FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Rezension / Jahrgang 2004

 


Michael Passolt (Hg.)

Hyperaktivität
zwischen Psychoanalyse, Neurobiologie
und Systemtheorie

2. korrigierte und erweiterte Auflage

Ernst-Reinhardt-Verlag, 2004

(189 Seiten, 19,90 Euro)

 


Während die meisten Aufsätze und Monographien über Hyperaktivität sich im Rahmen empirisch-naturwissenschaftlicher Forschungs- und Darstellungsformen halten, fühlt sich der hier vorliegende Sammelband postmoderner Denkoffenheit im Sinne der Transversalen Vernunft nach Wolfgang Welsch verpflichtet. Im Vorwort des Herausgebers heißt es:
„Den Autoren danke ich für ihre Denkanstöße. Damit werden weitere Mosaiksteine für ein Verständnis von ’Hyperaktivität’ zusammengetragen. Als Pluralitätskonzept im Sinne Transversaler Vernunft (Wolfgang Welsch) das Thema zu weiten (Hermann Schmitz) und den Blick auf Offenheit, Polyperspektivität und Umfassendheit zu richten. So wäre es schön, wenn mit diesem Konzept auch Alternativen, Unbekanntes, Zukünftiges nicht verborgen bleibt. Manches im Buch wird den Leser sicherlich überraschen und auch verunsichern, manches erstaunen, manches ’nur’ als Teil des Ganzen erfasst werden. Dies allerdings ist eine wertvolle Perspektive für den Diskurs, um die Vielfalt und die Teile der Vielheit in den Blick zu nehmen, um aus der Mehrperspektivität das Ganze zu verstehen; unter der Prämisse, dass es keine Meta-Ebene von Wahrheit gibt, sondern Wirklichkeit pluriform mehrdeutig ist. Ein Eintreten in einen Prozess von ’Diskurs’, ein Eintreten in einen Synergieprozess, kann im Zusammenspiel des ’Vielen’, Neues entstehen lassen. Die Autoren möchten keine Schubladen schließen, sondern möglichst viele Schübe öffnen. Keine Antworten sollen gegeben werden, sondern im Fragen möchten sie Denken erschließen, um Verständigung zu ermöglichen und zum Diskurs anzuregen. So kann Transparenz für Gemeinsamkeit ermöglicht werden. Die Beiträge der Autoren suchen diese Weite, um der Komplexität Mosaiksteine zu einem utopischen ’Ganzen’ zuzuführen.“

Einen Überblick über die behandelten Themen gibt das Inhaltsverzeichnis:

Dieter Mattner: Hyperaktivität aus der Sicht der Heilpädagogischen Anthropologie

Michael Passolt: Im Dialog mit hyperaktiven Kindern - Psychomotorische Therapie im Netzwerk von Alltag, Familie, Schule und Gesellschaft

Manfred Gerspach: Hyperaktivität aus der Sicht der Psychoanalytischen Pädagogik

Michael Günter: Körperbild, Identität und Objektbeziehungen - Das Bild des eigenen Körpers als Beziehungsangebot

Jochen Stork, Werner Hüttl, Anna-Luise Thaler: Hyperaktivität und Aufmerksamkeitsstörung - Syndrom oder Symptom? Erfahrungen aus der psychoanalytischen Arbeit mit HKS-Kindern und ihren Familien

Hans von Lüpke: Hyperaktivität zwischen "Stoffwechselstörung" und Psychodynamik

Gerald Hüther: Die nutzungsabhängige Herausbildung hirnorganischer Veränderungen bei Hyperaktivität und Aufmerksamkeitsstörungen
- Einfluss präventiver Maßnahmen und therapeutischer Interventionen

Andreas Wölfl: Rhythmische Strukturen in Entwicklungsprozessen

Rolf Balgo, Regina Klaes: Koordination von Verschiedenheit - "Hyperaktivität" als Problem und Bewegungstherapie als lösungsorientiertes Angebot. Eine systemische Perspektive

Hans A. Burmeister: Das Verständnis von Hyperaktivität aus systemtheoretischer Perspektive

