FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Rezension / Jahrgang 2003

 

Effekte erzieherischer Hilfen und ihre Hintergründe

Herausgegeben vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

Verlag W. Kohlhammer, 2002 (574 Seiten)

 

Die etwas komplizierte Kooperation der beteiligten Personen und Institutionen bei der Planung und Durchführung dieser umfangreichen Untersuchung geht aus den ’Vorbemerkungen der Arbeitsgruppe’ hervor:
„Im Juli 1995 wurde dem Deutschen Caritasverband die Durchführung des Praxis- forschungsprojektes "Effekte ausgewählter Formen der Erziehungshilfe (innerhalb und außerhalb der Familie) bei verhaltensauffälligen Kindern" (im Folgenden "Jugendhilfe-Effekte-Studie" oder abgekürzt "JES" genannt) mit einer Laufzeit von vier Jahren ermöglicht; 1999 wurde eine einjährige Projektverlängerung bewilligt. Die Finanzierung des Vorhabens erfolgte durch das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, anteilig durch die Bundesländer Bayern, Bremen, Nordrhein-Westfalen und Thüringen, den Landeswohlfahrtsverband Baden sowie durch den Deutschen Caritasverband. Die Projektkoordination oblag bzw. obliegt dem Direktor des
Instituts für Kinder- und Jugendhilfe (IKJ) in Mainz - bis zum 15.10.2001 Dr. Eckhart Knab, danach Dr. Michael Macsenaere. Die wissenschaftliche Beratung erfolgte durch Prof. Dr. Dr. Martin Schmidt, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychologie des Kindes- und Jugendalters des Zentralinstituts für Seelische Gesundheit in Mannheim, und Prof. Dr. Franz Petermann, Direktor des Zentrums für Rehabilitationsforschung der Universität Bremen. Die Studie basiert auf einer Vorstudie der gleichen, interdisziplinär besetzten, Arbeitsgruppe, deren Abschlussbericht 1995 veröffentlicht wurde (Petermann & Schmidt, 1995). Begleitet wurde die Studie durch einen Beirat, der sich aus Vertretern von Bundes- und Landesministerien, Spitzenverbänden, Einrichtungen und Diensten der Jugendhilfe, Jugendämtern und (Fach)Hochschullehrern zusammensetzte.“  (S. 15)

Die Zielsetzung der Untersuchung wird wie folgt gekennzeichnet:
„Ziele der Studie waren besseres Verständnis und schrittweise Verbesserung der Hilfen zur Erziehung im Rahmen der Jugendhilfe. Das sollte durch verschiedene Ansatzpunkte erreicht werden. Zu nennen sind:

  1. Die Untersuchung der Angebotsstruktur erzieherischer Hilfen, der individuellen Planung von Hilfeprozessen und Durchführung solcher Hilfen; auf diese Weise sollten die Verantwortlichen für die individuelle wie die regionale Planung und auch die Institutionen der Jugendhilfe von den Resultaten profitieren können.
  2. Der Vergleich der Effekte unterschiedlicher Hilfen und die Bedingungen, unter denen diese Effekte erzielt werden; natürlich mussten für eine solche Betrachtung die jeweiligen Ausgangsbedingungen berücksichtigt und vergleichbar gemacht werden, ebenso die Rahmenbedingungen des jeweiligen Vorgehens.
  3. Die Betrachtung der Effekte unter den Aspekten der Strukturqualität und Prozessqualität; angesprochen sind damit die materiellen, personellen und organisatorischen Hintergründe erzieherischer Hilfen, vor allem aber die pädagogischen und therapeutischen Prozesse zwischen Kindern, Familien und professionellen Helfern.
  4. Die Erstellung von Instrumenten zur Befunderhebung und Erfolgsbeurteilung in der Jugendhilfe; sie sollten auf dem Wege der Fortbildung zur Qualitätssteigerung und Qualitätssicherung bei Planung wie Durchführung erzieherischer Hilfen beitragen, aber auch die Forschung auf diesem Sektor systematisieren und vorantreiben helfen.“ (S. 18)

Die Schwäche der Erhebung liegt in der Stichprobenauswahl, ihre Stärke in der sehr sorgfältigen und methodologisch anspruchsvollen Datenauswertung. Die Konstituierung der Stichproben ist sehr unbefriedigend,

  • weil eine der wichtigsten Jugendhilfemaßnahmen, nämlich die Familienpflege gemäß § 33 KJHG, ohne jede Begründung ausgelassen wurde;
  • weil die berücksichtigten Hilfsmaßnahmen jeweils durch zu wenig Fälle repräsentiert sind (zwischen 40 für Erziehungsbeistandschaft und 51 für Tagesgruppen);
  • weil die Auswahl der geographischen Regionen völlig unsystematisch und undurchsichtig vorgenommen wurde (Millionenstädte wie Berlin, Hamburg und München scheinen gar nicht vertreten zu sein);
  • weil die Teilnahme sowohl für die beteiligten Familien wie für die untersuchten Einrichtungen freiwillig war, was zu beträchtlichen Fehleinschätzungen in positiver Richtung führt.

