FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Rezension / Jahrgang 2008

 



Gerhard Roth

Persönlichkeit, Entscheidung und Verhalten

Warum es so schwierig ist,
sich und andere zu ändern

Klett-Cotta, 2008, 4. Aufl.
(349 Seiten, 24,50 Euro)

 

Der Autor: Gerhard Roth hat in Philosophie und in Biologie promoviert. Er ist Professor für Verhaltensphysiologie und Direktor am Institut für Hirnforschung an der Universität Bremen, Rektor des Hanse-Wissenschaftskollegs in Delmenhorst und Präsident der Studienstiftung des deutschen Volkes. Bekannt wurde er durch seine drei Bücher »Das Gehirn und seine Wirklichkeit«, »Fühlen, Denken, Handeln« und »Aus Sicht des Gehirns«.

Im Vorwort erläutert der Autor sein Anliegen:
»Irgendetwas an unseren bisherigen Vorstellungen darüber, wie Menschen ihre Entscheidungen treffen und wie sie ihr Handeln steuern bzw. wie ihr Handeln gesteuert wird, ist offenbar falsch. Ganz offensichtlich geben bei beiden Prozessen weder allein der Verstand noch allein die Gefühle den Ton an, weder allein der bewusste klare Wille noch allein der unbewusste Antrieb, sondern beides steht jeweils in einer komplizierten Wechselwirkung. Darüber, wie diese Wechselwirkung aussieht und was man daraus für Entscheidungsprozesse und Versuche lernen kann, andere in ihrem Verhalten zu ändern und schließlich auch sich selbst, soll es in diesem Buch gehen. …
     Im Zentrum der hier präsentierten Vorstellungen steht ein neurobiologisch fundiertes Modell der Persönlichkeit. Persönlichkeit ist danach von vier großen Determinanten bestimmt, nämlich von der individuellen genetischen Ausrüstung, den Eigenheiten der individuellen (vornehmlich vorgeburtlichen und frühen nachgeburtlichen) Hirnentwicklung, den vorgeburtlichen und frühen nachgeburtlichen Erfahrungen, besonders den frühkindlichen Bindungserfahrungen, und schließlich von den psychosozialen Einflüssen während des Kindes- und Jugendalters. Aus dem Modell der unterschiedlichen Ebenen der Persönlichkeit des Gehirns und ihrer ganz spezifischen Dynamik und Plastizität ergeben sich die Bedingungen für Entscheidungen und auch die Möglichkeiten und Grenzen der Veränderung des Verhaltens anderer und des Individuums selbst.«

Hauptüberschriften des Inhaltsverzeichnisses:
Vorwort
1. Persönlichkeit, Anlage und Umwelt
2. Ein Blick in das menschliche Gehirn
Exkurs 1: 
Methoden der Hirnforschung
3. Ich, Bewusstsein und das Unbewusste
4. Die Verankerung der Persönlichkeit im Gehirn
Exkurs 2:
Verstand oder Gefühle – ein kleiner Blick in die Kulturgeschichte
5. Ökonomie und Psychologie der Entscheidungsprozesse
6. Psychologie und Neurobiologie von Verstand und Gefühlen
7. Was uns Handlungspsychologie und Neurobiologie über die Steuerung von
   Willenshandlungen sagen
8. Welches ist de beste Entscheidungsstrategie?
Exkurs 3:
Wie veränderbar ist der Mensch? Ein zweiter Blick in die Kulturgeschichte
9. Persönlichkeit, Stabilität und Veränderbarkeit
10. Veränderbarkeit des Verhaltens aus Sicht der Lernpsychologie
11. Motivation und Gehirn
12. Einsicht und Verstehen
13. Über die grundlegende Schwierigkeit, sich selbst zu verstehen
14. Was können wir tun, um andere zu ändern
15. Möglichkeiten und Grenzen der Selbstveränderung
16. Persönlichkeit und Freiheit
Literaturzitate und weiterführende Literatur
Personenregister
Sachregister

Die folgenden Textproben sollen einen Einblick in Inhalt und Stil des Buches vermitteln:

