FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Rezension / Jahrgang 2007

 




Katja Nowacki

Aufwachsen in Pflegefamilie oder Heim

Bindungsrepräsentation, psychische Belastung und Persönlichkeit bei jungen Erwachsenen

Verlag Dr. Kovac, 2007
 (313 S., 48 Euro)


Katja Nowacki ist Diplom Psychologin und hat den Förderpreis für herausragende Arbeiten im Dienste von Pflegekindern von der Stiftung zum Wohl des Pflegekindes für die Studie ’15 Jahre Vermittlung von Pflegekindern’ erhalten. Das vorliegende Buch ist ihre Dissertation an der Universität Bochum. Sie geht der Frage nach, welche Auswirkungen die Heim- und/oder Pflegefamilienerziehung auf die Entwicklung der Kinder haben. Dazu werden Interviews mit jungen Menschen geführt, die unter bindungstheoretischen Gesichtspunkten ausgewertet werden. Für die Gruppe der Pflegekinder wird zusätzlich untersucht, inwiefern eine gelungene Integration in der Pflegefamilie stattgefunden hat.

Zunächst die Hauptüberschriften:

1. Einleitung

2. Theorie
2.1 Bindung
2.1.1 Die Entwicklung der Bindungstheorie
2.1.2 Zentrale Aspekte der Bindungstheorie
2.1.3 Operationalisierung und Erfassung von Bindung
2.1.4 Exkurs: Bindungsstörungen
2.1.5 Zusammenfassung
2.2 Traumata

2.2 Traumata
2.2.1 Vernachlässigung
2.2.2 Körperliche Misshandlung
2.2.3 Sexueller Missbrauch
2.2.4 Folgen und Konsequenzen traumatischer Erfahrungen in der Kindheit

2.3 Pflegekinder
2.3.1 Fremdunterbringung nach 1945
2.3.2 Rechtliche Grundlagen der Pflegekindervermittlung und weiterer Maßnahmen
       der Hilfen zur Erziehung
2.3.3 Das Konzept der Ersatzelternschaft und die Theorie der Integration
2.3.4 Das Konzept der Ergänzungselternschaft
2.3.5 Entwicklung von Pflegekindern unter Betonung der Beziehung zu den Pflegeeltern
       aus Sicht der Bindungsforschung
2.3.6 Perspektive der Hilfe — Rückkehroption oder Dauerpflegeverhältnis
2.3.7 Besuchskontakte
2.3.8 Geschwister in Pflegefamilien
2.3.9 Erfolgsmaße von Pflegeverhältnissen

2.4 Heimkinder
2.4.1 Rechtliche Grundlagen und verschiedene Formen der Heimerziehung
2.4.2 Auswirkungen von Heimunterbringungen

2.5 Vergleich von Heimunterbringung, Pflegeverhältnissen und
       in ihrer Herkunftsfamilie aufgewachsenen jungen Menschen

2.6 Psychopathologie
2.6.1 Definitionen
2.6.2 Klassifikationssysteme psychischer Störungen
2.6.3 Entwicklungspsychopathologie
2.6.4 Bindung und Psychopathologie

2.7 Persönlichkeit, Selbstbild und Bindung
2.7.1 Zusammenhang zwischen Selbstbild und Persönlichkeit
2.7.2 Zusammenhang zwischen Selbstbild, Persönlichkeit und Bindung
2.7.3 Zusammenhang zwischen Selbst- und Fremdeinschätzung

2.8 Zusammenfassung des Theorieteils

2.9 Ableitung der Fragestellung und Hypothesen
2.9.1 Zusammenhänge zwischen der Bindungsrepräsentation und psychischer Belastung
       sowie Persönlichkeitsfaktoren
2.9.2 Vergleich ehemaliger Pflege- und Heimkinder und in ihrer Herkunftsfamilie
       aufgewachsener junger Menschen
2.9.3 Bedingungen erfolgreicher Pflegeverhältnisse

3. Methode
3.1 Die Stichproben
3.1.1 Die Hauptstichprobe (ehemalige Pflegekinder)
3.1.2 Vergleichsstichprobe 1 (ehemalige Heimkinder)
3.1.3 Vergleichsstichprobe 2 (Familienkinder)
3.1.4 Teilstichprobe: Pflegeeltern

