FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Rezension / Jahrgang 2007

 


Günther Opp & Michael Fingerle (Hrsg.)

Was Kinder stärkt
Erziehung zwischen Risiko und Resilienz

Ernst Reinhardt Verlag, 2007

2. neu bearbeitete Auflage mit neuen Beiträgen aus der Neurobiologie, der Bindungs-, Lebensphasen- und Geschlechtsrollenforschung
(330 Seiten, 29.90 Euro)
 

In der gründlichen Einführung schreiben die Herausgeber zum Programm ihres Buches:
»In der Zukunft wird es vor allem darum gehen, die Risiken kindlicher Entwicklung, die in modernen Gesellschaften für viele Kinder zunehmen, als Entwicklungsgefährdungen und nicht primär im Sinne von Defiziten zu erfassen. Im Zentrum des pädagogischen Interesses stehen mittlerweile die Potentiale und Ressourcen, die kindliche Entwicklung schützen und stärken. Das ist das Thema dieses Buches.
     Um einem Missverständnis gleich zu Beginn vorzubeugen: Von den Stärken und Widerstandskräften der Kinder zu sprechen, bedeutet nicht, die individuellen Risikolagen kindlicher Entwicklung, die spürbare Zunahme solcher Gefährdungen und die  gesellschaftliche Bedeutung dieser Problemlagen zu verharmlosen. Von den Stärken der Kinder zu sprechen, bedeutet in keiner Weise, dass individuelle und den Lebenswelten dieser Kinder angemessene Hilfestellungen überflüssig werden. Die modernen Risikolagen, die die Entwicklung einer wachsenden Zahl von Kindern und Jugendlichen bedrohen, können auch die widerstandsfähigsten Kinder nicht allein aus ihren Stärken heraus bewältigen.
     Zwei Fragen interessieren uns in diesem Zusammenhang:
1. Welche Stärken und Kompetenzen helfen den Kindern am besten, Risiken in ihren
   Lebenswelten zu meistern?
2. Wie können wir durch pädagogische und heilpädagogische Maßnahmen diese   
   Widerstandskräfte stärken?« (S. 7)
     »In der Gesamtheit der Beiträge dieses Bandes zeigt sich, dass die Folie von Risiko und Resilienz gewinnbringend auf vielfältige pädagogische und heilpädagogische Fragestellungen angewandt werden kann. Das damit eröffnete Reflexionsspiel bietet neue theoretische und praktische Zugänge zu pädagogischen Problemstellungen, und zwar unter Berücksichtigung ihrer antinomischen Grundstrukturen. Dadurch werden statische und eindimensionale Personen- und Defizitzuschreibungen aufgelöst, deren Überwindung die (Heil)pädagogik im Rahmen sozial-ökologischer Ansätze seit langem anstrebt. So werden auch komplexere Zugänge zu pädagogischen Aufgabenbereichen auf der Grundlage dynamischer Anlage-Person-Umweltinteraktionen eröffnet, und zwar gleichermaßen in ihren gefährdenden wie in ihren schützenden Potentialen für das erziehungs- und hilfebedürftige Individuum. Daraus wächst ein realistisch-optimistischer Blick auf moderne pädagogische Herausforderungen. In schwierigen Zeiten und angesichts der Folgen rasanter gesellschaftlicher Umbrüche können Pädagogen und Heilpädagogen auf diesen Optimismus immer weniger verzichten. Es ist das Anliegen dieses Buches, hierfür Gründe und Anstöße zu geben.« (S. 16)

Aus Praxis und Wissenschaft wurden folgende Autorinnen und Autoren gewonnen:

Dr. Doris Bender, Univ. Erlangen-Nürnberg, Inst. für Psychologie

OA Dr. med. habil. Karl Heinz Brisch, Abt. pädiatrische Psychosomatik und Psychotherapie Kinderklinik im Haunerschen Kinderspital, Univ. München

Prof. Dr. Michael Fingerle, Univ. Frankfurt, Inst. für Sonderpäd.

