FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Rezension / Jahrgang 2006

 




Anja Conrad und Natascha Stumpf

Das Pflegekind im Spannungsfeld
 zwischen Pflegeeltern
und Herkunftsfamilien

Verlag Dr. Kovač, 2006, 164 Seiten

ISBN 3-8388-2437-1, 48 Euro


Das vorliegende Buch ist aus einer Diplomarbeit entstanden und befasst sich mit „der Gestaltung des Bezugs zwischen Kindern, die in einer Pflegefamilie ihren neuen Lebensmittelpunkt gefunden haben, und ihren leiblichen Eltern.“(S. 5) „Im Kontext des Themas .... verfolgen wir [die Autorinnen] insbesondere die Fragestellung, welcher Bezug des Pflegekindes zu seiner Herkunftsfamilie für seine Entwicklung am förderlichsten ist. Hierbei beziehen wir uns ausschließlich auf Pflegekinder in Dauerpflege mit Langzeitperspektive, also ohne Rückkehroption...“ (S. 15)

Über die Autorinnen und deren Motive ist im Vorwort zu lesen: „Anstoß zur Auseinandersetzung mit dieser Thematik stellen unsere persönlichen Praxiserfahrungen dar. Im Rahmen unseres Studiums zur Diplom Sozialpädagogin an der Fachhochschule Frankfurt am Main, hatten wir die Gelegenheit zwei Pflegekinderdienste über den Zeitraum eines Jahres zu begleiten....
Obgleich die Thematik häufig und kontrovers diskutiert wird, konnten wir während unserer theoretischen Auseinandersetzung keine wirklich grundlegende, einleitende und vor allem neutrale Literatur finden.... Wir hoffen, mit dieser Arbeit interessierten Menschen einen einleitenden Überblick in diese höchst interessante Thematik zu ermöglichen...“ (S. 5)

Zunächst die Hauptüberschriften der einzelnen Kapitel:

Vorwort
Einleitung

Kapitel 1
1. Die Rollen der Beteiligten
1.1. Die Rolle der Pflegeeltern
1.2. Die Rolle des Jugendamtes
1.3. Die Rolle der Herkunftseltern

Kapitel 2
2. Überlegungen zur Entwicklung des Pflegekindes
2.1. Die Bedeutung von Bindungen für die Entwicklung
2.2. Die Bedeutung von Deprivation für die Entwicklung
2.3. Die Bedeutung von Trauma für die Entwicklung
2.4. Die Entwicklung in der Pflegefamilie
2.5. Rechte des Kindes

Kapitel 3
3. Der Bezug zu den Herkunftseltern im Kontext einer positiven Entwicklungsmöglichkeit für das Pflegekind
3.1. Spannungsfelder im Pflegeverhältnis
3.2. Das Kinder- und Jugendhilfegesetz als Elternrecht?
3.3. Überlegungen zum Begriff des Kindeswohls
3.4. Besuchskontakte
3.5. Biografiearbeit als Möglichkeit der Bezugnahme des Pflegekindes zu seiner Herkunft

Schlussfolgerungen für die Praxis

Literaturverzeichnis

In den ersten beiden Unterkapiteln zu 1.1. (Rolle der Pflegeeltern) geben die Autorinnen eine kurze Einführung in die theoretischen Grundlagen der beiden Konzepte ‚Ersatz- und Ergänzungsfamilie’ und präsentieren anschließend u.a. folgende Befunde:

  • Das Ergänzungsfamilienkonzept verfolgt (auch langfristig) das Ziel der „Rückführung des Pflegekindes in die Herkunftsfamilie.“ (S. 27);
  • Die Bindungstheorie wird unterschiedlich gesehen und ausgelegt;
  • Bei Traumatisierungen von Pflegekindern gehen die Vertreter von unterschiedlichen prozentualen Anteilen aus (S. 32);
  • Der Aspekt, die Belange des Kindes in den Vordergrund zu stellen, sei elementar für die Arbeit mit Pflegekindern (Ersatzfamilienkonzept) und gerät im systemischen Ansatz in den Hintergrund;
  • Der systemorientierte Blick stellt eine wichtige Grundlage für die Arbeit mit Herkunftseltern dar (S. 33).