Aus den mit solchen Mängeln belasteten Ergebnissen seien folgende zitiert:
„Vier der fünf Hilfearten erreichen bei Beendigung im Mittel aller Differenzmaße etwa die gleichen Effekte. Dabei weist Heimerziehung (48,2%) die höchste Veränderungsquote auf, gefolgt von Erziehungsberatung (44,5%), Tagesgruppe (44,1 %) und Sozialpädagogischer Familienhilfe (41,4%). Mit Abstand am niedrigsten sind die Effekte der Erziehungsbeistandschaften (25,5%). Diese Einschätzung wird von der Sichtweise der Fachkräfte bestätigt. Die mittlere Zielerreichung der vier erstgenannten Hilfearten liegt zwischen 62,5% (Heim) und 66,4% (Tagesgruppe), also deutlich höher und noch enger zusammen als bei den Differenzmaßen. Auch hier fallen die Selbsteinschätzungen der Fachkräfte aus Erziehungsbeistandschaften (55,0%) deutlich nach unten ab.“ (S. 396)

„Es läßt sich also konstatieren:

  • Die Strukturqualität und vor allem die Prozessqualität im Rahmen von Hilfeprozessen übertreffen die Rolle der Ausgangsmerkmale eines Kindes und seiner Familie für das Hilfeergebnis.
  • Im Rahmen der Strukturqualität ist die klinische Orientierung einer Einrichtung von Bedeutung - vor allem für die Reduktion kindlicher Symptomatik.
  • Im Rahmen der Prozessqualität rangiert die Kooperation mit dem Kind vor der Kooperation mit den Eltern. Gemeint ist dabei nicht die Kooperation des Kindes oder der Eltern, sondern alles was mit der Kooperation zusammenhängt, also auch der Aufwand, der für die Herstellung guter Kooperation mit den Partnern im Hilfeprozess verwendet wird. Knappe Prozessqualität kann also nicht mit mangelnder Kooperation eines Kindes oder seiner Eltern begründet werden, sondern an diesem Merkmal ist die hilfeerbringende Einrichtung wesentlich beteiligt.
  • Die Rolle der Elternarbeit haben die bisherigen Studien betont. Ihr Effekt ist aber nicht mit dem Strukturmerkmal allein gegeben, sondern zeigt sich erst in der Prozessqualität.
  • Den Rahmenbedingungen der pädagogischen Förderung eines Kindes im Hilfeprozess kommt ebenfalls Bedeutung zu. Ausgenommen davon sind Prozesse an Erziehungsberatungsstellen, deren Gegenstand pädagogische Förderung nur sehr begrenzt ist. Geringere Bedeutung kommt der Beteiligung des Kindes an der Prozessplanung zu.
  • Die Wahl einer Erziehungsbeistandschaft als optimal mögliche Hilfe beeinträchtigt die Effekte von Hilfen zur Erziehung.
  • Bezüglich der Veränderungen an den Auffälligkeiten eines Kindes, also der Reduktion seiner Symptome, ist die Heimerziehung den ambulanten Vorgehensweisen in Beratungsstelle und Erziehungsbeistandschaft überlegen, obwohl bei Kindern in vollstationärer Betreuung die höchste Symptombelastung gefunden wird.
  • Aufmerksamkeit verdient als Prozessmerkmal die Hilfeplanung im Jugendamt. Die Schätzungen messen dieser Variable keine Bedeutung zu, die Messungen zeigen, dass sie einen deutlichen Effekt für die später erreichbare Kompetenz des Kindes hat. (S. 526)

Sehr oft wird die Relevanz der klinischen Orientierung hervorgehoben:
„Klinische Orientierung ist relevant für den Gesamtwert der Strukturqualität (vgl. 8.5.1 ), die in Heimen und Tagesgruppen ausreichend hoch, in Sozialpädagogischen Familienhilfen und erst recht in Erziehungsbeistandschaften besonders niedrig ist. Die klinische Orientierung ist optimal in Erziehungsberatungsstellen.“ (S. 527)

Den abgebrochenen Hilfen wurde eine eigene Analyse gewidmet:
„40% der abgebrochenen Hilfen blieben ohne weiterführende Planung. Die bei 44% geplanten Anschlusshilfen waren zu zwei Dritteln von einer intensiveren Hilfeart. Man kann in dieser Quote auch Fehler bei der Hilfeplanung sehen (die nur bei 11% als Hauptgrund und für weitere 11% als Teilgrund des Abbruchs angegeben werden), d.h. dass eine intensivere Hilfeform schon früh in Betracht gekommen wäre, ganz gleich ob sie wegen mangelnder Zustimmung der Beteiligten nicht zustande kam oder weil das Risiko unterschätzt wurde.
Frühe Abbrüche - meist von den Eltern verursacht - blieben häufiger ohne Anschlusshilfe, späte zeigen eine Tendenz zu intensiveren Hilfen als Folgemaßnahme. Abgebrochene sozialpädagogische Familienhilfen bleiben häufig ohne Anschlusshilfe.“ (S. 534)

