FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Rezension / Jahrgang 2003

 

Herausgeber: B. Herpertz-Dahlmann, F. Resch, M. Schulte-Markwort, A. Warnke

Entwicklungspsychiatrie
Biopsychologische Grundlagen und die Entwicklung psychischer Störungen

Schattauer Verlag, 2003 (838 Seiten, 99,00 Euro)

 

Das schon äußerlich eindrucksvolle Handbuch macht hohe Ansprüche geltend:
„ Psychiatrische Störungen sind grundsätzlich aus einer dynamischen Entwicklungsperspektive zu betrachten. Ausgehend von dieser Tatsache, ist ein Buch entstanden, das nicht nur ein Referenzwerk für alle Kinder- und Jugendpsychiater ist, sondern darüber hinaus einen unschätzbaren Fundus für jeden Psychiater, jeden Nervenarzt und jeden klinischen Psychologen enthält.
Erstmals werden die Grundlagen der psychischen Entwicklung und ihrer Pathologie aus einer umfassend multidisziplinären Perspektive durchdekliniert. Der Bogen spannt sich von den jüngsten Erkenntnissen aus Genetik und Molekularbiologie, der Neurobiologie, Entwicklungspsychologie bis hin zur klinischen Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie. Auf dieser Basis gibt das Buch einen fundierten Überblick über die klinischen Bezüge spezieller Krankheitsbilder wie Schizophrenie, Depression, Angst, Dissoziation, Zwang, Ess-Störung etc. Dabei wird eine empirisch fundierte integrative Darstellung einzelner Störungen und ihrer Behandlung gegeben.
Ein kompetentes und renommiertes Autorenteam aus Kinder- und Jugendpsychiatern, Ethologen, Psychiatern, Neurobiologen, Klinischen Psychologen und Genetikern gewährleistet die hohe Aktualität des Handbuchs.“
(Klappentext)

Auch das Inhaltsverzeichnis signalisiert weitreichende Ambitionen:

1.   Entwicklungsbiologische Grundlagen
1.1 Entwicklungsethologie - I. Schlupp, R. Wanker
1.2 Entwicklungsgenetik - M. Wegner
1.3 Entwicklungsneuroanatomie - G. Teuchert-Naadt, K. Lehmann
1.4 Entwicklungsneuroendokrinologie - K.Wiedemann
1.5 Entwicklungsneurophysiologie - A. Rathenberger, T. Banaschewski,  M. Siniatchkin, H. Heinrich

2.   Grundlagen körperlicher und psychischer Entwicklung
2.1 Die Entwicklungspsychologie des Denkens (Theory of Mind) - B. Sadian
2.2 Gedächtnisentwicklung - W. Schneider
2.3 Überblick über die Emotionspsychologie - R. Krause
2.4 Elternbindung und Entwicklung des Kindes in Beziehungen - K. u. K. E. Grossmann
2.5 Spiel - R. Oerter
2.6 Temperament und Persönlichkeit - S. C. Herpertz, H. Saß, B. Herpertz-Dahlmann
2.7 Sexualität - B. Strauß
2.8 Körpergewicht - J. Hebebrand
2.9 Wachstum und Entwicklung - R. H. Largo

3.   Entwicklungspsychiatrische Grundlagen von psychischen Störungen, Therapie
und Ethik
3.1 Die Bedeutung von Entwicklungsprozessen für die Manifestation psychischer Störungen      - H. Remschmidt
3.2 Prinzipien der Vererbung - T. Grimm
3.3 Entwicklungspsychotraumatologie - P. Riedesser
3.4 Entwicklungspsychopharmakologie - E. Schulz, C. Fleischhaker
3.5 Entwicklungsorientierte Psychotherapie - F. Mattejat
3.6 Risikofaktoren kindlicher Entwicklung und Verlaufsprinzipien kinder- und   jugendpsychiatrischer Erkrankungen - M. H. Schmidt, C. Göpel
3.7 Entwicklungspsychiatrie - B. Herpertz-Dahlmann, F. Resch, M. Schulte-Markwort,       A. Warnke
3.8 Ethische Fragen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie -  A. Warnke, J. Fegert, C. Wewetzer, H. Remschmidt

