was in der Zukunft für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit psychiatrischen Krankheitsbildern richtungsweisend werden könnte.« (S. 15/16)

Die differenziert und tief gegliederten Hauptkapitel enden jeweils mit einem 'Rückblick und Ausblick', denen die nachfolgenden Textproben entnommen sind.

Am Ende des Allgemeinen Teils über die Posttraumatische Belastungsstörung kommt der Autor zu folgendem Resümee:
»Bisher sind wir dem Ziel einen Schritt näher gekommen, die Kriterienkataloge der gängigen diagnostischen Manuale um eine verlaufsorientierte Betrachtungsweise zu bereichern. Dies geschah auf der Grundlage des Verlaufsmodells der Psychotraumatisierung von Fischer & Riedesser. Dieses Modell wurde als Leitschiene genutzt, die Neurobiologie der PTBS darzulegen, die Debatte um die Effektivität von Kriseninterventionen aufzuzeigen und die Diskussion um Behandlungsansätze der PTBS zu rekapitulieren. Nun sind die Voraussetzungen geschaffen, in spezielle Gebiete der Psychotraumatologie vorzustoßen. Im forschungsorientierten Teil werden uns spezifische Fragestellungen aus der Grundlagenforschung, Präventionsmedizin und Psychotherapieforschung beschäftigen. ....« (S. 115)

Die Zusammenfassung zur Vulnerabilität des Hippokampus behandelt drei Fragen:
»Ist die Volumenminderung der Hippokampusregion als Ursache, Folge oder sekundäre Begleiterscheinung (1) der PTBS zu sehen? Welche Subregion ist hiervon besonders betroffen (2) und auf welchem molekularpathophysiologischen Mechanismus (3) beruhen diese Befunde?
     Ad 1: Der derzeitige Forschungsstand deutet darauf hin, dass die Volumenminderung des Hippokampus in ein polyätiologisches Bedingungsgefüge eingebettet ist und auf der Grundlage des Verlaufsmodells betrachtet werden sollte. Hierbei sind prätraumatische Faktoren, Situationsfaktoren des Psychotraumas und der traumatische Prozess zu berücksichtigen. ..... Tierexperimentelle Untersuchungen zeigen, dass chronische Belastungssituationen Zellschäden im Hippokampus nach sich ziehen. Nachweislich haben komorbide Störungsbilder (z. B. Alkoholabhängigkeit als traumakompensatorische Strategie) einen unmittelbaren Einfluss auf die neuronale Integration des Hippokampus und müssen als Kovariate berücksichtigt bleiben. Somit scheitern Versuche, die Ursache der Volumenminderung des Hippokampus einer Momentaufnahme im Prozessverlauf von Traumastörungen zuzuordnen an der Divergenz der Forschungsergebnisse.
     Ad 2: .... Eigene Untersuchungen haben in Übereinstimmung mit der. Arbeitsgruppe von Yehuda gezeigt, dass die Konzentration von Kortisol im Sammelurin bei Patienten mit einer PTBS erniedrig ist und in Abhängigkeit von der Zeitachse mölicherweise einem Umbauprozess unterliegen. Diese Befunde haben eine Revision der Übertragbarkeit von Stressmodellen auf die PTBS ausgelöst Es wachsen die Zweifel, ob der Zellverlust wirklich der CA3 Region im Hippokampus zuzuordnen ist. ....
     Ad 3: .... Nicht die Kortisolkonzetration selbst sondern die Empfindlichkeit der Rezeptoren hat zur Folge, dass eine Kaskade ausgelöst wird, an deren Ende der zytotoxische Schaden von Zellfortsätzen bzw. Nervenzellen steht. .... Möglicherweise wird bei chronifizierten Formen der PTBS die Neurogenese von Nervenzellen durch den Hypokortisolismus beeinträchtigt. In Eins gerechnet, steht die spezifische Regulation des Kortisols und seiner Rezeptoren im Mittelpunkt der Diskussion um die Pathophysiologie der Volumenminderung des Hippokampus bei chronischen Belastungsstörungen. ....
     Der Diskurs zum Forschungsstand und Forschungshypothesen der Hippokampusatrophie bei der PTBS macht deutlich, dass interdisziplinare Konzepte aussichtsreich erscheinen, die psychische Traumatisierung als einen komplex-kybernetischen Verlaufsprozess erfassen. ....« (S. 161/162)

