FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Rezension / Jahrgang 2004

 

Mechthild Papousek, Michael Schieche,
Harald Wurmser (Hg)

Regulationsstörungen
der frühen Kindheit

Frühe Risiken und Hilfen
im Entwicklungskontext
der Eltern-Kind-Beziehungen

Verlag Hans Huber, 2004
(408 Seiten, 39,95 Euro)


Das vorliegende Buch gibt eine wissenschaftliche Darstellung frühkindlicher Regulationsstörungen mit Beiträgen namhafter Autoren verschiedener Disziplinen.

Aus dem Inhalt:

Vorwort der Herausgeber
Autorenverzeichnis

Regulationsstörungen im Spannungsfeld der Disziplinen

Die ganz normalen Krisen - Fit und Misfit im Kleinkindesalter
Remo H. Largo und Caroline Benz-Castellano

Entwicklungspsychopathologie der frühen Kindheit im interdisziplinären Spannungsfeld
Franz Resch

Zahlen und Fakten zu frühkindlichen Regulationsstörungen:
Datenbasis aus der Münchner Spezialambulanz
Harald Wurmser und Mechthild Papousek

Regulationsstörungen der frühen Kindheit:
Klinische Evidenz für ein neues diagnostisches Konzept
Mechthild Papousek

Häufigste Störungsbilder

Exzessives Schreien im frühen Säuglingsalter
Margret Ziegler, Ruth Wollwerth de Chuquisengo und Mechthild Papousek

Schlafstörungen: Aktuelle Ergebnisse und klinische Erfahrungen
Michael Schieche, Claudia Rupprecht und Mechthild Papousek

Fütter- und Gedeihstörungen im Säuglings- und Kleinkindalter
Nikolaus von Hofacker, Mechthild Papousek und Harald Wurmser

Klammern, Trotzen, Toben - Störungen der emotionalen Verhaltensregulation
des späten Säuglingsalters und Kleinkindalters
Mechthild Papousek und Nikolaus von Hofacker

Eltern-Säuglings-/Kleinkind-Beratung und Psychotherapie

Evaluation verhaltenstherapeutischer Interventionen bei Schrei-, Schlaf- und Fütterstörungen
Klaus Sarimski

«Gespenster im Schlafzimmer«.
Psychodynamische Aspekte in der Behandlung von Schlafstörungen
Renate Barth

«Gespenster am Eßtisch».
Psychodynamische Aspekte in der Behandlung von Fütterstörungen
Tamara Jacubeit

Das Münchner Konzept
einer kommunikationszentrierten Eltern-Säuglings-/Kleinkind-Beratung und –Psychotherapie
Ruth Wollwerth de Chuquisengo und Mechthild Papousek

Langzeitrisiko, Früherkennung und Prävention

Langzeitrisiken persistierenden exzessiven Säuglingsschreiens
Harald Wurmser, Mechthild Papousek, Nikolaus von Hofacker, Stephanie Leupold und Gabriela Santavicca

Frühkindliche Regulationsprobleme:
Vorläufer von Verhaltensauffälligkeiten des späteren Kindesalters?
Manfred Laucht, Martin H. Schmidt und Günter Esser

Dysphorische Unruhe und Spielunlust in der frühen Kindheit:
Ansatz zur Früherkennung und Prävention von ADHS?
Mechthild Papousek

Frühe Prävention von emotionalen und sozialen Entwicklungsstörungen
- als interdisziplinäre Aufgabe
Hubertus von Voss

Sachwortverzeichnis

Im Rahmen der Sozialpädiatrischen Ambulanz des Kinderzentrums München wurde vor 12 Jahren eine Sprechstunde für Schreibabys eingerichtet, mit dem Ziel, frühe Hilfen zur Entlastung der Eltern anzubieten.
„Aufbauend auf Konzepten und Methoden der interdisziplinären Frühentwicklungsforschung entstand ein klinisches Forschungsparadigma, in dem Störungen der frühkindlichen Verhaltensregulation und der emotionalen Entwicklung in den Anfängen ihrer Entstehung im Entwicklungskontext der Eltern-Kind-Beziehungen systematisch analysiert werden konnten...
Das Schreien des Säuglings.... wirkt als bindungsstiftendes Signal oder aber als ein bindungsgefährdender Auslöser von Depressivität oder sogar Kindesmisshandlung“ (S.7)

Es gibt vielfältige Möglichkeiten der Hilfen für spezielle Probleme der Schreibabys, die fundiert und ausführlich in den einzelnen Beiträgen beschrieben werden. Darauf soll hier nicht näher eingegangen werden. Für Pflegeeltern und Fachkräfte, die sich mit Pflegekindern befassen, ist es wichtig zu wissen, dass die wissenschaftlichen Analysen die Probleme der „Schreibabys“ unter dem neuen Namen der „Regulationsstörungen der frühen Kindheit“ zusammenfassen.

