FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Rezension / Jahrgang 2004

 

Thomas Armstrong

Das Märchen vom ADHS-Kind

50 sanfte Möglichkeiten, das Verhalten Ihres Kindes zu verbessern
ohne Zwang und ohne Pharmaka

Junfermann Verlag, 2002

(315 Seiten, 22,50 Euro)

 


"Das vor Ihnen liegende Buch hat eine generell positive Sichtweise über Kinder und das Lernen. Es vertritt die These, daß Kinder, die unter Aufmerksamkeits- und Verhaltensproblemen leiden, in ihrem Kern völlig normale und gesunde menschliche Wesen sind, die nicht unter einer medizinischen Störung leiden. Der Leser sollte jedoch wissen, daß ich in meinem Buch nicht behaupte, es gäbe keine unkonzentrierten, hyperaktiven oder impulsiven Kinder. Es geht mir vielmehr darum, daß das ADHS-Konzept nicht sehr hilfreich dafür ist, solche Verhaltensweisen zu verstehen; es hindert uns nämlich daran, ein Kind in seiner Ganzheit wahrzunehmen. Ich bin auch nicht grundsätzlich dagegen, Kindern unter bestimmten Voraussetzungen Medikamente zu geben. Ich denke jedoch, daß Eltern ein Recht darauf haben, über alle Alternativen Bescheid zu wissen, die ihren »auffälligen« Kindern helfen können, im Leben erfolgreich zu sein." (Klappentext)

Thomas Armstrong (Sonderschullehrer, pädagogischer Berater, Publizist) schrieb dieses Buch 1995 als Kampfschrift gegen den ADHS-und Ritalin-Mythos in den USA. Der Grund, daß wir dieses Buch jetzt d.h. neun Jahre nach seinem Erscheinen besprechen, ist der nämliche: die inzwischen sich auch bei uns epidemisch ausbreitende Verwechslung der ADHS-Symptome mit einem Krankheitsbild und die zunehmende Bereitschaft von Ärzten, Psychologen, Lehrern und Eltern, darauf mit Ritalin zu reagieren, statt erst nach pädagogischen und psychotherapeutischen Alternativen Ausschau zu halten.

Armstrongs Motivation hat lebensgeschichtliche Gründe:
"Die kognitive Dissonanz zwischen meiner eigenen positiven und der negativen Erfahrung meines Vaters mit psychotropen Medikamenten hat in mir den größten Teil der Energie mobilisiert, die ich brauchte, um das vorliegende Buch schreiben zu können. Bei meinem Vater habe ich miterlebt, was passieren kann, wenn Medikamente als einzige Lösung komplexer Probleme angesehen werden, und in meinem eigenen Leben habe ich die segensreiche Wirkung von Psychopharmaka erfahren. Deshalb kann ich mich nicht mit denjenigen identifizieren, die sich für mein Buch interessieren, weil sie der verallgemeinernden Sicht anhängen, Ritalin vergifte den Geist ihrer Kinder. Psychopharmaka sind ein Therapiemittel unter vielen, und sie können in manchen Fällen und in Verbindung mit nichtmedikamentösen Ansätzen durchaus nützlich sein. (In meinem Fall bestanden die ergänzenden Maßnahmen in Meditation, Yoga-Übungen, Körpertraining, Tagebuchführen, einer psychotherapeutischen Behandlung und in der Anwendung anderer Strategien zur Streßverringerung.) Doch obwohl Medikamente mir persönlich geholfen haben, stehe ich dem stark zunehmenden Gebrauch psychoaktiver Medikamente zur Kontrolle des Verhaltens von Kindern äußerst mißtrauisch gegenüber. .... Psychopharmaka können von Nutzen sein, sie können uns aber auch davon abhalten, nach tiefergründigen und besseren Lösungen für die Schwierigkeiten von Kindern zu suchen." (S.16)

Das nachfolgende Inhaltsverzeichnis dokumentiert den aufklärerischen Anspruch und den intensiven Praxisbezug:

TEIL I: Entmystifizierung des ADHS-Märchens
1. Amerikas neue Lernstörung
2. ADHS: Jetzt ist es da, jetzt ist es weg
3. Warum ADHS eine vereinfachende Antwort auf Probleme einer komplizierten Welt ist
4. Was an der »guten Pille« gut (und was weniger gut) ist
5. Beherrschen oder Befähigen, das ist die Frage!