Im dritten Hauptkapitel referiert der Autor seine eigene empirische Untersuchung an Bundeswehrsoldaten über die von Gottfried Fischer entwickelte Zielgruppenorientierten Intervention mit folgender Schlußfolgerung:
»Der Entwicklungsstand der Zielgruppenorientierte Intervention lässt folgende Schlussfolgerung zu: Es handelt sich um eine Weiterentwicklung der psychologischen Nachsorge, welches die eingeleiteten Kriseninterventionsmaßnahmen empirisch absichert und eine risikospezifische Abstufung der Interventionsmaßnahmen ermöglicht. Das Konzept beruht auf der Erkennung von Risikofaktoren in der Verbindung mit der Verlaufsbetrachtung der PTBS. Erst das Zusammenspiel von prätraumatischen Antezedenzbedingungen, der situativen Ereigniskonstellation und Faktoren der Einwirkungsphase entscheidet überäden Prozessverlauf. Während bei der Diskussion um die Volumenminderung des Hippokampus der Nachweis für die Richtigkeit des polyatiologischen Modells noch aussteht, konnte in diesem Abschnitt gezeigt werden, dass die Symptome einer PTBS von Faktoren der Lebensgeschichte und Risiko- und Schutzfaktoren in der Einwirkungsphase abhängig sind.« (S. 245/246)

Das vierte Hauptkapitel berichtet über traumatherapeutische Erfahrungen mit der 'Mehrdimensionalen Psychodynamischen Traumatherapie' (MPTT) von Gottfried Fischer mit folgender Bilanz:
»Bei der MPTT handelt es sich um eine traumaadaptierte Variante der beiden Richtlinienverfahren 'Tiefenpsychologisch fundierte' und 'Analytische Psychotherapie', die auf der Basis einer 'psychodynamisch-behavioralen' Gesamtkonzeption auch psychoedukative und Trainingselemente in das Behandlungskonzept integriert. Die Behandlung der PTBS stellt besondere Anforderungen an spezifische Verfahrensweisen und an die Organisationsstruktur unseres Gesundheitssystems. Mit dem Beschluss des Landtages Nordrhein-Westfalen, die Arbeit des so genannten Kölner Opferhilfe-Modells (Fischer et al., 1999) landesweit umzusetzen, wurden wichtige Grundvoraussetzungen geschaffen, die Verfahrensweise des Kölner Modells auch auf den stationären Bereich zu übertragen. Die Einbettung der MPTT in ein multiprofessionelles Setting einer Krankenhausbehandlung geht auf Bering et al. (2002a, 2003b, 2004b) zurück und wurde ausführlich dargestellt. Das Ergebnis ist ein vierschichtiges Behandlungsangebot. Hierzu gehören eine Ambulanz für Gewalt- und Unfallopfer, die Komplex-Liaison in kooperierenden Krankenhäusem, die Integrative Psychiatrische Behandlung und eine spezialisierte Psychotherapiestation. Rückblickend standen folgende Fragen im Mittelpunkt: Welche therapeutische Strategien erweisen sich mit den Möglichkeiten einer Krankenhausbehandlung effektiv, eine eingetretene Belastungsstörung zu behandeln? Diese Fragen wurden unter Anwendung klinischer Effekt- und Einzelfallstudien untersucht. ....
     Rückblickend wurde gezeigt, dass die Therapie von schweren Psychotraumastörungen mit der MPTT innerhalb von ca. 6 Wochen deutliche Fortschritte zeigt. .... Dennoch bleiben die Patienten nach Abschluß der Krankenhausbehandlung Symptomträger eines spezifischen psychotraumatologischen und allgemeinpsychopathologischen Beschwerdebildes. ....
     Folgende Einschränkungen müssen gemacht werden:
- Die vorgelegte Studie verfügt über keine Kontrollgruppe im engeren Sinn
- Die Evaluation kann bisher keine katamnestischen Daten vorweisen.
- Die bisherige Evaluation beruht auf psychometrischen Instrumenten der Selbsteinschätzung
(S. 343/344)