Zur Bedeutung frühkindlicher Einflüsse und der Bindungserfahrung heißt es im 1. Kapitel:
»Fest steht inzwischen, dass traumatische Ereignisse kurz vor, während und nach der Geburt wie etwa Gewalteinwirkung, starke psychische Belastungen und Drogeneinnahme bzw. massiver Alkohol- und Nikotinmissbrauch der Mutter gegen Ende der Schwangerschaft eine hohe Übereinstimmung mit späterem selbstschädigenden Verhalten einschließlich eines erhöhten Selbstmordrisikos des Individuums aufweisen. Dies erklärt sich dadurch, dass das noch sehr unreife und sich schnell entwickelnde Gehirn des Ungeborenen äußerst empfänglich für Umwelteinflüsse ist, die entweder direkt auf den Fötus oder indirekt über das Gehirn der Mutter, das ja mit dem des Fötus eng zusammenhängt, einwirken. Alles, was die Mutter an Schädigungen sich selbst zufügt oder was ihr zugefügt wird, beeinflusst ihr Gehirn, und dort werden als Reaktion bestimmte Substanzen freigesetzt, die dann über die Blutbahn zum Ungeborenen und seinem Gehirn laufen und dort Schaden anrichten können und gleichzeitig prägend wirken. So werden auch die Fähigkeit, Stress zu ertragen, und die Empfindlichkeit für Schmerz im Erwachsenenalter vorgeburtlich und durch die Ereignisse während der Geburt bestimmt. Untersuchungen haben gezeigt, dass die Stresstoleranz des Erwachsenen deutlich erniedrigt und die Schmerzempfindlichkeit deutlich erhöht sind, wenn die Umstände um die Geburt herum für das Neugeborene stark belastend bzw. schmerzvoll waren (Anand und Scalzo, 2000).
     Der frühen Mutter-Kind-Beziehung bzw. der frühkindlichen Bindungserfahrung wird seit den bahnbrechenden Untersuchungen des österreichisch-amerikanischen Mediziners und Psychologen Rene Spitz (1887-1974) eine besondere Bedeutung für die Entwicklung der Persönlichkeit eines Menschen zugeschrieben. Spitz erkannte als erster, dass die Art der emotional-nicht-verbalen Kommunikation zwischen dem Säugling und seiner Bezugsperson, vornehmlich der leiblichen Mutter, entscheidend für die weitere psychisch-kognitive Entwicklung des Säuglings und Kindes ist und dass Defizite in diesem Bereich (der bekannte 'Hospitalismus') schwere und häufig irreparable psychische Schäden hervorrufen können, wie die jüngsten Untersuchungen an russischen und rumänischen Waisenkindern zeigen, die adoptiert wurden.« (S. 22/23)

Über die Grenzen der Erziehung schreibt der Autor:
»Es gibt direkte genetische und entwicklungsbedingte Hemmnisse der Sozialisierung und Erziehung. Dramatisch wird es, wenn sich diejenigen oberen limbischen Zentren, die für die Sozialisierung zuständig sind, nicht oder nicht genügend entwickeln, vor allem der orbitofrontale und ventromediale präfrontale Cortex. Viele solcher Personen, meist Jungen bzw. Männer, fallen schon in früher Jugend durch impulsives, egozentrisches und gefühlloses Verhalten auf (z. B. ständiges Prügeln, Schikanieren der Umgebung und Tierquälerei) und sind durch keine der üblichen erzieherischen Maßnahmen zu bessern. Oft stellen Neuropsychologen bei ihnen auch die Unfähigkeit fest, sich in die Gefühle und Motive der anderen hineinzudenken; sie zeigen also Empathie-Defizite.
     Solche Persönlichkeitsstörungen findet man besonders bei den so genannten 'Psychopathen', die ohne jedes Mitleid die größten Grausamkeiten begehen können und anschließend keinerlei Reue zeigen. Etwas ganz Ähnliches tritt auch bei Personen auf, deren limbisches Frontalhirn durch einen Unfall, Erkrankung oder einen Schlaganfall verletzt wurde. In ungünstigen Fällen kann dadurch eine friedliche, offene und liebenswürdige Person zu einem egozentrischen und rücksichtslosen Menschen werden, wie dies der amerikanische Hirnforscher Antonio Damasio bei dem amerikanischen Ingenieur Phineas Gage anschaulich beschrieben hat (Damasio, 1994). Dies nennt man in der Neuropsychologie eine 'erworbene Soziopathie'.« (S. 98/99)

Zur Frage wie eine gewalttätige Persönlichkeit entsteht:
»Natürlich ist es für die Gesellschaft sehr wichtig herauszufinden, welches die Ursachen für solch unbelehrbares Verhalten sind. In der Dunedin-Studie zeigte sich, dass nur wenige Faktoren für das kriminelle Verhalten dieser Kerngruppe hauptsächlich verantwortlich sind. Hierzu gehören Kriminalität der Eltern, Armut, überstrenge oder inkonsequente Erziehung, einschwieriges Temperament und Hyperaktivität, frühzeitiger 'schlechter', d. h. krimineller Umgang und kognitiv-neurologische Störungen. In den vergangenen Jahren haben viele weitere Untersuchungen, die wir in der 'Delmenhorster Gewaltstudie' zusammengetragen haben (Lück, Strüber und Roth, 2005), diese Befunde bestärkt. Dabei zeigte sich, dass Angehörige der gewalttätigen Kerngruppe in der Regel eine gewisse genetische Vorbelastung (Prädisposition) in Richtung auf eine leichte Erregbarkeit, mangelnde Impulshemmung, niedrige Frustrationsschwelle und Trotzverhalten aufweisen, die vor allem mit einem niedrigen Spiegel des Neuromodulators Serotonin zusammenhängen. Von Serotonin haben wir bereits gehört, dass es psychisch beruhigend wirkt; ein Mangel an Serotonin ruft das Gefühl des Bedrohtseins und - zumindest bei Männern - reaktive Aggression hervor. Ein niedriger Serotoninspiegel führt zu einer niedrigen Frustrationstoleranz, zum ständigen Gefühl der Beunruhigung und einer leichten Erregbarkeit. Hinzu kommen typische kognitiv-emotionale Defizite wie die Unfähigkeit, das Verhalten anderer richtig zu deuten, was oft dazu führt, dass neutrale oder gar positive Gesichtsausdrücke und Gesten der Mitmenschen als bedrohend fehlinterpretiert werden und man zuschlägt, "weil man sich ja wehren musste!". Diese neurobiologischen Defizite sind aber nicht die alleinigen Verursacher von Kriminalität, sondern fast immer finden sich auch deutliche Defizite in der frühkindlichen Bindungserfahrung.« (S. 215/216)