Dieter Mattner (Dipl.-Pädagoge, Sonderschullehrer, Hochschullehrer) nähert sich dem Thema mit der Hermeneutik der Philosophischen Anthropologie nach Max Scheler und Helmuth Plessner, fragt nach dem Sinn hyperaktiver Verhaltensweisen und versteht sie als Reaktion auf postmoderne gesellschaftliche Lebensverhältnisse:
„Jüngere Erkenntnisse der Entwicklungspsychopathologie belegen einen empirisch signifikanten Zusammenhang zwischen familiären Variablen und expansivem bzw. aggressivem kindlichem Verhalten. Demgegenüber haben biologische Faktoren wie niedriges Geburtsgewicht und neonatale Komplikationen eine vergleichsweise geringe Bedeutung für die kindliche Entwicklung. Viel entscheidender für die kindliche Fehlentwicklung sind ganz offenbar psychosoziale Aspekte (Linderkamp 1998).
     Diese Erkenntnisse scheinen neuere soziologische Untersuchungen zu bestätigen, die belegen, dass die Bedingungen des Aufwachsens von Kindern und Jugendlichen einem größeren sozioökonomischem und gesellschaftlichem Wandel unterliegen. Traditionelle Lebensformen sind in Zeiten der Postmoderne durch Veränderungen der Arbeitsbedingungen, des wachsenden Einflusses der allgegenwärtigen Medienlandschaft insgesamt in Auflösung begriffen. Diese Entwicklungen haben zunehmende Individualisierung und Institutionalisierung hervorgebracht, die zu Pluralisierung und Differenzierung von Wertorientierungen, Lebensbedingungen und Lebensstilen führten, die der heranwachsende Mensch jenseits von tradierten Lebensmustern individuell für sich bearbeiten muss (Ferchhoff 1993). Aufgrund von gravierenden Veränderungen der Arbeitsformen und Arbeitsbedingungen, die dort geforderte Bildungsmobilität, der damit verbundenen geänderten Familien- und Lebensformen scheinen sich traditionelle Lebensformen und soziale Lebensbedingungen immer mehr aufzulösen. ....
     Kindheit ist heute wesentlich eine ’Fernseh-‚ bzw. ’Medienkindheit’. Kinder erfahren dadurch eine ’synthetisierte Realität’, d. h. sie erleben die Wirklichkeit in zunehmendem Maße im Sinne einer ’Einwegkommunikation’ konsumierend und mediatisiert auf Kosten der eigenen Primärerfahrungen. Die Folgen bezüglich kommunikativer Störungen, Schwierigkeiten beim Zuhören, Konzentrationsschwächen, Nervosität und Unruhe sind längst nicht hinreichend erforscht. ....    
     Immer mehr Kinder wachsen in instabilen Lebensgemeinschaften (’postmoderne Restfamilie’) auf, die in vielen Fällen schon aus wirtschaftlichen Gründen kaum in der Lage sind, die grundlegenden Bedürfnisse ihrer Kinder zu befriedigen (Hensel, 1993).
     Insgesamt scheint sich, wie soziologische Untersuchungen belegen, eine Abschwächung der Qualität der Eltern-Kind-Beziehung abzuzeichnen, was wiederum für die Zunahme von Verhaltensproblemen bei Heranwachsenden verantwortlich gemacht werden kann. (S. 22/23).

Ganz ähnlich beginnt auch Michael Passolt (Dipl.-Motologe, Psychomotoriker) mit einer Analyse postmoderner Rahmenbedingungen:
„Postmoderne Realität heisst, dass wir über gesellschaftlichen Entwicklungen und Bedingungen sehr viel offener und verletzlicher werden. Sehr viel nicht-greifbarer. Sehr viel sensibler und in der Persönlichkeitsentwicklung unklarer. Es gibt vermehrt Situationen, in denen der Boden der Gesellschaft und der Identität (Keupp et al. 1999) brüchig wird. Brüchig im Selbstwertgefühl und brüchig in der Konstanz von Beziehungen im Zusammenleben.“ (S. 28/29)