4.    Kinder- und jugendpsychiatrische Erkrankungen und Entwicklungsstörungen
4.1 Autismus - H. Remschmidt
4.2 Umschriebene Entwicklungsstörungen
4.2.1 Einl. zum übergeordneten Begriff  ’umschriebene Entwicklungsstörungen’ – A. Warnke
4.2.2 Umschriebene Entwicklungsstörung des Lesens und der Rechtschreibung - A.Warnke
4.2.3 Umschriebene Entwicklungsstörungen der Sprache - H. Amorosa
4.2.4 Umschriebene Rechenstörung - M. von Aster
4.3 Intelligenzminderung - A.Wamke
4.4 Enuresis, Enkopresis - A. von Gontard
4.5 Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörungen (ADHS) - G. Lehmkuhl, M. Döpfner
4.6 Bindungsstörungen - E. Pfeiffer, U. Lehmkuhl
4.7 Tic-Störungen - A. Rothenberger, T. Banaschewski, M. Siniatchkin
4.8 Zwangsstörungen - C. Wewetzer, M. Simons, K. Konrad, B. Herpertz-Dahlmann
4.9 Angststörungen - B. Blanz
4.10 Affektive Störungen - M. Schulte-Markwort, N. Forouher
4.11 Schizophrenie - F. Resch
4.12 Ess.Störungen - B. Herpertz-Dahlmann
4.13 Suchtstörungen - R. Thomasius, M. Jung, M. Schulte-Markwort
4.14 Dissoziative und somatoforme Störungen - R. Brunner, F. Resch
4.15 Störungen des Sozialverhaltens - W. Matthys. H. van Engeland, F. Resch
4.16 Suizid und Suizidversuch - Suizidalität - A.Warnke
4.17 Persönlichkeitsstörungen - B. Herpertz-Dahlmann, S. C. Herpertz

Sachverzeichnis

Da es aussichtslos ist, eine Inhaltsanalyse über 42 umfangreiche Artikel zu versuchen, soll einer herausgegriffen werden und zwar der über Bindungsstörungen, weil er die Leser unserer Zeitschrift besonders interessieren dürfte und weil er in seinem Aufbau die anderen nosologischen Beiträge gut repräsentiert, die alle nach dem gleichen, sehr überzeugenden Gliederungskonzept gestaltet sind. Ferner bieten die beiden Autoren eine ausgewogene Balance zwischen biologischer und psychologischer Sichtweise.

Zunächst weisen sie auf eine irritierende Besonderheit des Begriffs der Bindungsstörungen hin:
„In nosologischer Hinsicht nehmen Bindungsstörungen eine einzigartige Stellung (Zeanah u. Emde 1994) unter den kinderpsychiatrischen Krankheitsbildern ein, weil nicht nur intrapersonale Symptomatik, sondern auch interpersonales Beziehungsverhalten als Diagnosekriterium gilt und explizit (DSM-IV) oder implizit (ICD-10) pathogene psychosoziale Umstände zur Diagnosestellung gefordert werden. Dies hat zu vielfältiger theoretischer und methodologischer Kritik geführt (Greenberg 1999; Zeanah 1997). Es herrscht jedoch Übereinstimmung in der Unterscheidung von zwei Grundformen:

  • eine gehemmte Form (’inhibited’) mit Vermeidung, Rückzug, Hypervigilanz
  • eine ungehemmte Form (’disinhibited’) mit vorwiegend nicht selektivem, distanzlos-diffusem Kontaktverhalten. ..... “