Wegen der hohen Komplexität der einzelnen Fallkonstellationen fordern Conrad und
Stumpf – wie die meisten im Pflegekinderwesen tätigen Experten – Entscheidungen anstatt einseitig konzeptionell, individuell jeweils am Einzelfall und im Team zu treffen. Unter 1.1. folgen zwei weitere Unterkapitel mit den Überschriften ‚Rechtliche Grundlagen des Pflegeverhältnisses’ und ‚Erwartungen an die Pflegeeltern’. Diese Kapitel beinhalten
– ebenso wie Kapitel 1.2. (Rolle des Jugendamtes) – viele Sachinformationen, auf die hier in der Kürze nicht explizit eingegangen werden kann. In Kapitel 1.3. (Rolle der Herkunftseltern) wird ausgeführt, dass

  • mehr als 50% der Unterbringungsgründe ‚Vernachlässigung des Kindes’ seien;
  • in knapp 20% der Herkunftsfamilien Alkoholmissbrauch ursächlich sei;
  • in mehr als 10% der Fälle Gewalt in der Familie und/oder Anzeichen von Misshandlung Hauptanlass für die Inpflegenahme seien (S. 59);
  • erziehungsunfähige Eltern zu 95% selbst traumatisierte Kinder gewesen seien (S. 61).

Gründlich referieren die Autorinnen in Kapitel 2 aus der Bindungstheorie sowie der Deprivationstheorie und präsentieren darüber hinaus Erkenntnisse aus der jüngeren Traumaforschung. Unter 2.3. wird dann ausgeführt:
„Vor allem Dauerpflegekinder waren in der Regel in ihrer Vorgeschichte mehr oder weniger dramatischen traumatisierenden Situationen ausgesetzt, die ihr Erleben und Verhalten nachhaltig beeinflussen. (S. 91) .... Bei Kindern prägt und stört strukturell wiederholtes Trauma die Persönlichkeit. Je jünger die Kinder bei der Traumatisierung sind, desto größeren Schaden richten die Traumata an, da Alter und Entwicklungsstand der Ich-Funktion von wesentlicher Bedeutung für die Verarbeitung von Traumata sind.“ (S. 96)

Zum Problemfeld der Besuchskontaktgestaltung werden ebenfalls reichlich und ausgewogen Informationen gegeben. Die Autorinnen diskutieren das ‚Für’ und ‚Wider’ wohltuend unvoreingenommen, ohne die heikle Problematik zu verkennen. Für traumatisierte/bindungsgestörte Pflegekinder kommen sie zu folgendem Schluss:
„Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass es für traumatisierte und bindungsgestörte Pflegekinder wichtig ist, Schutz vor den sie traumatisierenden Herkunftseltern gewährt zu bekommen. Auf dieser Grundlage können sie dann eine positive Beziehung zu den Pflegeeltern erfahren, die ihnen eine gesunde Persönlichkeitsentwicklung ermöglicht. Damit sind Besuchskontakte zu den Herkunftseltern in diesen Fällen als ausgesprochen problematisch anzusehen.“ (S. 134)

Noch unreif scheint das Kapitel „Schlussfolgerungen für die Praxis“, u.a. weil neue Behauptungen auftauchen, die im Hauptteil der Arbeit weder vorgestellt noch diskutiert wurden. Hier wird der Anschein erweckt, es handele sich um wissenschaftlich abgesicherte Thesen, bzw. es werden sogar falsche Tatsachenbehauptungen aufgestellt. Die Pflegekinderdienste sind zu vielfältig, zum Teil von den Allgemeinen Sozialdiensten mitgetragen, zum Teil zu Freien Trägern ausgelagert, als dass man von nur zwei Pflegekinderdiensten eines Ortes Verallgemeinerungen riskieren dürfte. Beispielsweise wird die Verbreitung des Ergänzungsfamilienmodells und auch der Besuchskontakte weit überschätzt – Katharina Sutter teilt auf Basis einer systematischen Umfrage mit, dass ca. 75% aller Dauerpflegekinder nach einem Zeitraum von ca. 4 Jahren keine regelmäßigen Besuchskontakte (mehr) zu ihren Eltern unterhalten. (s. Umfrage unter Pflegeeltern...)

Insgesamt aber haben Conrad und Stumpf eine Fülle von Literatur vorgestellt und verarbeitet, womit dem Eigenanspruch eines ‚einleitenden Überblicks in die Thematik’ mehr als genügt wurde. Das Buch ist allen im Pflegekinderbereich tätigen Fachkräften zur Lektüre zu empfehlen und eine ergiebige Fundgrube.

Christoph Malter (Sept. 2006)

 

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