Besonders interessieren Roth die Möglichkeiten und Grenzen der Selbstveränderung:
»Menschen können sich also tief greifend ändern, aber hierbei sind immer ein starker externer Auslöser oder eine besondere affektiv-emotionale Situation nötig. Eigentlich werden sie auch hierbei eher geändert, als dass sie sich "von selbst" ändern – sie beschreiben dies nur nicht so. Zudem reagieren keineswegs alle Menschen mit langfristigen Persönlichkeitsveränderungen auf solche dramatischen Situationen. Es ist eher so, dass - wie wir in Kapitel 9 gehört haben - die Mehrzahl nach einiger Zeit zu ihrer ursprünglichen Lebenshaltung und -führung zurückkehrt. Dies stimmt überdies mit der Erfahrung in der Psychotrauma-Therapie überein, die lautet, dass ein Drittel derer, die schwer belastende Ereignisse erfahren haben (meist Katastrophen, Kriegsereignisse oder brutale Vergewaltigungen und sonstige Misshandlungen), keinerlei Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTSD) zeigen, ein weiteres Drittel nur vorübergehende Symptome und nur ein Drittel lang anhaltende PTSD-Symptome entwickelt. Von diesen sind wiederum ein Drittel gut, ein zweites Drittel nur schwer und ein drittes Drittel nicht psychotherapeutisch erfolgreich behandelbar (vgl. dazu Sachsse und Roth, 2007).« (S. 306/307)

Auf die nach wie vor ungelösten Probleme der Willensfreiheit reagiert Roth mit der Position des Kompatibilismus:
»Wir kommen letztendlich zu dem Schluss, dass Willensfreiheit mit einer Determiniertheit verträglich ist, dass Indeterminiertheit Freiheit niemals steigern kann und dass ein zu hohes Maß an Indetermination (an Zufall) die Freiheit sogar beeinträchtigt. Dies ist nicht in dem fatalen Sinne von "Freiheit ist Einsicht in die Notwendigkeit" gemeint, sondern in dem Sinne, dass mein Handeln durch meine Motive bestimmt wird, die wiederum aus meiner Persönlichkeit resultieren. Das ist der Standpunkt des Kompatibilismus. In dem Maße, in dem die Entwicklung meiner Persönlichkeit durch Zufälligkeiten bestimmt ist, nimmt meine Willensfreiheit ab.
     Meine Persönlichkeit darf aber nicht zwanghaft mein Handeln bestimmen, sondern muss Optionen zulassen. Diese Optionen ergeben sich erstens aus der Vielfalt möglichen Handelns – und die ist bei uns Menschen fast unbegrenzt -, und zweitens daraus, dass mein Gehirn bewusst oder unbewusst Alternativen und ihre Konsequenzen nach ihrer Wünschbarkeit abwägt. Dies tut es je nach meinen Erfahrungen, und so geht hierbei mein Erfahrungsgedächtnis ein, und damit alles, was ich je erlebt habe und mein limbisches System als gut oder schlecht bewertet hat. Dieser Prozess ist der wichtigste in unserer Handlungssteuerung. Er würde nicht funktionieren, wenn hierbei Zufall und motivloses Entscheiden eine maßgebliche Rolle spielten.« (S. 328/329)

Bilanzierende Bewertung:
Das vorliegende Werk kann einerseits als zuverlässiges Lehrbuch anerkannter wissenschaftlicher Erkenntnisse genutzt werden und enthält andererseits sehr interessante neue Einsichten und Ideen. Es profitiert davon, dass der Autor hohe naturwissenschaftliche, psychologische und philosophische Kompetenzen einbringen kann und selbst forschend tätig ist. Dieses inhaltlich und didaktisch überzeugende Buch ist nicht nur einschlägig engagierten Wissenschaftlern und Praktikern dringend zu empfehlen, sondern allen, die nach einem Menschenbild suchen, das die modernen Erkenntnisse aus den unterschiedlichsten Forschungsfeldern aufgreift und zusammenführt.

Kurt Eberhard  (Febr. 2008)

 

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