Im ätiologischen Kapitel unterscheiden sie zwischen biologischen und biografischen Ursachen, wobei diese interagieren, weil biologische Vulnerabilität den biografischen Einflüssen Raum gibt und diese nicht nur psychische, sondern auch physische Schäden setzen:
„Biologische Ursachen
Obwohl biografische Faktoren in der Pathogenese entscheidend sind, ist zu vermuten, dass biologische Faktoren im Sinne von Vulnerabilitäten eine zusätzliche Rolle spielen.
Leicht irritierbare Neugeborene entwickeln mit höherer Wahrscheinlichkeit eine unsichere Bindung (Fremmer- Bombik 1996), die als Risikofaktor für die Entwicklung einer Bindungsstörung angesehen wird.
Eine psychobiologische Sichtweise geht davon aus, dass in der frühen kindlichen Entwicklung ein enger Zusammenhang besteht zwischen der neuronalen Entwicklung, besonders im limbischen System und Frontalhirn, und Beziehungserfahrungen (Streeck-Fischer u. van der Kolk 2000). Dies bedeutet, dass bestimmte Elemente der neuronalen Entwicklung auf Interaktionserfahrungen des Kindes angewiesen sind (Glaser 2000). Fehlen von Stimulation kann über diesen Weg zu bleibenden Schäden führen. Bei Nagern wurde gezeigt, dass bereits geringfügige Deprivation zu messbaren Verhaltensänderungen und auch morphologischen und biochemischen Veränderungen führt (Braun et al. 2000; Braun u. Bogerts 2001).
Die spezielle psychobiologische Bindungsforschung hat am Modell der neugeborenen Ratte in den letzten Jahren zu einem deutlichen Wissenszuwachs geführt (Übersicht bei Polan u. Hofer 1999). Zusammengefasst zeigte sich im Tierversuch, dass am Prozess des Bindungsaufbaus von Anfang an verschiedene sensorische und motivationale Systeme beteiligt sind, die zunächst unabhängig voneinander wirken und z. T. sogar über verschiedene Neurotransmittersysteme vermittelt werden. Diese Systeme werden Teil eines sich selbst organisierenden Systems mit reziprokem Informationsfluß in der Kind-Mutter-Interaktionseinheit. Bestimmte Komponenten der Interaktion regulieren verschiedene physiologische Systeme und Verhaltenssysteme (’hidden regulators’), deren Verlust bei einer Trennung mit Bedrohung derBindung für die kindlichen Reaktionen verantwortlich ist. Bisher ist jedoch ungeklärt, ob genetisch determinierte Unterschiede in der Reaktion auf Trennung existieren und welche zentralnervösen Strukturen beteiligt sind.

Biografische Ursachen
Es ist unstrittig, dass unzureichende Betreuung in der frühen Kindheit für die Pathogenese die entscheidende Rolle spielt, obwohl Daten an bindungsgestörten Kindern kaum erhoben wurden. Vielmehr handelt es sich eher um Rückschlüsse aus Beschreibungen von Kindern aus institutioneller Erziehung und misshandelten/vernachlässigten Kindern (Übersichten bei Zeanah 1997; Zeanah u. Emde 1994; Greenberg 1999). Allerdings bleibt bei vielen Studien die Frage offen, ob nicht Bindungstypen missverstanden werden als psychopathologische Diagnose im Sinne einer Bindungsstörung (Seiffge-Krenke 1999). Die bereits erwähnte Studie an adoptierten englischen und rumänischen Kindern mit unterschiedlich langer Deprivationsdauer (O'Connor et al. 1999; O'Connor u. Rutter 2000) zeigt einen eindeutigen Zusammenhang zwischen Deprivationsdauer und Auftreten von Zeichen einer Bindungsstörung. ..... Die Studie zeigt außerdem, dass auch nach kurz dauernder Deprivation bereits eine Bindungsstörung entstehen kann. Diese Befunde sprechen für ein multifaktorielles Ätiologiemodell, in dem biologische Vulnerabilität, Intensität und Dauer der Deprivation und schützende Faktoren sich zu einem Entwicklungspuzzle (’developmental puzzle’, O'Connor u. Rutter 2000) zusammenfügen. ..... “

Im Kapitel zur Behandlung und Prävention zeigt sich die reiche praktische Erfahrung der Autoren, die weit über die klinische Psychiatrie hinausgreift:
  „Hauptziel ist die Herstellung und Sicherung eines entwicklungsfördernden, bindungsstabilen Milieus (Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie et al. 2003). Dies kann die Herausnahme aus dem deprivierenden Milieu einschließen, wenn die Störungen gravierend sind und durch andere Maßnahmen keine ausreichenden Änderungen erzielt werden können.