Prof. Dr. Rolf Göppel, Inst. für Erz.wiss., Päd. Hochschule, Heidelberg

Prof. Dr. Werner Greve, Univ. Hildesheim, Inst. für Psychologie

Dr. Karin Grossmann, Regensburg

Prof. Dr. Klaus E. Grossmann, Regensburg

Bridget K. Hamre, Univ. of Virginia, Center for Adv. Study of Teaching and Learning, USA

Prof. Dr. Gotthilf G. Hiller, Reutlingen

Dr. med. Martin Holtmann, Klein. f. Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jug.alters der Univ. Frankfurt

Prof. Dr. Gerald Hüther, Univ. Göttingen, Klinik f. Psychiatrie u. Psychotherapie, Zentralstelle für Neurobiologische Präven tionsforschung

Prof. Dr. Angela Ittel, Arbeitsbereich Päd. Psychologie, Institut für Erziehungswissenschaft, Techn. Univ. Berlin

Dr. Rolf- Torsten Kramer, Univ.Halle-Wittenberg, Zentrum für Schulforschung

Prof. Dr. Winfried Kronig, Heilpäd. Institut, Univ. Freiburg, Schweiz

Dr. Manfred Laucht, Zentralinst. für Seelische Gesundheit, Arbeitsgruppe Neuropsychologie des Kindes- u. Jugendalters, Mannheim

Prof. Dr. Dr. h. c. Friedrich Lösel, Institute of Criminology, Univ. of Cambridge, UK

Prof. Dr. Günther Opp, Univ. Halle-Wittenberg, Inst. f. Rehabil.päd.

Prof. Robert Co Pianta, Univ. of Virginia, Cu-Human Svcs, USA

Prof. Dr. Hellgard Rauh, Inst. für Psychologie, Univ. Potsdam

Prof. Dr. Herbert Scheithauer, Arbeitsber. Entwickl.wiss. und Angew. Entwickl.psycho1ogie, FB Erz.wiss. und Psychologie, Freie Univ. Berlin

Prof. Dr. Ursula M. Staudinger Univ. Bremen, Jacobs Center for Lifelong Learning and Institutional Development

Megan W. Stuhlmann, Ph. D., Virginian Lane Charlotte, USA

Prof. Dr. Hans Weiß, Päd. Hochschule Ludwigsburg, Fak. für Sonderpäd.

Prof. Dr. Emmy Werner, Univ. of California, Department of Psychology

 

Das Inhaltsverzeichnis:

Erziehung zwischen Risiko und Protektion
von Günter Opp und Michael Fingerle

I. Grundlagen der Resilienzforschung

Entwicklung zwischen Risiko und Resilienz
von Emmy E. Werner

Biologische Aspekte der Resilienz
von Martin Holtmann und Manfred Laucht

Resilienz im Spiegel entwicklungsneurobiologischer Erkenntnisse
von Gerald Hüther

Von generellen Schutzfaktoren zu spezifischen protektiven Prozessen:
Konzeptuelle Grundlagen und Ergebnisse der Resilienzforschung
von Friedrich Lösel und Doris Bender

"Biographie" und "Resilienz" - ein Versuch der Verhältnisbestimmung
von Rolf-Torsten Kramer

Geschlecht als "Stärke" oder "Risiko"? Überlegungen zur
geschlechterspezifischen Resilienz
von Angela Ittel und Herbert Scheithauer

Resilienz im Alter aus der Sicht der Lebensspannen-Psychologie
von Ursula M. Staudinger und Werner Greve

II. Resilienz als Arbeitskonzept in sozialen Arbeitsfeldern

Diagnostik und Intervention bei frühen Bindungsstörungen
von Karl-Heinz Brisch

Frühförderung als protektive Maßnahme - Resilienz im Kleinkindalter
von Hans Weiß

Resilienz und Bindung bei Kindern mit Behinderungen
von Hellgard Rauh

Der Einfluss von Erwachsenen-Kind-Beziehungen auf Resilienzprozesse im Vorschulalter und in der Grundschule
von Robert C. Pianta, Megan W Stuhlman und Bridget K. Hamre

Resilienz und kollektivierte Risiken in Bildungskarrieren - das Beispiel der Kinder aus Zuwandererfamilien
von Winfried Kronig

Schule - Chance oder Risiko?
von Günther Opp

Bildung als Chance
von Rolf Göppel

III. Kritische Reflexionen zu den Potentialen von Resilienzkonzepten
für Forschung und Praxis

"Resilienz" – für die pädagogische Arbeit mit Risikojugendlichen und mit jungen Erwachsenen in brisanten Lebenslagen ein fragwürdiges, ja gefährliches Konzept?
von Gotthilf G. Hiller

Die Entwicklung von Bindungen: Psychische Sicherheit als Voraussetzung für psychologische Anpassungsfähigkeit
von Klaus Grossmann und Karin Grossmann.

