FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Diskussion / Jahrgang 2005

 

Stellungnahme des Berliner Abgeordneten Kleineidam (SPD)

zum offenen Brief der AGSP an die SPD

und unser Kommentar dazu



Liebe Frau Gudrun Eberhard,
lieber Herr Kurt Eberhard,

gerne komme ich Ihrer Bitte vom 20.3.2005 nach und stelle Ihnen meine Ansicht zur Frage „kinderärztliche Pflichtuntersuchungen“ dar. Erlauben Sie mir dazu aber zunächst einige Bemerkungen zu Ihrem offenen Brief an die SPD. Ihr Schreiben ist in einem - derzeit leider weitverbreitetem - Still geschrieben, der meines Erachtens einer sachlichen Auseinandersetzung nicht unbedingt förderlich ist.

Sie leiten Ihr Schreiben mit folgendem Satz ein: „Die unwiderlegbare Tatsache, daß Jessica und viele andere der zu Tode vernachlässigten Kinder noch leben würden, wenn es die Pflichtuntersuchungen schon gäbe, ist mächtiger als alle Anti-CDU-Reflexe“ und unterstellen damit gleich am Anfang Ihrer Argumentation den Kritikern einer Zwangsuntersuchung, dass sie lediglich aus einem „Anti-CDU-Reflexe“ heraus handeln. So mag man in politischen Propagandaschriften polemisieren, als Grundlage für ein ernsthaftes Gespräch, eine sachlich Auseinandersetzung eignet sich eine solche Unterstellung nach meinen Erfahrungen wenig.

Genauso problematisch ist die Begründung staatlicher Zwangsmaßnahmen mit Einzelfällen. Ich gebe Ihnen zu, dass dieser Argumentationsstill üblich geworden ist. Einige Beispiele aus der letzten Zeit: hätten wir eine komplette Videoüberwachung aller Straßen würden dort weniger Überfälle oder Diebstähle verübt; würden wir die DNA-Daten aller Menschen speichern, würden viele Täter schneller überführt und könnte keine weiteren Straftaten begehen; würden wir alle Telefone und Mails permanent überwachen, könnten viele Straftaten verhindert werden; würden wir alle einer Kindesentführung Verdächtigen sofort foltern, könnten vielleicht einige Opfer gerettet werden. Kurz, es dürfte unstrittig sein, dass in einem gut organisierten Überwachungsstaat wesentlich weniger Straftaten geschehen und vielen Opfern Leid und Schmerz erspart blieben.

Der freiheitliche, demokratische Rechtsstaat lebt von einer - immer wieder neu vorzunehmenden - Abwägung zwischen Freiheitsrechten und dem Sicherheitsbedürfnis seiner Bürgerin und Bürger. Allein die „unwiderlegbare Tatsache“, dass ein einzelner schlimmer Fall durch ein massives Überwachungssystem verhindert werden könnte, kann noch nicht dieses Überwachungssystem rechtfertigen. Ich hoffe, dass Sie mir in diesen grundsätzlichen Überlegungen folgen können.

Eine Zwangsuntersuchung kann meiner Auffassung nach daher nur dann richtig sein, wenn sie im Bezug auf das Ziel geeignet, erforderlich, angemessen und verhältnismäßig ist.

Ziel der Maßnahme soll das frühzeitige Erkennen von Vernachlässigung, Mißhandlung und/oder Mißbrauch sein, damit Hilfsmaßnahmen für die Kinder eingeleitet und die Täter gefasst werden können.

Unstrittig können bei Vorsorgeuntersuchungen auch Anzeichen für Mißhandlungen, Mißbrauch und Vernachlässigung erkannt werden. Fraglich ist allerdings, ob Kinder mit Mißhandlungsspuren von ihren Eltern dann tatsächlich pünktlich zur Untersuchung vorgestellt werden oder nicht vielmehr einfach gewartet wird, bis eventuelle Verletzungen abgeheilt sind.