Aber als Motologe ist Passolt viel zu sehr Praktiker, um es bei soziologischen Erwägungen zu belassen:
„So erhalten in den psychomotorischen Stunden Kinder einerseits die Möglichkeit, ihre Bewegung auszuleben, andererseits auch die Möglichkeit alltägliche postmoderne Lebenswelten, ihre Themen und ,ihre Welt' zu bauen und zu (er-)finden. Ohne Zwang und Leistungsdruck können sie so unter Respektierung eigener körperlicher Grenzen und Möglichkeiten in materialer Tätigkeit und sozialer Auseinandersetzung, in selbstgewählten Beziehungen, ihre erlebnis- und lebensgeschichtlichen Räume schaffen. Geschehen und Geschichten werden thematisiert, seelische Dramen erzählt, dort werden sie behandelt, er-spielt und er-le(i)bt. In psychomotorischen Stunden wird kindliche Realität zum inhaltlichen Thema.“ (S. 32/33)

Manfred Gerspach (Dipl.-Pädagoge, Hochschullehrer) geht von den Erkenntnissen der psychoanalytischen Objektbeziehungstheorie und den Ergebnissen der modernen Säuglingsforschung aus, bezieht aber die Resultate der aktuellen neuropsychologischen Untersuchungen mit ein:
„Was also passiert im erwachenden Erleben des kleinen Kindes, wenn diese frühe Interaktion arm an solchen Signalen von seiten der Mutter ist, die Ruhe ausstrahlen, eine Synchronisation der Beziehung scheitert und dieses Regulierungsdefizit fortbesteht? Fehlt eine grundständige Fähigkeit des erwachsenen Beziehungspartners zur Empathie, empfindet sich das Kind in seinem inneren Gleichgewicht bedroht und wird dementsprechend impulsiv reagieren. Kommt es zu einer Verfestigung dieser Erfahrung, bleibt das Kind an seine archaischen Verhaltensmuster verklammert; Lernen im Sinne einer kognitionsgesteuerten adäquaten Einschätzung neuer Situationen, die es zu bemeistern gilt, wird durch diese affektive Fixierung blockiert.
     Es steht zu befürchten, dass durch schwerere Formen einer solchen Frühdeprivation die Entwicklung des nervösen Apparates beeinträchtigt wird. Das erste Lebensjahr ist gekennzeichnet durch eine hohe Aktivität der Hirnentwicklung mit der Ausdifferenzierung des Neuronensystems. Gleichzeitig sind die dazugehörigen Stoffwechselprozesse in dieser Periode anfällig für Modifikationen und Benachteiligungen. Rückstände in der kognitiven Entwicklung durch ungünstige Lebensbedingungen sind durchaus vorstellbar (Grissemann 1986). ’Erfahrung kann das reife Gehirn verändern  Erfahrung während der kritischen Phasen der frühen Kindheit aber organisiert Gehirnsysteme!’ (Perry et al. 1998). Das Beziehungsklima, in dem ein Kind aufwächst, hat also einen großen Einfluss auf seine innere Entwicklung.
     All diese intrapsychischen Vorgänge sind dem Bewusstsein entzogen das Kind weiß nichts von seinem Dilemma; es kann darüber nicht verbal berichten, sondern bloß Entlastung in motorischer Abfuhr suchen. Insofern, als hier reife Persönlichkeitsstrukturen noch nicht hinreichend ausgebildet wurden, wäre es ein schlechter Rat, generell einem hyperaktiven Kind kognitive Trainingsprogramme vorzuschlagen (Eisert & Eisert 1987).“ (S. 57/58)

Gerspach beschließt seinen Beitrag mit dem Ausspruch eines hyperaktiven Jungen, der die existentiellen Ängste und die dagegen agierende Hyperaktiviät eindrucksvoll dokumentiert:
„Leber (1989) berichtet von einem hyperaktiven Kind, das seinen Vater fragte: ’Papa, wenn ich mit dem Ruderboot auf einem tiefen See bin und mal nicht rudere, gehe ich dann unter?’“ (S. 68)