Arbeit mit den Bezugspersonen und Maßnahmen der Jugendhilfe
Eine Einsicht in die Störung und eine Bereitschaft zur Behandlung ist in der Regel nur in enger Kooperation mit dem Jugendamt herzustellen. Wenn eine ambulante Behandlung mit Verbleib in der Familie zu verantworten ist, sollte - auf der Basis einer Hilfeplanung nach KJHG (§§ 27,35 a, 36) - die intensive sozialpädagogische Betreuung mit Beratung der Familie (und weiterer Betreuungspersonen) begleitet werden durch regelmäßige kinderpsychiatrische Verlaufskontrollen. In vielen Fällen wird jedoch das Jugendamt beim Familiengericht die Einschränkung der elterlichen Sorge nach § 1666 BGB beantragen müssen und das Kind - je nach Ergebnis der ambulanten Diagnostik - in stationäre kinderpsychiatrische Behandlung oder in eine sonderpädagogische Pflegestelle mit fachlicher Supervision geben. Einfache Pflegestellen sind durch Kinder mit schweren Bindungsstörungen in der Regel überfordert, und es droht die Gefahr eines erneuten Beziehungsabbruchs. Bei den in der Regel vorliegenden schweren familiären Störungen in der Vorgeschichte ist insbesondere bei Klein- und Vorschulkindern abzuwägen, ob ein Umgang mit den leiblichen Eltern im Sinne des Kindeswohls ist oder zumindest befristet zu unterbinden ist. .....

Psychotherapeutische Maßnahmen
Spezifische Psychotherapie kommt erst infrage, nachdem die beschriebenen sozial- und heilpädagogischen Maßnahmen die Basis dafür geschaffen haben und ein entsprechendes Entwicklungsalter erreicht ist. Wie bei allen anderen Maßnahmen ist auch hier dafür zu sorgen, dass die Betreuung langfristig geplant und abgesichert ist und die Entwicklung der Kinder nicht durch erneute Beziehungsabbrüche gefährdet wird. Verschiedene Settings und Methoden sind denkbar, publizierte Erfahrungen über differenzielle Wirksamkeit liegen nicht vor.

Psychopharmakotherapie
Eine Indikation zur medikamentösen Therapie besteht selten; bei Kindern mit ausgeprägter, gefährdender Unruhe und Aggressivität kommen niederpotente Neuroleptika in Betracht. Die beim psychosozialen Minderwuchs oft bestehende Schlafstörung ist nach Milieuwechsel rasch reversibel.

Prävention
Als Maßnahme der primären Prävention wäre eine Verbesserung der gesellschaftlichen Aufklärung (z. B. über Schulunterricht, Schwangerenberatung, Beratung von Ärzten) bezüglich der Bedeutung von Beziehungskonstanz denkbar. Als sekundäre Prävention wären eine Verbesserung der Früherkennung von Bindungsstörungen sowie verbesserte, langfristig abgesicherte Verlaufskontrollen nach einer Intervention wünschenswert.

Verlauf und Prognose
Trotz einiger Diskrepanzen herrscht insgesamt Einigkeit, dass frühe Auffälligkeiten im Bindungsverhalten (wie ’unsichere Bindung’ und - besonders - ’desorganisierte Bindung’) mit einem Risiko für spätere psychische Auffälligkeiten behaftet sind (Rutter u. Sroufe 2000; Greenberg 1999; Dozier et al. 1999). ..... Diese ersten Ergebnisse und klinische Erfahrungen sprechen dafür, dass Kinder mit Bindungsstörungen als kinderpsychiatrische Hochrisikopatienten angesehen werden müssen. Es ist in Analogie zu der Verlaufsforschung über Bindungstypen zu vermuten, dass gehemmte Bindungsstörungen eher für internalisierende, ungehemmte eher für externalisierende Störungen prädisponieren.“

Auch die meisten anderen Kapitel dieses Handbuches verbinden hohes theoretisches Niveau mit überzeugendem Praxisbezug und guter Lesbarkeit. Die anfangs zitierten hohen Ansprüche wurden durchweg eingelöst. Ein Wunsch für die nächste Auflage: ein Handbuch dieses Formats sollte nicht noch einmal ohne Autorenverzeichnis erscheinen.

Kurt Eberhard  (Okt. 2003)

 

 

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