Die Termine der Vorsorgeuntersuchungen sind auf die kindliche Entwicklung und nicht auf ein staatliches Überwachungssystem ausgerichtet:

    U1     direkt nach der Geburt
    U2     3. bis 10. Lebenstag
    U3     4. bis 6. Lebenswoche
    U4     3. bis 4. Monat
    U5     6. bis 7.Monat
    U6     10. bis 12. Monat
    U7     21. bis 24. Monat
    U8     3 1/2 bis 4 Jahre
    U9     ca. 5 Jahre
    J1     12 bis 14 Jahre

6 von 9 Untersuchungen erfolgen bereits innerhalb des ersten Lebensjahres des Kindes, 3 weitere folgen bis zum Schulbeginn und 6-8 Jahre später folgt die 10. Untersuchung. Sollte tatsächlich ein staatliches Überwachungssystem zur Entdeckung von Kindesmißhandlung aufgebaut werden, wären die Überwachungslücken viel zu groß, als dass von einem tatsächlichen Schutz gesprochen werden könnte.

Viele der in der letzten Zeit in Berlin öffentlich diskutierten Beispiele von Kindesmißhandlungen wären auch nicht durch die geforderten Zwangsuntersuchungen verhindert worden. Häufig waren die betroffenen Kinder bzw. Familien dem Jugendamt bereits bekannt, teilweise waren die Kinder erst wenige Tage vor dem Mißhandlungsfall in intensiver ärztlicher Untersuchung, die aber keine Hinweise auf Mißhandlungen ergab. Dennoch kam es zu schweren Mißhandlungen.

Bei einer Zwangsuntersuchung muss auch berücksichtigt werden, welche Wirkung dieser staatliche Zwang auf Eltern haben könnte, die ihre Kinder ordnungsgemäß betreuen, versorgen und erziehen, deren Kinder aber vielleicht durch einen Unfall oder ähnliches eine Verletzung erleiden. Werden diese Eltern mit ihrem Kind, dass sich vielleicht beim Klettern eine drastische Prellung mit einem großen blauen Fleck zugezogen hat, umgehend einen Kinderarzt aufsuchen, wenn der Arzt nicht mehr nur seinem Eid zu medizinischen Hilfe, sondern in einem staatlichen Überwachungssystem auch der Strafverfolgung verpflichtet ist? Staatliche Überwachungsaufgaben sollen meines Erachtens ggf. durch staatliche Ärzte, Strafverfolgung ggf. durch den polizeilichen ärztlichen Dienst, nicht aber durch der Hilfe und Heilung verpflichtete Kinderärzte durchgeführt werden. Schon aus diesen Gründen habe ich erheblich Zweifel an der Geeignetheit des Vorschlages.

Wer eine verpflichtende Vorsorgeuntersuchung fordert, muss auch darlegen, wie er sich die Überwachung der verpflichteten Sorgeberechtigten bzw. die Konsequenzen für die Sorgeberechtigten vorstellt, wenn diese ihrer Verpflichtung nicht nachkommen. Die CDU-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus hat sich bisher um eine Beantwortung dieser Frage herumgedrückt. Bei der Beratung des CDU-Antrags („Vorsorgeuntersuchungen für Kinder wieder zur Pflicht machen“ / Drs 15/3174) in der Sitzung des Ausschusses für Inneres, Sicherheit und Ordnung am 25.10.2004 (TOP 5 der 49. Sitzung) führte lediglich Herr Havemann vom Landeskriminalamt seine Vorstellungen dazu aus. Danach müsste bei der Gesundheitsverwaltung eine Datensammlung über alle Berliner Kinder angelegt werden. Alle Kinderärzte müsste nach jeder Vorsorgeuntersuchung eine Meldung über die erfolgte Untersuchung an die Gesundheitsverwaltung abgeben. Diese müsste für jedes Kind überprüfen, ob die Vorsorgeuntersuchung fristgemäß erfolgte und gegebenenfalls das örtlich zuständige Jugendamt über das Ausbleiben der Untersuchung informieren. Die örtlichen Jugendämter sollten dann Hausbesuche machen. Was passieren soll, wenn diese Hausbesuche erfolglos sind, weil niemand angetroffen wird, weil Sorgeberechtigte vielleicht das Gespräch verweigern, hat bisher (soweit mir bekannt) niemand erklärt, der für diesen Vorschlag spricht. Üblich in unserem Rechtssystem wären Geldbußen, wenn man an den Zweck der Zwangsuntersuchung denkt, könnte man allerdings auch die Weigerung der Sorgeberechtigten als Hinweis auf Mißhandlungen, Mißbrauch oder Vernachlässigung werten und über Polizeieinsätze oder Entziehung der elterlichen Sorge nachdenken. Sehr populär sind derzeit bei solchen Fragestellungen auch Vorschläge wie Kürzung von Sozialleistungen oder Kindergeld als Sanktionsmittel.