TEIL II: 50 Strategien, die das Verhalten und die Aufmerksamkeitsspanne verbessern
Einleitung.
1.   Sorgen Sie für ein ausgewogenes Frühstück
2.   Denken Sie über einen Versuch mit der Feingold-Diät nach
3.   Beschränken Sie die Zeit für Fernsehen und Videospiele
4.   Die heilsame Wirkung der Selbstinstruktion
5.   Stellen Sie fest, was Ihr Kind interessiert
6.   Setzen Sie sich für ein Körpererziehungsprogramm in der Schule Ihres Kindes ein
7.   Melden Sie Ihr Kind für einen Kurs in einem asiatischen Kampfsport an
8.   Stellen Sie fest, welchen Lernstil Ihr Kind bevorzugt
9.   Benutzen Sie Hintergrundmusik zur Förderung der Konzentration und zur Beruhigung
10. Benutzen Sie Farben zur Hervorhebung von Information
11. Bringen Sie Ihrem Kind bei zu visualisieren
12. Entfernen Sie Allergene aus dem Speiseplan
13. Geben Sie Ihrem Kind ausreichend Gelegenheit zu körperlicher Bewegung
14. Stärken Sie das Selbstwertgefühl Ihres Kindes
15. Stellen Sie fest, wann Ihr Kind am aufmerksamsten ist
16. Geben Sie Anweisungen so, daß die Aufmerksamkeit Ihres Kindes gefesselt wird
17. Bieten Sie Ihrem Kind eine Vielfalt anregender Lernaktivitäten an
18. Denken Sie über ein Biofeedback- Training nach
19. Fördern Sie aufkeimende Berufsinteressen Ihres Kindes
20. Bringen Sie Ihrem Kind Techniken körperlicher Entspannung bei
21. Nutzen Sie das beiläufige Lernen
22. Sorgen Sie dafür, daß Ihr Kind in eine reguläre Klasse aufgenommen wird
23. Sorgen Sie für positive Rollenmodelle
24. Denken Sie über die Nutzung alternativer Schulangebote nach
25. Ermöglichen Sie den Ausdruck kreativer Energie in Form künstlerischer Aktivitäten
26. Geben Sie Ihrem Kind Gelegenheit zu praktischen Aktivitäten
27. Nehmen Sie sich die Zeit, mit Ihrem Kind in positiver Atmosphäre zusammen zu sein
28. Stellen Sie Ihrem Kind adäquaten Raum zum Lernen zur Verfügung
29. Denken Sie darüber nach, ob eine psychotherapeutische Behandlung helfen könnte
30. Nutzen Sie Berührung zur Beruhigung
31. Helfen Sie Ihrem Kind, organisatorische Fähigkeiten zu entwickeln
32. Helfen Sie Ihrem Kind, den Wert persönlicher Anstrengung schätzen zu lernen
33. Sorgen Sie für sich selbst
34. Bringen Sie Ihrem Kind Fokussierungstechniken bei
35. Geben Sie sofort Feedback
36. Ermöglichen Sie Ihrem Kind die Nutzung eines Computers
37. Denken Sie über eine Familientherapie nach
38. Bringen Sie Ihrem Kind bei, Probleme zu lösen
39. Ermöglichen Sie Ihrem Kind, echte Verantwortung zu übernehmen
40. Setzen Sie Auszeiten auf positive Weise ein
41. Helfen Sie Ihrem Kind, soziale Kompetenz zu entwickeln
42. Treffen Sie mit Ihrem Kind Vereinbarungen
43. Nutzen Sie effektive Kommunikationsmethoden
44. Ermöglichen Sie Ihrem Kind echte Entscheidungen
45. Erkennen Sie die vier Arten von Fehlverhalten, und gehen Sie darauf ein
46. Legen Sie konsistente Regeln, Verfahrensweisen und Übergänge fest
47. Halten Sie Familienversammlungen ab
48. Lassen Sie Ihr Kind einem jüngeren Kind etwas beibringen
49. Setzen Sie auf die Wirkung natürlicher und logischer Folgen
50. Behalten Sie stets ein positives Bild von Ihrem Kind