Der Rück- und Ausblick des letzten Kapitels faßt noch einmal die wichtigsten Ergebnisse der umfangreichen Untersuchung zusammen:
»Die Posttraumatische Belastungsstörung wird in gängigen diagnostischen Manualen mit Hilfe eines Kriterienkataloges beschrieben. Es handelt sich um ein punktdiagnostisches Modell, welches in dieser Abhandlung durch ein Verlaufsmodell der Psychotraumatologie ergänzt wurde. Dieser Ansatz geht auf Fischer und Riedesser (2003} zurück. Im Rückblick wurde dieses Modell im allgemeinen Teil auf die Neurobiologie der PTBS, die Diskussion um Kriseninterventionen und auch auf die Behandlung der PTBS übertragen. Der forschungsorientierte Teil hat diesen Ansatz spezifiziert. Dabei wurde auf die Grundlagen-, Feld- und Psychotherapieforschung zurückgegriffen. Die Ergebnisse aus den spezialisierten Disziplinen wurden in das Konzept der Verlaufsgestalt integriert und auf Konvergenzen überprüft. ....
     Wirft man einen Blick auf die zentralen Forschungsergebnissen aus der Grundlagen-, Feld- und Psychotherapieforschung, so hat sich gezeigt, dass sich die Verlaufsbetrachtung der PTBS auf alle drei Bereiche übertragen lässt. Die Grundlagenforschung liefert Argumente, dass die Faktoren der Lebensgeschichte, der Situation und auch des Prozesses zu berücksichtigen sind, wenn man das Phänomen der Volumenminderung des Hippokampus bei der PTBS verstehen will. .....
     Zum Abschluss der vorgelegten Trilogie wurde in einer klinischen Studie die Wirksamkeit der Mehrdimensionalen Psychodynamischen Traumatherapie im multiprofessionellen Setting einer Krankenhausbehandlung überprüft. Wenn belegt ist, dass für die Entstehung der PTBS ein prozessorientiertes Faktorenmodell ausschlaggebend ist, dann muss dieses Konzept auch für die Behandlung der PTBS von großer Bedeutung sein. Auf diesem Gedanken beruht die Dimensionierung des traumatischen Prozessverlaufs. Die Wirksamkeit konnte auf makroskopischer Ebene statistischer Effektgrößen abgesichert werden. Die Wirkmechanismen konnten auf mikroskopischer Ebene an der Einzelfalldarstellung der Traumatherapie dargelegt werden.
     Im letzten Abschnitt wurden die Parallelen zwischen der Verlaufsgestalt von Psychotraumastörungen, Gestaltpsychologie und dialektischen Denkmodellen gezogen. Es wird geschlossen, dass der Wunsch, die Psychotraumatologie in ein Elementenbild zu zerlegen, auf Grenzen stößt. In der Einzelfalldarstellung wurde gezeigt, dass Spannungsfelder zwischen den Faktoren die treibende Kraft für den psychotraumatologischen Prozessverlauf und für die Behandlung der PTBS sind. Nach welchen Prinzipien sich dieser psychotherapeutische Prozessverlauf vollzieht und Veränderungswissen erworben werden kann, wurde am Prinzip der negativen Dialektik erläutert. Die prozessorientierte Sicht der PTBS schafft somit auf der Metaebene eine gemeinsame Endsstrecke für Forschungsergebnisse aus heterogenen Forschungsstrategien. ....« (S. 398/399)

Bilanzierende Bewertung:
Die Abhandlung profitiert von ihrer wissenschaftlichen Akribie und davon, daß Robert Bering Psychologe und Mediziner ist und auch die Psychoanalyse gut kennt. Ohne die interdisziplinäre Rezeption der sehr unterschiedlichen Wurzeln und Forschungsrichtungen und ohne das von ihm sehr überzeugend herausgearbeitete Verlaufskonzept wäre der Entwurf einer wissenschaftlich glaubwürdigen und praktisch fruchtbaren Psychotraumatologie gar nicht möglich. Den Lesern aus der Praxis ist zu wünschen, daß der Verfasser aus der betont akademisch-wissenschaftlichen Habilitationschrift mit viel Rücksichtnahmen auf universitäre Autoritäten möglichst bald ein handliches Lehrbuch strickt.

Kurt Eberhard (Juli 2006)

 

 

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