Ich bezweifle stark, ob ein solches Überwachungssystem noch angemessen ist. Kann es sinnvoll sein, die Jugendämter, die bei steigenden Fallzahlen ohnehin schon Schwierigkeiten haben, in Fällen konkreter Gefahr für Kinder ausreichend schnell tätig zu werden, zusätzlich mit Überwachungsaufgaben bezüglich einer abstrakten Gefahr zu beschäftigen?

Fraglich ist schließlich auch die Finanzierung der Zwangsuntersuchungen. Die Befürworter des Vorschlags machen es sich da nach meinem Eindruck etwas einfach und handeln nach dem Motto, die Untersuchungen werden doch ohnehin durchgeführt und von den Krankenkassen finanziert. Ich halte das allerdings für etwas kurzsichtig. Abgesehen davon, dass durch die Meldepflicht für die ohnehin nicht gerade gut bezahlen Kinderärzte zusätzlicher Arbeitsaufwand entsteht, werden die Krankenkassen die Finanzierung einer gesetzlich angeordneten Vorsorgeuntersuchung nicht tragen, sondern zurecht von Staat verlangen, dass gesetzlich normierte Pflichtuntersuchungen auch von Staat finanziert werden. Und so wie unser System strukturiert ist, spricht nach meiner Einschätzung viel dafür, dass diese Kosten in Millionenhöhe zu Lasten des heute ohnehin schon belasteten Jugendhilfehaushalts finanziert werden.

Ich weiß, dass solche Argumente ungern zur Kenntnis genommen werden, wenn man doch eigentlich nur etwas Gutes für Kinder tun will. Meines Erachtens gehört zu einer sachlichen Diskussion aber eben auch, die Konsequenzen eines Vorschlags zu prüfen.

Schließlich sind auch die verfassungsrechtlichen Bedenken, die ich oben schon angesprochen habe, zu berücksichtigen. Sie weisen in Ihrem Schreiben darauf hin, dass es „im Rahmen unserer Verfassung bereits gesetzliche Eingriffe ins Elternrecht - sogar nicht ganz risikolose wie z.B. Pflichtimpfungen - gegeben hat“. Natürlich gibt es zahlreiche Eingriffe in und Einschränkungen der Grundrechte nach unserem Verfassungsverständnis. Es gibt aber keine Regel die da lautet, weil ohnehin schon in ein Grundrecht eingegriffen wird, könne auch noch weitere Eingriffe erfolgen. Vielmehr hat das Bundesverfassungsgericht in seiner langen Geschichte Kriterien entwickelt, nach denen die Bewertung von Eingriffen in Grundrechte in jedem Einzelfall vorzunehmen ist.

Hier ist meines Erachtens der Unterschied zwischen einer konkreten und einer abstrakten Gefahr zu berücksichtigen. Pflichtimpfungen hat es nach meiner Kenntnis dann gegeben, wenn eine konkrete Seuchengefahr (also auch eine konkrete Gefahr für andere Menschen) bekämpft werden sollte. Das ist aber etwas anderes als wenn es z.B. um eine Impfung geht, bei der Menschen „nur“ in ihrem eigenen Interesse vor einer Erkrankung geschützt werden sollen. In diesen Fällen hat das staatliche Interesse an der sog. Volksgesundheit eher hinter der eigenständigen Entscheidung des Betroffenen zurückzustehen. Soweit keine Dritten gefährdet werden, spricht viel dafür, dem Betroffenen selbst die Abwägung zwischen einer Gefährdung durch die Impfung und dem Schutz durch eine Impfung vor einer Erkrankung zu überlassen.