Anmerkungen
Personen- und Stichwortverzeichnis

Nach interessanten Ausführungen zur Geschichte des ADHS-Begriffes resumiert der Autor:
"Die Entstehung von ADHS basiert also hauptsächlich auf einem Zusammentreffen der Interessen frustrierter Eltern, bedeutender Forschritte der pharmazeutischen Forschung, eines neuen Paradigmas der kognitiven Forschung, der Interessen einer Wachstumsindustrie für neue Lernmittel sowie einer Berufsgruppe (Lehrer, Ärzte und Psychologen), die alle genannten Faktoren miteinander zu verknüpfen suchte und all dies unter dem beifälligen Blick von Behörden der amerikanischen Bundesregierung. Natürlich wäre gegen koordinierte Anstrengungen dieser Art kaum etwas zu sagen, wenn ADHS tatsächlich ein deutlich abgrenzbares klinisches Phänomen wäre, denn dann könnte man die genannten staatlichen, psychiatrischen, sozialen und ökonomischen Faktoren als Ausdruck eines positiv zu deutenden gemeinsamen Bemühens, die Bedürfnisse unter dieser Störung leidender Kinder zu erfüllen, verstehen. Doch wie wir im nächsten Kapitel sehen werden, läßt sich kaum definitiv feststellen, was ADHS ist, wie häufig diese Störung vorkommt und wodurch sie verursacht wird." (S.33)

Zur Frage nach den Ursachen hat er folgendes zu berichten:
"Die Behauptung, ADHS sei eine Krankheit, macht natürlich die Benennung einer medizinischen oder biologischen Ursache erforderlich. Doch so wie alles, was mit ADHS zusammenhängt, recht ungesichert ist, ist auch niemand völlig sicher, was diese Störung verursacht. Als mögliche biologische Ursachen sind unter anderem genetische Faktoren, biochemische Abnormitäten (Unregelmäßigkeiten bezüglich der Botenstoffe Serotonin, Dopamin und Norepinephrin}, neurologische Schädigungen, Bleivergiftung, Schilddrüsenprobleme, pränataler Kontakt mit schädlichen Drogen und Umwelteinflüssen und verzögerte Myelinisierung (lnsulation) der Nervenpfade im Gehirn genannt worden." (S.42/43)

Armstrong bevorzugt eine ganzheitliche, personenzentrierte Sichtweise auf soziologischem Hintergrund:
"Tatsächlich jedoch liegen den mit ADHS assoziierten Verhaltensweisen komplexe und vielfältige Ursachen zugrunde. Einige davon sind kultureller und sozialer Natur, andere sind spezifischer für einzelne Betroffene. Vielleicht gibt es letztendlich so viele Erklärungen für die mit ADHS assoziierten Verhaltensweisen wie Kinder, die mit diesem Etikett versehen werden. Ich möchte in diesem Kapitel einige in meinen Augen plausible nicht-biologische Erklärungen für vermeintlich ADHS-typische Verhaltensweisen wie Hyperaktivität, Ablenkbarkeit und Impulsivität beschreiben. Die erste Erklärung, auf die ich hier eingehen möchte, beinhaltet, daß die Gesellschaft ADHS erfunden hat, um die soziale Ordnung aufrechtzuerhalten. .... Demnach könnte ADHS deshalb entstanden sein, weil die Werte unserer Gesellschaft die Existenz eines solchen Phänomens erforderlich machen." (S.49)