3.2 Messinstrumente
3.2.1 Sozialanamnese
3.2.2 Adult Attachment Interview (AAl)
3.2.3 Fragen zur Integration des Pflegekindes in die Pflegefamilie
3.2.4 Kodiersystem zur Erfassung der Integration von Pflegekindern in Ersatzfamilien
3.2.5 Adjektivlisten zur Erfassung des Selbst- und Fremdbildes
3.2.6 Brief Symptom Inventory (BSI)
3.2.7 NEO-Fünf-Faktoren Inventar (NEO-FFI)
5.2.8 Persönlichkeits- Stil und -Störungsinventar (PSSI)

3.3 Durchführung der Datenerhebung

4. Ergebnisse

4.1 Ergebnisse zu Zusammenhängen der Bindungsrepräsentation und
     der psychischen Belastung sowie der Persönlichkeitsfaktoren, gemessen
     über drei Stichproben (ehemalige Pflege- und Heimkinder
     und Familienkinder)

4.2 Ergebnisse zum Vergleich ehemaliger Pflege- und Heimkinder und in
       ihrer Herkunftsfamilie aufgewachsener junger Menschen (Familienkinder)

4.3 Ergebnisse zur Hauptstichprobe der Pflegekinder

5. Diskussion

5.1 Bedeutung der Ergebnisse für die Forschung
5.1.2 Bedeutung der Ergebnisse für die Entwicklungspsychopathologie
5.1.3 Bedeutung der Ergebnisse für Persönlichkeit, Selbstbild und Bindung
5.1.4 Bedeutung der Ergebnisse für die Forschung im Bereich der Fremdunterbringungen
5.1.5 Bedeutung der Ergebnisse für die Forschung im Bereich der Pflegekindervermittlung
5.1.6 Diskussion kritischer Aspekte der Studie

6. Zusammenfassung

7. Literaturverzeichnis

8. Anhang

 

Im theoretischen Hauptteil werden die für fremdplatzierte Kinder wichtigsten Erkenntnisse aus der Bindungsforschung zusammengetragen. Nowacki referiert über die Störanfälligkeit früher Kindesentwicklung durch Traumata und Kindesmisshandlung sowie über die langanhaltenden negativen Belastungen und Folgen. Im Kapitel über das von George, Kaplan und Main entwickelte Erwachsenenbindungsinterview (AAI) ist dann zu lesen:
„Im Adult Attachment Interview sei eine sichere Bindung durch eine ausgewogene Repräsentation von Autonomie und Bindungsbedürfnissen beziehungsweise emotionaler Verbundenheit charakterisiert (Ziegenhain, 2001). Im Englischen wird von ‚secure’ oder ‚free-autonomous’ gesprochen und auch im deutschen die Abkürzung ‚F’ verwendet.
   Beziehungserfahrungen werden von Personen mit einer sicheren Bindungsrepräsentation als bedeutsam für die Persönlichkeitsentwicklung erachtet, und der Zugang zu positiven und negativen Kindheitserfahrungen fällt ihnen im Interview leicht. Emotionale und kognitive Anteile sind in der Darstellung ausgewogen repräsentiert, und die Darstellung ist ausführlich, aber präzise auf die gestellten Fragen bezogen. Die sicher-autonome Bindungsrepräsentation findet sich sowohl bei Jugendlichen und Erwachsenen mit positiven als auch mit negativen Kindheitserfahrungen, wobei ungünstige Beziehungserfahrungen offen reflektiert und häufig versöhnlich geschildert werden....
   In einem von der Autorin durchgeführten Interview schildert eine junge Frau, dass sie sich in ihrer Dauerpflegefamilie verstanden und beschützt gefühlt, besonders in Bezug auf ihre negative Erfahrungen mit der vorausgegangenen Übergangspflegestelle:

    ‚Ich habe mich da sicher und verstanden gefühlt [in der Dauerpflegefamilie, Anm. der Autorin]. Ich kann mich an eine Situation erinnern, da hatten sich die Pflegeeltern [der Übergangspflegestelle, Anm. der Autorin] angekündigt, und ich war eigentlich da wieder trocken, ich hab ja bis neun Jahren ins Bett gemacht, und dann wusste ich, dass die kommen und in der Nacht habe ich dann wieder ins Bett gemacht. Und dann hat sie [die Dauerpflegemutter] gesagt, die brauchen gar nicht mehr vorbeizukommen. Das fand ich damals total erleichternd.’ (Auszug aus einem Pflegekinderinterview)