In Fällen konkreter Gefährdung von Kindern gibt es ausreichende gesetzliche Grundlagen, um zum Schutz der Kinder in grundgesetzlich geschützte Elternrechte einzugreifen. Mit einer gesetzlich vorgeschriebenen Vorsorgeuntersuchung wird aber „nur“ der abstrakten Gefährdung von Kindern durch die Sorgeberechtigten vorgebeugt. Dieser Fall ist deshalb verfassungsrechtlich anderes zu beurteilen. Mit einem Generalverdacht gegen alle Sorgeberechtigten kann man in einem freiheitlichen, demokratischen Rechtsstaat nicht so leicht ein Eingriff zu Elternrechte begründen, wie im Fall einer konkreter Gefährdung des Kindeswohls.

Nur am Rande sei bemerkt, dass sich die Berliner CDU mit ihrem Antrag „Vorsorgeuntersuchungen für Kinder wieder zur Pflicht machen“ auf die Verhältnisse in der ehemaligen DDR bezieht. Unter der Geltung des Grundgesetzes sind mir jedenfalls keine verpflichtenden Vorsorgeuntersuchungen bekannt.

Von den Befürwortern einer Pflichtuntersuchung wird zur Begründung ihres Vorschlags angeführt, dass die Zahlen von Kindesmißhandlungen, -mißbrauch und Vernachlässigung in den letzten Jahren massiv - insbesondere in Berlin - gestiegen sind. Und tatsächlich erscheinen die Zahlen, die vom Senator für Bildung, Jugend und Sport in einer Antwort vom 02. September 2004 auf eine kleine Anfrage (Drs. 15/11752) gegeben wurden, auf den ersten Blick erschreckend:

 

Erfasste Fälle 2003

Häufigkeitszahl 2003

 

Mißhandlung von Kindern

Verletzung Fürsorgepflicht

Mißhandlung von Kindern

Verletzung Fürsorgepflicht

Berlin

384

227

11,3

6,7

Hamburg

18

14

1,0

0,8

Franfurt/M

26

6

4,0

0,9

Köln

57

31

5,9

3,2

München

43

16

3,5

1,3

Stuttgart

22

18

3,7

3,1

Leipzig

30

17

6,1

3,4

Dresden

17

35

3,5

7,3

Bund

2.928

1.240

3,5

1,5

Dennoch habe ich aber noch nicht die Behauptung gehört, die Berliner Eltern würden ihre Kinder überdurchschnittlich mißhandeln oder vernachlässigen. Vielmehr erklären sich alle Experten (so z. B. auch der Polizeipräsident von Berlin in der Sitzung des Innenausschusses am 25.10.2004) die hohen Berliner Zahlen mit einem verstärkten Anzeigeverhalten. In Berlin ist in den letzten Jahren - insbesondere mit der Landeskommission „Berlin gegen Gewalt“ - das Thema „Häusliche Gewalt“ intensiv bearbeitet worden. So merkwürdig es vielleicht auf den ersten Blick klingt; die hohen Berliner Zahlen sind eher Erfolgszahlen (im Sinn einer hohen Aufklärungsrate) als dass sie Beleg für eine Steigerung der tatsächlich Fälle sind. Die Zahlen sind deshalb meines Erachtens kein Argument für die Einführung von Pflichtuntersuchungen.