Ferner werden die Dissoziation und Dissozialität in modernen Familien hervorgehoben:
"Es gibt heute in Amerika doppelt so viele Haushalte alleinerziehender Eltern wie 1970, nämlich acht Millionen. Die Zahl der arbeitenden Mütter ist von 10,2 Millionen im Jahre 1970 auf 16,8 Millionen im Jahre 1990, also um 65 Prozent gestiegen. Manche Eltern verbringen heute einfach nicht genug Zeit mit ihren Kindern, um ihnen die Anleitung und Unterstützung geben zu können, die für ihre emotionale Entwicklung unverzichtbar ist. Infolge dessen treten bei den betroffenen Kindern streßbedingte und psychische Probleme in epidemischem Ausmaß auf. Fast eine Million Anzeigen wegen Mißhandlung, Mißbrauch und Vernachlässigung von Kindern werden jedes Jahr erstattet. Schätzungsweise 15 bis 19 Prozent der 63 Millionen amerikanischen Kinder und Jugendlichen leiden unter emotionalen oder anderweitigen Problemen, die eine psychiatrische Behandlung erfordern. Da viele Kinder bei der Bewältigung einer immer größer werdenden Zahl gesellschaftlicher Streßfaktoren immer weniger unterstützt werden, halten sie der Belastung oft einfach nicht stand. .....
     Zu den häufigsten Symptomen, die bei Kindern durch Streß hervorgerufen werden, zählen Saunders und Remsberg Rastlosigkeit, Konzentrationsschwäche und irritierende Verhaltensweisen also genau die Symptome, die auch für ADHS typisch sein sollen. Überdies erkennen Forscher mittlerweile noch wesentlich schwererwiegende Probleme bei vielen sogenannten ADHS-Kindern. So wurde in jüngster Zeit festgestellt, daß 25 Prozent der Kinder, bei denen ADHS diagnostiziert wurde, unter starken Ängsten leiden und daß bei bis zu 75 Prozent von ihnen irgendeine Form von Depression besteht. Ein Forscherteam schreibt: 'Nach den uns vorliegenden Resultaten könnte die behandelbare Kindheitsdepression die Grundlage schlechthin von Hyperaktivitätsproblemen in der Schule sein.' Demnach leiden möglicherweise viele Kinder, die hyperaktiv oder unaufmerksam sind, nicht unter ADHS, sondern infolge unterschiedlichster familiärer, schulischer oder anderweitiger Probleme unter Ängsten oder Depression." (S.51/52)

Weitere Erklärungen diskutiert Armstrong unter folgenden Überschriften:
ADHS als Produkt einer Kultur, welche die Verkürzung der Aufmerksamkeitsspanne fördert
ADHS als Reaktion auf langweiligen Unterricht
ADHS als Spieglung normaler geschlechtsspezifischer Unterschiede
ADHS als Folge schlechten Zusammenpassens zwischen Eltern und Kind
ADHS als eine andere Art zu lernen

Die wichtigste Aufgabe eines Begriffs ist, definitorisch klarzustellen, was zu ihm gehört und was nicht. Der ADHS-Begriff erfüllt diese Aufgabe nicht, er ist nach Armstrongs Auffassung ein Begriff ohne Grenzen mit entsprechenden Folgen für die praktische Diagnostik:
"Die meisen ADHS-Verfechter sind sich der Bedeutung der nicht-biologischen Faktoren durchaus bewußt. Doch ist der Platz, den sie diesen Faktoren innerhalb ihres Paradigmas einräumen, so beschaffen, daß sie an den Grundannahmen des ADHS-Märchens, insbesondere an der Bezeichnung von ADHS als klar unterscheidbarer medizinischer Störung festhalten können. Die nicht-biologischen Faktoren, insbesondere die psychischen und edukativen, werden zu dem reduziert, was man dem medizinischen Modell gemäß und adäquat als 'comorbide' Faktoren bezeichnet. Mit anderen Worten: ein Kind kann unter ADHS leiden und/oder einer Lernstörung und/oder Affektiven Störungen (Depression, Angst) und/oder den verschiedensten anderen klinischen Störungen. Was in Wahrheit die ADHS-Diagnose aufweicht (wo fängt ADHS an und wo hören Depression und Lernstörungen auf?), wird in solche co-morbide Faktoren verwandelt, so daß das ADHS-Märchen in seinem Kern unberührt bleibt." (S.59)

Der zweite Teil des Buches ist wesentlich umfangreicher als der erste und  enthält 50 Alternativen zur pharmakologischen Behandlung, ohne diese dogmatisch auszuschließen. Deren Lektüre können wir nicht ersparen, sondern nur dringend empfehlen. Wenn man sie gelesen hat, ist man von der Fixierung auf Ritalin gründlich geheilt.

Kurt Eberhard  (Okt. 2004)

 

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