Zu den Folgerungen für die Hilfeplanung heißt es:

  • „Die heute verfügbaren Hilfen zur Erziehung erzielen in der Arbeit mit betroffenen Kindern größere Effekte als bei einem ausschließlich eltern- und familienbezogenen Ansatz. Kindbezogenes Arbeiten ist vor allem dort angezeigt, wo Eltern- und Familienarbeit nicht ausreichend wirken. Wirkungen im Umfeld von Kindern sind schwerer zu erzielen als Veränderungen bei den Kindern selbst, letztere sind stabiler.
  • Orientierung an Kompetenzen und Ressourcen der Betroffenen wird in der Hilfeplanung und Erfolgsbeurteilung noch zu wenig umgesetzt. Kompetenzsteigerung setzt aber die Reduktion kindlicher Auffälligkeiten voraus. Das Ausweichen vor diesem vermeintlich defizitorientierten Ansatz behindert kompetenzorientiertes Arbeiten in der Jugendhilfe.
  • Die Treffsicherheit von Prognosen im Rahmen der Hilfeplanung ist gering. Für einige Hilfearten ließe sie sich verbessern. Dazu müssten Merkmale des Kindes stärker im diagnostischen Prozess berücksichtigt, also die Basis der verfügbaren Informationen durch interdisziplinäre Arbeit verbreitert werden.
  • Institutionen und Dienste mit differenziertem Leistungsspektrum und klinischer Orientierung sind günstige Voraussetzungen erfolgreicher Hilfeprozesse. Bei guter innerer Vernetzung sind sie in größeren Institutionen der Jugendhilfe leichter zu erreichen. Diese Erkenntnis muss mit den Vorteilen sozialraumbezogener Hilfe ausbalanciert werden.
  • Mehr als günstige Strukturen trägt hohe Qualität der Hilfeprozesse zum Erfolg von Hilfen zur Erziehung bei. Entscheidend dafür ist das Potenzial der Einrichtungen und Dienste, Kooperation mit Kindern und Eltern zu erreichen und ihnen kompetente Partner bei der Entfaltung ihrer Autonomie zur Seite zu stellen.
  • Die Verminderung unvermeidbarer Asymmetrien in der Hilfeplanung kann Wünsche und Möglichkeiten der Betroffenen besser zur Geltung bringen, aber auch deren Grenzen und dem sich daraus ergebenden Handlungsbedarf rechtzeitig deutlich machen. Sorgfältige Hilfeplanung kann insbesondere die Effekte niederschwelliger Hilfen steigern.
  • Früh einsetzende Hilfen, ausreichende Intensität und ausreichende Dauer der Hilfeprozesse verbessern deren Wirkung. Das Hinausschieben und Verkürzen von Hilfen zur Erziehung beeinträchtigt die Ergebnisse.“  (S. 44)

Ein Forschungsbericht des vorliegenden Umfangs ist nicht bequem zu lesen, aber die Verfasser erleichtern die Lektüre durch eine übersichtliche und differenzierte Gliederung, durch zahlreiche Abbildungen und Tabellen und vor allen Dingen durch ein gut verständliches Vorkapitel ’Ergebnisse im Überblick’. Von den Praktikern an der Basis werden wahrscheinlich nur wenige den gewichtigen Band durcharbeiten, aber die Experten in den sozialpädagogischen Wissenschafts- und Planungszentren kommen um die gründliche Analyse und Verwertung der zum Teil durchaus überraschenden Ergebnisse nicht herum.

Die wichtigste Lücke, die fehlende Analyse des Pflegekinderwesens, wird hoffentlich bald durch das Forschungsprojekt ‚Die Pflege- und Adoptivfamilie als Schutzraum’ von Ronald Hofmann (s. http://www.lombroso-institut.de) geschlossen.

Kurt Eberhard  (Dezember 2003)

Der Band kann kostenlos vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend bezogen werden:
http://www.bmfsfj.de/Kategorien/Forschungsnetz/forschungsberichte,did=5916.html

 

Liste der rezensierten bzw. präsentierten Bücher

 

[AGSP] [Aufgaben / Mitarbeiter] [Aktivitäten] [Veröffentlichungen] [Suchhilfen] [FORUM] [Magazin] [JG 2011 +] [JG 2010] [JG 2009] [JG 2008] [JG 2007] [JG 2006] [JG 2005] [JG 2004] [JG 2003] [JG 2002] [JG 2001] [JG 2000] [Sachgebiete] [Intern] [Buchbestellung] [Kontakte] [Impressum]

[Haftungsausschluss]

[Buchempfehlungen] [zu den Jahrgängen]

Google
  Web www.agsp.de   

 

 

 

 

 

simyo - Einfach mobil telefonieren!

 


 

Google
Web www.agsp.de

 

Anzeigen

 

 

 

 


www.ink-paradies.de  -  Einfach preiswert drucken