In bestimmten Situationen scheint es uns und unseren Kindern ratsam zu schweigen, manche verstummen ganz oder doch immer wieder in bestimmten Situationen oder gegenüber bestimmten Menschen. Dann greift die Diagnose ‘totaler’ oder ‘elektiver Mutismus’. Das einzige umfassende und gründliche deutsche Lehrbuch über diese komplexe und vielfältig bedingte Reaktionsform stammt von dem Sprachheilpädagogen Dr. Boris Hartmann und ist gerade in vierter Auflage erschienen.
Der Aufbau des Buches folgt bester psychiatrischer Systematik und Didaktik:
Zuerst wird der Begriff ‘Mutismus’ gründlich analysiert (1. Kap.), dann folgt eine differenzierte Darstellung der Symptome (2. Kap.), eine vergleichende Darstellung der konkurrierenden Entstehungstheorien (3. Kap.), differentialdiagnostische Abgrenzungen gegenüber ähnlichen, aber doch ganz anderen Störungen (4. Kap.), pädagogische und therapeutische Antworten (5. Kap.) und die prognostischen Aussichten (6. Kap.).
Der zweite Teil des Buches ist der Beschreibung von drei Mutismus-Patienten gewidmet. Ihre Entwicklung und Behandlung illustriert, reflektiert und stützt den vorgängigen theoretischen Teil. Mit dieser sich gegenseitig befruchtenden Darstellung von genereller Theorie und individueller Praxis führt Boris Hartmann das geistige Erbe seines Vaters Klaus Hartmann weiter, dessen Lebenswerk ebenfalls darin besteht, eine psychische Störung, nämlich die umgangsprachlich ‘Verwahrlosung’ genannte emotionale Behinderung, im ständigen Blickwechsel zwischen qualitativer Kasuistik einerseits und quantitativer Statistik andererseits zu verstehen und zu behandeln. Sein jüngstes Buch, Lebenswege nach Heimerziehung, wurde in Mittendrin 1/97 vorgestellt.
Das Buch seines Sohnes kann allen dringend empfohlen werden, die als Eltern, Pädagogen und Therapeuten mit sprachscheuen und schweigenden Kinder zu tun haben und unter der ohnmächtigen Hilflosigkeit leiden, in die sie uns immer wieder versetzen.
Kurt Eberhard (Sept. 00)
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