   Die junge Frau äußert sich positiv über ihre Beziehung zu den Dauerpflegeeltern und kann dazu auch ein konkretes Beispiel benennen. Außerdem ist sie offen in Bezug auf ihre psychischen Schwierigkeiten (Enuresis), ohne dabei dem Ehepaar der Übergangspflegestelle übermäßige Vorwürfe zu machen.
   Ein zentrales Merkmal der sicher-autonomen Bindungsrepräsentation ist die Kohärenz. Dabei spielt die Einschätzung der Übereinstimmung oder Nicht-Übereinstimmung zwischen semantischen und episodischen Gedächtnissystemen eine wichtige Rolle (Ziegenhain, 2001). Hierbei wird Bezug genommen auf die vier Maximen der Kohärenz nach Grice (1975), deren Einhaltung als Zeichen eines gelungenen Diskurses gelten. Es handelt sich hierbei um die Aspekte:

  • Qualität, die durch Aufrichtigkeit gekennzeichnet ist,
  • Quantität, die die Verwendung kurzer, aber hinreichender informativer Äußerungen beinhaltet,
  • Relevanz, die sich durch relevante und themenbezogene Äußerungen auf die gestellten Interviewfragen auszeichnet,
  • Art und Weise / Modalität, die durch klare, eindeutige und geordnete Beantwortung der Fragen gekennzeichnet ist.

   Weiterhin ist eine Einsichtsfähigkeit in Auswirkungen der Erfahrungen auf das eigene Handeln ein Kennzeichen sicherer Bindungsrepräsentationen. So schildert die gleiche junge Frau, aus dem bereits oben zitierten Interview in Bezug auf mögliche Auswirkungen ihrer Erfahrungen auf den Umgang mit ihrem Kind, das sie zum Zeitpunkt des Interviews erwartete:

    ‚Ich hoffe einfach nicht, dass ich da irgendwas auf mein Kind übertrag‘. Also, ich denke mal Schläge nicht so, aber dass ich in manchen Situationen was sehe, was eigentlich nicht da ist und dann was Unbedachtes tue. Also das möchte ich nicht machen, aber vorher sagt man immer so viel und wenn das Kind dann da ist, muss man abwarten, wie es dann tatsächlich wird.’ (Auszug aus einem Interview mit einem ehemaligen Pflegekind)

   Personen mit einer autonom-sicheren Bindungsrepräsentation zeichnen sich also insgesamt durch einen kohärenten Erzählstil im Adult Attachment Interview aus. Ihre Erfahrungen mit frühen Bezugspersonen müssen nicht notwendigerweise positiv gewesen sein, sondern korrektive Erfahrungen, z.B. durch Therapie, können die mentale Bindungsrepräsentation positiv beeinflusst haben.“ (S.19f.)

Zusammenfassend wird der Theorieteil folgendermaßen bilanziert:
„Die Stabilität und Qualität früher Beziehungen eines Kindes an primäre Bezugspersonen sind wichtige Faktoren für seine weitere Entwicklung. Die Grundlagen dieser Prämisse sind in der Bindungstheorie formuliert, und durch verschiedene Meßmethoden sind die Bindungsstile im Kindes- und Erwachsenenalter erfassbar. Primäre Bezugspersonen, in der Regel die Eltern, sichern normalerweise das Überleben und die Entwicklung des Kindes. Traumatische Erfahrungen durch die primären Bezugspersonen in Form von Vernachlässigung, Misshandlung oder sexuellem Missbrauch können massive Folgen für die Entwicklung und in extremen Fällen für das Überleben haben. An dieser Stelle setzen Hilfen zur Erziehung durch das Jugendamt an. Zu den Hilfen gehören neben ambulanten Unterstützungen von Familien die Fremdplatzierung der Kinder in Form von Pflegefamilien oder institutioneller Pflege (Heimeinrichtungen). Die Rahmenbedingungen dieser Hilfen sind sehr unterschiedlich. Es ist davon auszugehen, dass in Heimeinrichtungen trotz veränderter Struktur die Inkonsistenz von festen Bezugspersonen eher auftritt als in Pflegefamilien. Letztere können jedoch auch sehr unterschiedlich strukturiert sein, unter Anderem abhängig davon, ob die Pflegefamilie eher den Stellenwert einer Ersatz- oder einer Ergänzungsfamilie hat. Nach dem Konzept des Ersatzfamilienansatzes ist das Ziel der Unterbringung der Integration des Kindes in eine neue Familie.
   Sowohl die Erlebnisse in der Herkunftsfamilie als auch die jeweilige Form der Fremdunterbringung haben offenbar Auswirkungen auf die Bindungsrepräsentation, die psychische Gesundheit und die Persönlichkeitsfaktoren einer Person.
   Sichere Bindungsrepräsentationen gehen deutlich häufiger mit niedrigeren psychischen Belastungen und flexibleren Persönlichkeitsstilen einher als unsichere und unverarbeitete Bindungsrepräsentationen. Es ist also davon auszugehen, dass aufgrund der größeren Konstanz von Bezugspersonen die Unterbringung in einer Pflegefamilie zu einem höheren Anteil sicherer und verarbeiteter Bindungsrepräsentationen, einer geringeren psychischen Belastung und einer flexibleren Persönlichkeitsstruktur führt als die Unterbringung in einer Heimeinrichtung.
   Zur Erfassung des Erfolges eines Pflegeverhältnisses können neben dem häufigsten Erfolgskriterium „kein vorzeitiger Abbruch“ noch weitere Kriterien sinnvoll sein. So dürfte der Nachweis sowohl einer erfolgreichen Integration eines Pflegekindes in seine Pflegefamilie nach dem Modell von Nienstedt und Westermann (1989), als auch der Nachweis autonomer und verarbeiteter Bindungsrepräsentationen im Erwachsenalter, sowie eine niedrige psychische Belastung Möglichkeiten darstellen, erfolgreiche Pflegeverhältnisse zu definieren.“ (S.94f.)