Beispielhaft soll an den drei Beiträgen der Autoren »Franz Resch«, »Harald Wurmser, Mechthild Papousek, Nikolaus von Hofacker, Stephanie Leupold und Gabriela Santavicca« und »Manfred Laucht, Martin H. Schmidt und Günter Esser« Erkenntnisstand und Diskussion gezeigt werden.

Resch schreibt zur Entwicklungspsychopathologie der frühen Kindheit:
„Die Entwicklung der kindlichen Seele vollzieht sich in einer interaktionellen Matrix. So können wir die Selbstwerdung des Kindes als das Ergebnis einer Wechselwirkung zwischen außen und innen auffassen – von der Interaktion des Subjekts mit anderen Subjekten zum inneren Konstrukt derselben im Subjekt. (S.32)
Temperamentsmerkmale sieht Resch „...als ontogenetisch verankerte, erblich übertragene, aber durch Entwicklungs- und Erfahrungseinflüsse modifizierbare individuelle Unterschiede auf biologischer Grundlage....“, wobei „...vor allem der Transmitter Dopamin zentral beteiligt, die Bedeutung des Dopamins jedoch in den Einzelheiten nicht aufgeklärt ist.“ (S.34)

Temperamentsmerkmale sind nach der Auffassung von Resch partiell von außen beeinflussbar. Von besonderer Bedeutung sei die  Passung zwischen Kind und Bezugsperson:
“Thomas und Chess (1977) prägten den ursprünglich von Henderson (1913) vorgeschlagenen Begriff der Übereinstimmung (»goodness of fit«) und die damit verbundenen Begriffe von Konsonanz und Dissonanz. Beispielhaft ist zu betonen, dass ein aktives, impulsives und »schwieriges« Kind vermutlich besser in einen toleranten Familienverband mit entsprechenden räumlichen Bedingungen zu integrieren ist, während es in einer engen Stadtwohnung mit zwanghaft strukturierten Eltern rasch durch gegenseitige negative Beeinflussung zu Komplikationen kommen kann..... Das Passungskonzept stellt zweifellos eine Weiterentwicklung der nature/nuture Diskussion dar... (S. 37)
   Affektregulation und Mentalisierung im Bindungskontext können eine Reihe von Störungen erfahren, die schließlich ab dem späten Kleinkindalter zu Verhaltensauffälligkeiten des Kindes Anlass geben können....(S. 40)
   Die Gruppe um Fonagy (2002) nimmt an, dass solche immer wieder kehrenden Interaktionsprobleme schließlich im Jugend- und Erwachsenenalter zu einer Borderline-Symptomatik mit unsicheren Selbstgrenzen und projektiven Abwehrformen führen können. (S. 41f.)
   Insbesondere bei schweren Beziehungsstörungen, zum Beispiel nach Misshandlungserfahrungen der Eltern, kann sich dies .... gravierend auf .... die Persönlichkeitsentwicklung auswirken. (S. 42)
   Traumatisierungen finden sich in der Anamnese psychischer Störungen gehäuft vor allem bei bulimischen Essstörungen, jugendlichen Depressionen und Borderline-Störungen. (S.43)

Seine Abschlussempfehlung ist ein Appell an die Fachkräfte und die Sozialpolitik:
„Ein Gesamtkonzept emotionaler Früherziehung beim Kind sollte nicht nur Ärzte und Psychotherapeuten, sondern auch Pädagogen, Frühförderstellen und Tagesstätten mit einbeziehen. Solch ein Gesamtkonzept kann nur durch eine veränderte Grundeinstellung der Gesellschaft gegenüber Kindern verwirklicht werden.“(S.44)

Mit einer Reihe von Forderungen der Unterstützung für Familien werden sinnvolle Wege aufgezeigt, die allerdings kurzfristig kaum  realisierbar sind und auf bestehende Versorgungslücken hindeuten.