Auch Michael Günter (Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychoanalytiker, Priv.-Doz.) stützt sich auf die Psychoanalyse, insbesondere auf Winnicott und Bion und auf die moderne Säuglingsforschung. Bei ihm stehen die Störungen des Körperbildes und ihre psychotherapeutische Behandlung im Zentrum der Betrachtung:
„Aber auch Belastungen, traumatische Interaktionserfahrungen können zu einer hyperaktiven Suche des Kindes nach äußerer Stimulierung führen, die als Muster in der Persönlichkeitsentwicklung verankert wird. Stern (1998) stellte solche Entwicklungen bei Säuglingen dar, deren Mütter depressiv sind, und hebt in seiner Darstellung v. a. auf die körperlich vermittelte Interaktion ab. Andererseits führt die, wie auch immer begründete, Bewegungsunruhe des Kindes im Zusammenhang mit der u. U. belasteten Interaktionsgeschichte zu einer Verunsicherung im Körperbild und damit zu einer Störung in der Identitätsbildung. Wir konnten in einer Arbeit zum Körpererleben von Kindern (Breitenöder-Wehrung et al. 1998) nachweisen, dass Kinder mit expansiven Störungen darunter waren vorwiegend Kinder mit hyperkinetischen Störungen  ein spezifisches Muster negativer Körperwahrnehmungen aufwiesen: sie bewerteten v. a. ihre Arme und Hände negativ, während neurotisch gestörte Kinder mit allen Körperteilen, außer den Armen besonders unzufrieden waren, wobei die Geschlechtsteile und der Kopf negativ hervorstachen.“ (S. 75)

Jochen Stork (Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychoanalytiker, Hochschullehrer),Werner Hüttl (Arzt in der Kinder- und Jugendpsychiatrie) und Anna-Luise Thaler (Psychologin und Psychotherapeutin) demonstrieren zwei eindrucksvolle Fälle von Hyperaktivität, die psychoanalytisch gedeutet und dann zu Grundlage allgemeinerer theoretischer Schlußfolgerungen werden:
„Das hyperkinetische Symptom, in seinem "Hin und Her" ist als Ausdruck des Schwankens und Oszillierens zwischen narzißischer Verbundenheit mit den Mutterbildern und einer Öffnung in Richtung auf eine eigene Identität und Individuation verständlich. Die hyperkinetische Unruhe scheint der körperliche Ausdruck gerade dieser Unentschlossenheit zwischen narzißtischer Selbstaufgabe und schon von vornherein vergeblich konzipierter Individuation zu sein“ (S. 98)

Hans von Lüpke (Kinderarzt, Psychotherapeut und Lehrbeauftragter) liefert eine fulminante Kritik an einseitig biologistischen Konzepten, stellt ganzheitliche Betrachtungsweisen dagegen und kommt zu folgenden Konsequenzen:
„Konsequenzen für den Problemkomplex ’Hyperaktivität’ liegen auf der Hand. Im Sinne jenes ’in Phasen schwingen’ kann es kein Ziel sein, praktizierte diagnostische und therapeutische Strategien in fundamentalistischer Manier ’auszurotten’. Der entscheidende Schritt könnte gerade darin bestehen, solche ’fundamentalistischen’ Kriterien für richtiges oder falsches Vorgehen in einem absoluten, von der spezifischen Situation losgelösten Sinne zunächst bei sich selbst abzubauen und sich darauf einzulassen, dass jede Phase der Auseinandersetzung mit den Problemen ein anderes, jeweils ’stimmiges’ Vorgehen fordert. Hier hat auch die medikamentöse oder diätetische Therapie ihren Platz, zumal es auch dabei nie um linear kalkulierbare, ’gezielte’ Maßnahmen geht. Der Faktor ’Beziehung’ mit seiner Bedeutung ist immer wirksam, wenn Menschen miteinander umgehen. Er schlägt sich auch in den biochemischen Prozessen nieder, die von Medikamenten oder Diäten beeinflusst werden. Damit ist keine Beliebigkeit gemeint, sondern eine größere Genauigkeit. Diese Genauigkeit orientiert sich nicht an vorgegebenen Schemata, sondern am augenblicklichen Bedarf, an dem, was aktuell von Bedeutung ist. Dazu gehört v.a., das Leiden und die Hoffnungen von Kindern, Familien, Professionellen ernst zu nehmen und sie mit ihren Möglichkeiten, dem Stand ihrer Erfahrung, Orientierung, Ängste und Wünsche in Entscheidungen einzubeziehen. Dabei könnte die Entwicklung von ’Stimmigkeit’ im Zusammenspiel aller Beteiligten zur ent- scheidenden Hilfe werden, eine Verstimmung aufzuheben, die zu Hyperaktivität geführt hat.“ (S. 114/115)