Der "riskante" Begriff der Resilienz -Überlegungen zur Resilienzförderung im Sinne der Organisation von Passungsverhältnissen
von Michael Fingerle

Resilienz: ein Überblick über internationale Längsschnittstudien
von Emmy E. Werner

Die Autorinnen und Autoren.

Sachregister

Folgende Textproben sind nicht repräsentativ für das Buch, sondern nach den mutmaßlichen Interessen unserer Leser ausgewählt (einige sehr wichtige Autoren werden nicht zitiert, weil sie in diesem Forum bereits ausführlich zu Wort gekommen sind – z.B: Brisch, Hüther und das Ehepaar Grossmann):

Der erste Teil beginnt mit einem Beitrag von Emmy E. Werner, deren aufsehenerregende Längsschnittuntersuchung an 698 auf der Insel Kauai/Hawaii 1955 geborenen Kindern allgemein als Ausgangspunkt und Musterbeispiel der Resilienzforschung gilt:
»Wir haben diese Population im Geburtsalter, im Alter von 1,2, 10, 18, 32 und jetzt auch im Alter von 40 Jahren erfasst (Werner 1993, 1995, 1997; Werner/Smith 1992, 1998). Bei etwa 30% der überlebenden Kinder in dieser Studienpopulation bestand ein hohes Entwicklungsrisiko, weil sie in chronische Armut hinein geboren wurden, geburtsbedingten Komplikationen ausgesetzt waten und in Familien aufwuchsen, die durch elterliche Psychopathologie und dauerhafte Disharmonie belastet waren. Zwei Drittel dieser Kinder, die im Alter von zwei Jahren schon vier oder mehr Risikofaktoren ausgesetzt waren, entwickelten dann auch schwere Lern- oder Verhaltensprobleme in der Schulzeit, wurden straffällig und hatten psychische Probleme i m Jugendalter.
     Auf der anderen Seite entwickelte sich ein Drittel dieser Kinder trotz der erheblichen Risiken, denen sie ausgesetzt waren, zu leistungsfähigen, zuversichtlichen und fürsorglichen Erwachsenen. …..
     Trotz der Belastungen durch familiäre Dissonanz, elterlicher Psychopathologie oder körperlichen Behinderungen hatten die widerstandsfähigen Kinder in unserer Studie die Chance, eine enge Bindung mit mindestens einer kompetenten und stabilen Person aufzubauen, die auf ihre Bedürfnisse eingegangen war. Längsschnittstudien mit den Sprösslingen psychotischer Eltern und mit Kindern, die missbraucht wurden, stimmen alle darin überein, dass die widerstandsfähigen Kinder unter diesen Umständen zumindest am Anfang ihres Lebens ein grundlegendes. Vertrauen entwickeln konnten (Egeland et al. 1993; Herrenkohl et al. 1994; Musick et al. 1987). « (S. 21 – 23)

Die sehr wichtige Frage, ob die Schule für die Entwicklung von Resilienz mehr Chancen oder mehr Risiken bietet, bearbeitet Günther Opp im zweiten Teil:
»Die Schulen können sich auf diese Rahmenbedingungen ihres Alltagshandelns nicht mehr verlassen. Sie sind besonders im Umgang mit schulischen Risikopopulationen dazu gezwungen, sich diese Rahmenbedingungen durch tragende Alltagsroutinen und die Entwicklung eines sinnstiftenden Gemeinschaftsgefühls zu schaffen. Es ist eben genau die Frage, ob die Entwicklung von Bildungsstandards und die kontinuierliche Evaluation der Schulen entlang noch zu definierender Bildungsstandards das Remedium des prekären sozialpädagogischen Problems sind, mit dem die Schulen konfrontiert sind. Es ist zu befürchten, dass das Betreiben von Schulentwicklung über Bildungsstandards genau dazu führt, dass sich die Schulen in der Verfolgung hochgesteckter Outputvorgaben auf ihre leistungsfähigeren und familiär unterstützten Schüler konzentrieren (Speck 2001) und somit die schulischen Selektionsprozesse weiter verschärfen. Das könnte letztlich dazu führen, dass diejenigen Kinder, die vom Gefühl der Mitgliedschaft in ihrer Schule am meisten profitieren könnten, sich am stärksten als Außenseiter fühlen (Smerdon 2002).
     Schulen können Orte der Langeweile, der sozialen Ausgrenzung und der Angst sein. Schulen können aber gerade auch im Leben von Kindern, die in ihren Lebenswelten hohen Belastungen und Entwicklungsrisiken ausgesetzt sind, eine wichtige, Entwicklung schützende Funktion ausüben.« (S. 239/240)