Schließlich möchte ich in diesem Zusammenhang noch auf einen weiteren Aspekt hinweisen, der bei allen Diskussionen über die Frage, wie Kindesmißhandlungen, -mißbrauch und Vernachlässigung verhindert werden können, Berücksichtigung finden sollte. So positiv das verstärkte Anzeigeverhalten in Berlin auf der einen Seite ist, so problematisch ist das damit gleichzeitig steigende Denunzieren von Kindern und ihren Familien. In einer Stadt wie Berlin, wo Kindergeräusche von sehr vielen Menschen störender als Auto- und Fluglärm empfunden wird, bieten die öffentlichen Aufrufe zur Anzeige eventueller Kindesmißhandlungen für viele Menschen einen willkommenen Anlass der schon immer störenden Nachbarfamilie mit Kindern das Jugendamt oder die Polizei auf den Hals zu hetzen. Mir sind von mehreren Jugendämtern entsprechende Fälle berichtet worden. Teilweise sind Eltern durch Nachbarn so in die Enge getrieben worden, dass sie in Angst davor, die Nachbarn können schon wieder das Jugendamt rufen, mit ihren Nachts weinenden Kindern in keiner guten Weise mehr umgegangen sind. Ich will diese Fälle hier nicht näher beschreiben, hoffe aber das Problem zumindest deutlich gemacht zu haben. Dennoch sind weitere Aufklärungskampagnen notwendig. Wer sich aber ernsthaft mit dem Thema beschäftigt sollte sich auch intensiv mit den Konsequenzen einer zunächst gutgemeinten Maßnahme auseinandersetzen.

Liebe Frau Gudrun Eberhard, lieber Herr Kurt Eberhard, ich bitte Sie herzlich meine oben dargestellten Argumente zu überdenken und hoffe Sie davon überzeugt zu haben, dass meine ablehnende Haltung zu verpflichtenden Vorsorgeuntersuchungen nicht einem „Anti-CDU-Reflex“ entspringt, sondern von sachlichen Argumenten getragen wird. Man mag diese Argumente anders gewichten als ich, beachten und sich damit auseinandersetzen sollten sich aber alle, die verpflichtende Vorsorgeuntersuchungen fordern.

Mit freundlichen Grüßen
Thomas Kleineidam

 

Kommentar der AGSP zur Stellungnahme
des Abgeordneten Kleineidam

Wir danken dem Abgeordneten Thomas Kleineidam sehr für seinen Brief, der endlich die ersehnte argumentative Begründung für die ablehnende Haltung der SPD gegenüber der von der CDU vorgeschlagenen kinderärztlichen Pflichtuntersuchung liefert.

  1. Herr Kleineidam hat recht - der offene Brief der AGSP ist mehr provokativ als argumentativ, genau deshalb baten wir ihn um eine Stellungnahme.
     
  2. Er kann polemischen Versuchungen aber ebenfalls nicht ganz widerstehen, wenn er behauptet, wir unterstellten den Kritikern einer "Zwangsuntersuchung", daß sie "lediglich aus einem Anti-CDU-Reflex" agieren. Eine solche Pauschalisierung haben wir nicht vorgenommen, und Herrn Kleineidams Stellungnahme ist ein überzeugendes Beispiel dafür, daß man auch ohne solche Reflexe debattieren kann.
     
  3. Mit sehr ernstzunehmenden Argumenten macht er geltend, daß Einzelfälle keine ausreichende Begründung für staatliche Zwangsmaßnahmen seien. Es ist aber längst erwiesen, daß es sich hier nicht um Einzelfälle handelt (der Kinderschutzbund schätzt weit über 200.000 Fälle in Deutschland) und daß die Jugendbehörden in zahlreichen Fällen ihr Wächteramt grob vernachlässigten (vgl. unsere Pressedokumentation).
     
  4. Herr Kleineidam will wie wir den Überwachungsstaat verhindern, das Schicksal der Weimarer Republik zeigt jedoch, daß der Ruf nach dem starken Staat in dem Maße zunimmt, wie dieser seine Ordnungsfunktionen nicht wahrnimmt.
     
  5. Ihm ist ferner zuzustimmen, daß die Pflichtuntersuchungen nicht alle Fälle der Vernachlässigung, Mißhandlung und des sexuellen Mißbrauchs aufdecken werden, aber doch einen hohen Prozentsatz, weil gerade die Anzeichen für Vernachlässigung, der häufigsten und nachhaltigsten Form der Traumatisierung im Kindesalter, ziemlich leicht zu erkennen sind.
     