Der Beitrag Gerald Hüthers (Psychiater, Neurobiologe und Hochschullehrer), der erst in dieser zweiten Auflage hinzu kam, ist eine besonders wertvolle Bereicherung, erstens weil er die für das Thema so wichtigen neuropsychologischen Forschungsergebnisse einbringt und zweitens weil er ganz auf dem Boden klassischer Naturwissenschaft steht und beweist, daß das nichts mit ’monokausalen’, ’deterministischen’ ’biologistischen’ und ’reduktionistischen’ Denkweisen zu tun hat.
„Wenn man die hier beschriebenen bisher vorliegenden Erkenntnisse über den Einfluss der jeweils vorgefundenen Entwicklungsbedingungen auf die Ausreifung des antriebsstimulierenden dopaminergen Systems und der antriebslenkenden und handlungsleitenden präfrontalen und kortikolimbischen Verschaltungsmuster zusammenführt, so lässt sich folgende Modellvorstellung zur Entstehung von Aufmerksamkeitsdefizit/ Hyperaktivitätsstörungen ableiten: Bereits während früher Phasen der Hirnentwicklung, also lange vor der Manifestation des Störungsbildes, scheint es durch überhäufige Aktivierung des sich entwickelnden dopaminergen Systems zu einer übermäßigen Stimulation von axonalem Wachstum und ’axonal sprouting’ der in striatale, limbische und insbesondere frontocorticale Projektionsgebiete einwachsenden dopaminergen Projektionen zu kommen.
     Als mögliche Ursachen für die zu starke Stimulation dopaminerger Neurone im Mittelhirn spielen frühe Reizüberflutung und/oder unzureichende Reizabschirmung eine besondere Rolle. Unsichere Bindungsbeziehungen, fehlende Strukturen und Rituale, inkompetente Erziehungsstile, Überlastung der Eltern und daraus resultierende übermäßige Reizexposition dürften hierfür auf Seiten der primären Bezugspersonen maßgeblich sein. Auf Seiten der Kinder wären angeborene Störungen verschiedenster Genesen, frühe Traumatisierungen, eine besondere Sensibilität und Reizoffenheit und ein ’mismatch’ zwischen elterlichen Erwartungen und kindlichen Reaktionen Faktoren, die zu einer Überstimulation des dopaminergen Systems führen. Wie neuere Untersuchungen mittels ’embryo-transfer’ und ’cross-fostering’ bei Mäusen gezeigt haben, können besonders empfindliche Verhaltensweisen bereits intrauterin erworben werden (Crabbe/Phillips 2003, Francis et al. 2003). ....
     Gleichzeitig verhindern die o.g. Störfaktoren (Überreizung, Inkonsequenz elterlicher Erziehungsstile, wenig Sicherheit bietende Bindungsbeziehungen, elterlicher Erwartungsdruck, Überreizung und mangelnde Reizabschirmung) den Aufbau und die Konsolidierung innerer handlungsleitender Repräsentanzen. Die Angebote an neuronalen Verschaltungen und synaptischen Kontakten können unter diesen Bedingungen nur unzureichend genutzt und stabilisiert werden, und es kommt zu einem maladaptiven ’pruning’-Effekt (Rückbildung nicht nutzungsabhängig stabilisierter Angebote). Die damit einhergehende unzureichende Entwicklung exekutiver Frontalhirnfunktionen führt ihrerseits (über Defizite auf der Ebene von Impulskontrolle, Aufmerksamkeitsfokussierung, Handlungsplanung und Folgenabschätzung) wiederum zu einer Überstimulation und einer übermäßig häufigen Aktivierung dopaminerger Neurone im Mittelhirn. Damit gerät das betreffende Kind in einen Teufelskreis von überstark entwickeltem Antrieb und unzureichend entwickelter Antriebskontrolle, der nur schwer von Außen zu durchbrechen ist. Eine Vielzahl anderer Funktionen und Ausreifungsprozesse wird dadurch in einer Weise beeinflusst, dass es im Zuge nutzungsabhängiger Anpassungsprozesse nachfolgend zu Veränderungen auf unterschiedlichen funktionellen und strukturellen Ebenen und in verschiedensten Bereichen innerhalb des ZNS kommen kann.“ (S. 124/125)