Die Hauptstichprobe des empirischen Teils besteht aus 27 ehemaligen Pflegekindern, die im Durchschnitt im Alter von ca. fünf Jahren in Pflegefamilien vermittelt wurden. Zum Zeitpunkt des Interviews sind sie im Durchschnitt 25 Jahre alt, ca. ¾ der Probanden sind junge Frauen (dementsprechend ca. ¼ junge Männer), die im Mittel ca. elf Jahre in einer Pflegefamilie als Dauerpflegekind ohne Rückkehroption lebten. Alle Kinder wurden vor der Unterbringung massiv vernachlässigt, zusätzlich gab es in sechs Fällen schwere körperliche Misshandlungen in der Vorgeschichte und in vier Fällen dringenden Verdacht auf Missbrauch. Die erste Vergleichsstichprobe besteht aus 22 ehemaligen Heimkindern, in der Mehrzahl junge Frauen, die im Alter von durchschnittlich elf Jahren in Heimpflege gekommen waren und dort für mindestens vier Jahre verblieben. In den Vorgeschichten wird ebenfalls über traumatische Ereignisse berichtet. Bei der zweiten Vergleichsstichprobe handelt es sich um in ihren Familien sozialisierte Psychologiestudenten.

Ein interessantes Ergebnis ist der empirische Beleg dafür, dass Kinder, bei denen die ersten drei Phasen des Integrationsmodells von Nienstedt und Westermann aufgetreten sind, deutlich häufiger erfolgreich in der Pflegefamilie integriert sind: „Es lässt sich festhalten, dass empirische Hinweise für die Theorie der Integration von Nienstedt und Westermann (1989) gefunden werden konnten. Die Hypothese konnte bestätigt werden“ (S.194)

Letztendlich bestätigt die durchgeführte Untersuchung die Bindungstheorie von Bowlby (1951, 1973): „Im Ergebnis zeigten die ehemaligen Pflegekinder deutlich günstigere Verteilungen der Bindungsrepräsentationen, eine bessere psychische Befindlichkeit und günstigere Persönlichkeitsfaktoren als die ehemaligen Heimkinder.“ (S.274)

Bilanzierende Bewertung:
Der Theorieteil dieses Buches ist sehr verdienstvoll und die durchgeführte Untersuchung  ein weiterer Beleg dafür, dass Pflegeeltern die schwierigen heilpädagogischen Aufgaben in der Arbeit mit schwer traumatisierten Kindern in der Regel gut bewältigen und dass die bindungstheoretischen Erkenntnisse sowie die speziellen auf Pflegefamilien gerichteten Hypothesen von Nienstedt und Westermann sich deutlich bewähren. Andererseits zeigt sich auch ein erheblicher weiterer Diskussions- und Forschungsbedarf in diesem Bereich.
Der Monographie ist zu wünschen, dass die im Pflegekinderwesen Tätigen sie gründlich zur Kenntnis nehmen und die dort Forschenden daran anknüpfen.

Christoph Malter (Nov. 2007)  

 

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