Im dritten Teil stellt sich Michael Fingerle der zunehmenden Kritik am Resilienz-Konzept:
»Man kann zu Recht kritisieren, dass viele der von der Forschung identifizierten Schutzfaktoren, wie Selbstwirksamkeit, keine besonderen, spezifischen aktoren oder Eigenschaften darstellen; letzten Endes zeigen sie nur, dass bei estimmten Personen oder in ihrem unmittelbaren sozialen Umfeld neben en Risikofaktoren auch Ressourcen vorhanden sind, mit denen sich Risiken erfolgreich bewältigen lassen. Mehr noch, auch wenn keine Entwicklungsrisiken vorliegen, befördern derartige Schutzfaktoren persönliches Wachstum und eine gelingende Entwicklung (Laucht et al. 1997). Nicht von ungefähr schlagen Grossmann und Grossmann (in diesem Band) vor, statt von Resilienz lieber allgemein von Anpassungsfähigkeit zu sprechen. Wenn es sich bei Resilienz also nicht um eine besondere Persönlichkeitseigenschaft im engeren Sinne handelt, welchen Nutzen hat dann dieser Begriff?
     Die zentrale Bedeutung des Resilienzbegriffs für die Pädagogik ist darin zu sehen, dass er die Variabilität der individuellen Entwicklungsverläufe in Personengruppen hervorhebt, die Entwicklungsrisiken ausgesetzt sind. In zahlreichen Studien konnte bestätigt werden, dass Risikofaktoren wie beispielsweise Armut oder Alkoholismus der Eltern nicht notwendigerweise zu einer massiven und nachhaltigen Beeinträchtigung in den Biographien der Kinder führen müssen - vielmehr gibt es einen relativ hohen Prozentsatz solcher Kinder, die trotz derartiger Risiken in Schule und Beruf erfolgreich sind (siehe hierzu die Beiträge von Werner bzw. von Lösel/Bender in diesem Band). …..
     Konsequenterweise richten Präventionsansätze im Bereich der Frühförderung ihr Augenmerk daher auch auf die Verbesserung der Eltern-Kind -Beziehung (Wustmann 2005). Doch auch wenn man die Förderung sozialer Ressourcen mit einbezieht, bleibt ein nicht zu unterschätzendes Problem bestehen, das den relationalen und dynamischen Charakter von Risiken und Bewältigungsressourcen betrifft. Wie Ursula Staudinger (Staudinger 1999) betont, ist nicht nur die Differenz zwischen normalen Entwicklungskrisen (z. B. Pubertät und Adoleszenz) und nicht-normativen Entwicklungsrisiken (z. B. Zerfall oder Psychopathologie des Elternhauses) fließend, sondern auch die Abgrenzung von Belastungen und Ressourcen.
Risiken und Ressourcen können im Grunde nicht a-priori definiert werden (die üblichen Klassifikationen beruhen eher auf durchschnittlichen Erfahrungswerten), sondern nur im Rahmen ihres wechselseitigen Bezugssystems, ihrer individuellen Konstellationen. Die große Zahl möglicher Konstellationen stellt Professionelle allerdings vor ein schwer zu lösendes Problem: Wie lässt sich ein solch relativistischer, dynamischer Resilienzbegriff in förderdiagnostische Konzepte umsetzen? Einen Ausgangspunkt für derartige Überlegungen könnte die Bindungstheorie liefern (siehe hierzu auch die Beiträge von Brisch, Rauh sowie Grossmann/Grossmann in diesem Band).« (S. 300 – 302)

Bilanzierende Bewertung:
Der Sammelband von Opp und Fingerle ist das Beste zum Thema Resilienz auf dem deutschen Markt, nicht nur weil er einen hervorragenden Überblick über die einschlägigen Forschungsergebnisse liefert, sondern auch der Kritik am Resilienz-Konzept breiten Raum gibt und überzeugende Konsequenzen daraus zieht, insbes. den Anschluß an die begrifflich klare und empirisch bestens bewährte Bindungstheorie.

Kurt Eberhard  (März 2007)

 

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