Huethers Gedanken zur Therapie demonstrieren deutlich, daß neurobiologische Sichtweisen gerade nicht zur Favorisierung medikamentöser Reaktionen führen:
„Inzwischen ist mit Hilfe funktioneller bildgebender Verfahren am Beispiel verschiedenster psychiatrischer Störungen nachgewiesen worden, dass psychotherapeutische Interventionen ebenso wie medikamentöse Behandlungen sogar noch im adulten Gehirn zu nutzungsabhängigen Umstrukturierungen neuronaler Netzwerke und synaptischer Verschaltungen führen können. Aus entwicklungsneurobiologischer Perspektive ist davon auszugehen, dass derartige strukturelle Reorganisationsprozesse um so leichter auslösbar sind und um so besser gelingen, je früher sie initiiert werden, d. h. je jünger der Patient ist und je plastischer die in seinem Gehirn angelegten neuronalen und synaptischen Verschaltungsmuster noch sind. Die nachhaltigsten Veränderungen bisheriger Nutzungsmuster lassen sich bei Kindern durch Veränderungen des jeweiligen sozialen Beziehungsgefüges erreichen, das das bisherige Denken, Fühlen und Verhalten der betreffenden Kinder ermöglicht, bestimmt und gefestigt hat. Welche psychotherapeutische, psychosoziale oder pädagogische Intervention sich hierfür am besten eignet und die nachhaltigsten Veränderungen auszulösen imstande ist, muss für jedes Kind unter Berücksichtigung seiner bisherigen Entwicklung und seines sozialen und familiären Umfeldes individuell entschieden werden. Wenn all diese Versuche scheitern und auf diesem Wege keine Besserung erreichbar ist, so mag eine medikamentöse Behandlung im Einzelfall in Betracht gezogen werden.“ (S. 125)

Andreas Wölfl (Musiktherapeut, Kinder-und Jugendlichen-Psychotherapeut) nutzt das bei hyperaktiven Kindern häufige Interesse an rhythmischen Bewegungen für musik-, tanz- und bewegungstherapeutische Arbeit:
„Meiner Erfahrung nach haben hyperaktive Kinder und Jugendliche häufig ein großes Interesse, rhythmisch zu spielen, Rhythmen zustande zu bringen und Rhythmen zu beherrschen. Im Therapieprozess ist es entscheidend, diese Motivation aufzugreifen und die Rhythmen so zu vereinfachen, dass die Kinder sie bewältigen können. So entsteht eine Bewegung vom Chaos zur Ordnung, die, wiederholt aufgegriffen und therapeutisch eingesetzt, einen Zuwachs an Selbstvertrauen und Sicherheit ermöglicht. Ein weiterer Schritt wird möglich, wenn die einfachen Rhythmen zu langweilen beginnen. Dies führt meist zu neuem Chaos, das oft als unbefriedigend erlebt wird. Aus diesem Kreislauf heraus führt die Entwicklung von Variationen, die, gebunden an den einfachen Grundrhythmus, neue und interessante Spielräume eröffnen.
     Die Bewegung zwischen Aktivität und Ruhe ist für viele hyperaktive Kinder ein schwieriges Thema. Der Ruhepol ist in den persönlichen Strukturen unterentwickelt oder negativ besetzt. Für die therapeutische Arbeit gilt es, vom Aktivitätspol ausgehend, ruhigere Phasen in den Therapieverlauf zu integrieren.“ (S. 136)

Rolf Balgo (Lehrer, Motopäde, Systemischer Berater) und Regina Klaes (Sportwissenschaftlerin, Systemische Familientherapeutin) betrachten und behandeln das Phänomen Hyperaktivität aus systemischer Perspektive:
„Wie jedes andere Verhalten wird auch hyperaktives Verhalten sowohl als kommunikatives Geschehen als auch als Wegweiser für die Wirklichkeitskonstruktionen von Kindern und Erwachsenen verstanden. In einer systemisch orientierten Bewegungstherapie werden daher im gemeinsamen Bewegungsdialog Hypothesen gebildet:

  • über die den Bewegungen oder dem Verhalten zugrunde liegenden Wahrnehmungs-, Fühl- und Denkweisen der beteiligten Personen,
  • darüber, wie diese in die soziale Kommunikation und Interaktion einfließen bzw. hier ihre Entsprechung finden und
  • über die vorhandenen Stärken und Ressourcen.