  6. Herr Kleineidam meint, Überwachungsaufgaben könnten nur von Amtsärzten vorgenommen werden; wahrscheinlich stimmt diese Einschätzung.
     
  7. Ob der Organisationsvorschlag des Landeskriminalamts der einzig mögliche ist, können wir mangels verwaltungstechnischen Sachverstandes nicht beurteilen.
     
  8. Aber "was passieren soll, wenn diese Hausbesuche erfolglos sind", ist leicht mit den einschlägigen Empfehlungen des Deutschen Städtetags zu beantworten. Zusätzlich müssen die Kinderschutzvorschriften des KJHG präzisiert werden (vgl. § 8a SGB VIII im Entwurf der Familienministerin und unsere Ergänzungsvorschläge).
     
  9. Die allgemeine Reduzierung des Kinder- bzw. Erziehungsgeldes wäre kein "Sanktionsmittel", sondern zwecks Kostenneutralität sollen die freiwerdenden Mittel als Honorierung für die Teilnahme an der Untersuchung eingesetzt werden. Daß die Eltern, die dann immer noch auf die Untersuchung verzichten, kein Honorar erhalten, kann wohl kaum als "Sanktion" bezeichnet werden.
     
  10. Herrn Kleineidams Hinweis darauf, daß eine Pflichtuntersuchung wohl nicht von den Krankenkassen finanziert werden würde, ist korrekt, gilt aber nicht für die bereits existierende freiwillige, dann aber honorierte Untersuchung.
     
  11. Bei dem Vortrag seiner verfassungsrechtlichen Bedenken hat er nicht bedacht, daß das Grundgesetz in Art. 6 den Staat ausdrücklich auffordert, Gesetze zum Schutz der Kinder gegen drohende Verwahrlosung zu erlassen - gegen den Willen der verwahrlosenden Eltern. Daß bei Vernachlässigung, Mißhandlung und Mißbrauch Verwahrlosung droht, bestreitet niemand. Bei der oben genannten freiwilligen honorierten Untersuchung würden ohnehin alle verfassungsrechtlichen Bedenken entfallen.
     
  12. Wieso eine - damals kaum mehr vorhandene - Seuchengefahr konkret ist, die massenhafte und lebensgefährliche Vernachlässigung von Kindern aber nur abstrakt und eine Kinderschutzmaßnahme einen "Generalverdacht gegen alle Sorgeberechtigten" implizieren soll, ist uns nicht ganz klar geworden.
     
  13. Die Spitzenstellung Berlins in der Statistik mißhandelter Kinder partiell auf verstärktes Anzeigeverhalten zurückzuführen, ist legitim, sie damit allein zu erklären, wäre leichtfertig.
     
  14. Man kann nicht einerseits die Bürger zu erhöhter Aufmerksamkeit und Benachrichtigung der Jugendämter auffordern und andererseits vor Denunziationsgefahren warnen. Die schon jetzt reichlich vorhandenen Entfaltungsmöglichkeiten für Denunzianten werden durch die angestrebte Untersuchung nicht zunehmen, eher im Gegenteil.
     
  15. Aufklärungskampagnen sind wünschenswert, ihre Effekte aber, wie andere Aufklärungskampagnen zeigen, sehr begrenzt, erst recht in Multiproblemfamilien, um die es hier besonders geht.

Nach der Argumentation Herrn Kleineidams sind wir unsicher, ob die von der CDU vorgeschlagene Pflichtuntersuchung in Berlin durchsetzbar ist, um so mehr setzen wir uns für die freiwillige und honorierte kinderärztliche Untersuchung ein sowie für die Wiedereinführung der jahrelang praktizierten aufsuchenden Säuglingsfürsorge. Egal, welche Lösung die SPD favorisiert, man wird ihr aus guten Gründen heftige Vorwürfe machen, wenn sie außer Aufklärung und Hilfsangeboten an die traumatisierenden Eltern nichts gegen weitere Vernachlässigungstragödien unternimmt.

Gudrun und Kurt Eberhard, AGSP (April, 2005)

 

 

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