Wurmser, Papousek, von Hofacker, Leupold und Santavicca berichten aus einer eigenen empirischen Langzeitstudie folgende Resultate:
„Die Ergebnisse dieser katamnestischen Untersuchung zeigen, dass Säuglinge, die innerhalb der ersten sechs Lebensmonate wegen eines Schreiproblems vorgestellt und zusammen mit ihren Eltern behandelt worden waren, im Alter von 30 Monaten noch immer als schwieriger und hartnäckiger wahrgenommen wurden als Kontrollen ohne frühkindliches Schreiproblem. Darüber hinaus wiesen ehemalige Schreibabys in einem validierten und normierten Screening-Instrument zur Erfassung von psychischen Störungen im Kleinkindalter höhere Werte für aggressives Verhalten, Angst/Depression, Schlafprobleme, somatische Probleme und sozialen Rückzug sowie insgesamt für externalisierende und internalisierende Verhaltensprobleme auf. Weitaus häufiger als in der Kontrollgruppe wurden bei den ehemaligen Schreibabys hinsichtlich aggressiven Verhaltens, Angst/Depression, sozialen Rückzugs und internalisieren der Verhaltensprobleme sogar Werte im klinisch relevanten Bereich gefunden. Abgesehen von einer verkürzten Tagschlafdauer innerhalb der ehemals extremen Schreier unterschieden sich die Gruppen bei der Katamnese jedoch nicht in Bezug auf Indikatoren für Schlafprobleme, die aus dem Verhaltensprotokoll abgeleitet wurden. Internalisierende wie auch externalisierende Probleme konnten signifikant aus den Daten der Eingangsdiagnostik vorhergesagt werden.“ (S. 331f.)

Eine wichtige Schlussfolgerung für die klinische Praxis ist, „...dass die sogenannten Dreimonatskoliken nicht als transientes Verhaltensproblem der frühen Kindheit verharmlost werden dürfen“. (S.336)

Laucht, Schmidt und Esser zeigen einen Zusammenhang zwischen frühkindlichen Regulationsproblemen und Verhaltensauffälligkeiten des späteren Kindesalters:
„Den weitaus größten prognostischen Stellenwert beanspruchten frühe psychosoziale Risikofaktoren der Familie (allen voran ein niedriges Bildungsniveau der Eltern sowie an zweiter Stelle die psychische Erkrankung eines Elternteils)..... (S.352)
   Frühkindliche Regulationsprobleme gingen in vielen Fällen mit Beeinträchtigungen der frühen Interaktion zwischen Mutter und Kind einher.... (S. 353)
   ....dass die Prognose frühkindlicher Regulationsprobleme  bei Mädchen eher durch eine deprivierende und bei Jungen eher durch eine überstimulierende Qualität der frühen Mutter-Kind-Interaktion nachteilig beeinflusst wird...
Die Forschung zu Risikofaktoren der frühen Kindheit hat gezeigt, dass die nachteiligen Folgen früher Entwicklungsrisiken nicht unausweichlich eintreten, sondern von weiteren Entwicklungsbedingungen abhängen, die eine wesentliche Rolle der Übertragung und Vermittlung der schädlichen Wirkungen einnehmen. So gesehen, ist die Prognose frühkindlicher Regulationsprobleme umso ungünstiger, je generalisierter die Störung, je stärker die Interaktion beeinträchtigt, je organisch gefährdeter die Entwicklung und je belasteter die familiäre Umgebung des Kindes (vgl. Papousek, 1999). Eine wichtige Zielgruppe für Angebote vorbeugender und frühzeitiger Intervention bei Säuglingen mit frühkindlichen Regulationsproblemen sind folglich psychosozial benachteiligte Familien mit multiplen Belastungen, in denen sich Entwicklungsprobleme und Gefährdungen häufen. Dabei besteht ein besonderer Bedarf an gezielter Unterstützung, die auf die Probleme und Ressourcen dieser Gruppe zugeschnitten ist und von diesen zumeist »schwer erreichbaren« Familien angenommen wird, z.B. durch regelmäßige Betreuung im häuslichen Milieu. Da sich ungünstige Entwicklungen bereits frühzeitig in dysfunktionalen Eltern-Kind-Interaktionen ankündigen und Interventionen in diesem Kontext  sowohl vergleichsweise »niederschwellig« und wenig »invasiv« als auch besonders erfolgversprechend sind, bietet sich vor allem die frühe Kindheit als Interventionszeitpunkt an. Ein Beispiel für eine umfassende Frühförderinitiative für Säuglinge und Kleinkinder stellt das »Early Head Start Programm«* des amerikanischen Gesundheitsministeriums dar....(S.354 f.).“

Der besondere Vorteil dieses Buches ist, immer wieder die Hilfen für das Kind in den Mittelpunkt zu stellen. Es enthält auch für Pflegeeltern viele Anregungen und ist sehr lesenswert. Ihm ist eine breite Leserschaft weit über das Fachpublikum hinaus zu wünschen. Leider fehlt ein Kapitel über die speziellen Probleme der Jugendhilfepraxis, das einer 2. Auflage zu empfehlen  ist.

Christoph Malter (Okt. 2004)

 

*zu Head-Start s.a. Wechselwirkungen zwischen ambulanten Hilfen, Heimerziehung und Familienpflege

 

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