Die Hypothesen beziehen sich auf die mögliche Funktion des Symptomverhaltens im Kontext der sozialen Beziehungsmuster. Sie versuchen, den Wahrnehmungs- und Deutungsweisen der einzelnen Personen nachzukommen und dienen im bewegungstherapeutischen Prozess der Ideenentwicklung für angemessene Kontextveränderungen, durch die die Interaktionen der Klienten neue Anregungen erfahren sollen. Bei der Hypothesenbildung zu den vorhandenen Stärken und Ressourcen geht es um ’profizitorientiertes’ Denken. Das bedeutet, dass zunächst einmal alle Wirklichkeitskonstruktionen und die damit verbundenen Auswirkungen wie z. B. Probleme oder Symptome aus der Sicht der Betroffenen als sinnvoll erachtet werden. ....
     Im weiteren erfolgt die aktive Entwicklung von Bewegungs- und Spielsituationen, in denen dieser individuelle Sinn durch andere Kommunikationsgestaltungen, durch andere Erfahrungen, Erlebniswirklichkeiten, Sichtweisen und Bedeutungskonstruktionen zum einen berücksichtigt zum anderen aber auch weiterentwickelt werden kann.
Der Aufmerksamkeitsfokus geht weg vom Problem und hin zu den Stärken, Kompetenzen sowie der Sinnhaftigkeit des Tuns der Hilfesuchenden (Eggert 1997; Balgo 1997). Vergleichbar einer Verletzung, die nur vom gesunden Gewebe aus verheilt, scheint es hilfreicher zu sein, nicht das Problem zu betrachten, sondern die gemeinsame Suche nach schon vorhandenen Handlungsmöglichkeiten, Fähigkeiten und ungenutzten Ressourcen zu aktivieren.“ (S. 152/153)

Diese Sicht- und Handlungsweise erläutern Balgo und Klaes dann an zwei anschaulichen Beispielen aus ihrer Praxis.

Nachdem Hans A. Burmeister (Sportlehrer, Sportwissenschaftler, Lehrbeauftragter) „aus systemtheoretischer Sicht starke Argumente gegen den medizinischen Ansatz“ vorgebracht und mit einer Fallbeschreibung unterstrichen hat, läßt er das Buch mit folgender Provokation enden:
„Da es nicht um ’richtige’ oder ’falsche’ Theoriebildung gehen kann, sondern um die eigene, stimmige Position, von der aus wir unsere Entscheidungen treffen, haben wir mit der Einführung einer systemischen Perspektive erst einmal für Verunsicherung gesorgt. Destabilisierung ist aus systemischer Sicht Grundvoraussetzung für Entwicklungen. J. M. Keynes sagte einmal: ’Wenn die Fakten sich ändern, ändere ich meine Meinung’. Mit Einführung der Systemtheorie in dieses Fachgebiet haben sich die Fakten geändert.“ (S. 181)

Bei mir hat der Sammelband das erreicht, was er im Vorwort versprach: mein Denken wurde durch viele bunte Mosaiksteine erweitert und hat mir in der Praxis schon geholfen, in Einzelfällen stimmige Ein- und Umstellungen zu finden. Solche Wirkungen wünsche ich ihm in allen Praxisfeldern, in denen mit verstörten und rastlosen Kindern gearbeitet wird. Aber bitte im Sinne der Transversalen Vernunft, in der auch die Systemtheorie nur eines der vielen möglichen und nicht ein besonders privilegiertes Paradigma darstellt (vgl. Welsch: 'Vernunft' Kap.VII,2.a.).

Kurt Eberhard  (Sept. 2004)

 

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