FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Rezension / Jahrgang 2007

 




Joachim Bauer

Lob der Schule

Sieben Perspektiven für Schüler,
Lehrer und Eltern

Hoffmann und Campe 2007

(141 Seiten, 12,95 Euro)


Joachim Bauer ist Medizinprofessor und Psychotherapeut. Er ist sowohl für Innere Medizin als auch für Psychiatrie habilitiert und als Oberarzt in der psychosomatischen Abteilung der Universitätsklinik in Freiburg tätig. Er ist ferner wissenschaftlicher Leiter des Münchner »Instituts für Gesundheit in pädagogischen Berufen« und Leiter eines von der Bundesregierung unterstützten Schulprojektes in Südbaden.

 

Das Inhaltsverzeichnis enthält nur die Hauptüberschriften:
1. Schüler verstehen -eine »Neurobiologie der Schule«
2. Schulen - Orte des Grauens oder »Treibhäuser der Zukunft«
3. Lehrer
4. Berufswahl und Lehrerausbildung
5. Eltern
6. Die Politik, die Wissenschaft und das Problem der Qualitätssicherung
7. Junge Menschen, die Schule und das Land, in dem wir leben
(Literatur- Autoren- und Sachwortverzeichnis fehlen leider)

Das Anliegen und die Grundthesen seines Sachbuches sind aus dem ersten Kapitel ersichtlich:
»Motivation, Kooperatives Verhalten und Beziehungsgestaltung sind Faktoren, die neurobiologisch verankert sind. Folglich brauchen wir - und dies ist ein neuer Ansatzpunkt - eine 'Neurobiologie der Schule'. Welche Perspektiven sich aus ihr ergeben - für Schüler, Lehrer und Eltern, aber auch für die Schulpolitik und die Gesellschaft als Ganzes - , wird Thema dieses Buches sein. …
     Große Teile des deutschen Schulsystems stecken in einem allseits bekannten und dennoch beharrlich fortbestehenden Desaster. Dieses System entlässt Schulabgänger, die zu einem hohen Anteil weder für eine weiterführende Ausbildung tauglich noch aufs Leben vorbereitet sind. Knapp zehn Prozent der Jugendlichen eines Jahrgangs verlassen die Schule alljährlich ohne jeglichen Abschluss. Bei diesen jungen Leuten - aber auch bei vielen mit Schulabschluss - sind die zehn oder mehr Jahre ihrer Schulzeit abgetropft wie Wasser an einer Teflonschicht.
Wir lassen heute einen Teil unserer Jugendlichen - vor allem jene aus der nicht privilegierten, nicht bildungsbürgerlichen Mehrheit der Bevölkerung - in einer Situation heranwachsen, in der kaum jemand Interesse an ihrer schulischen und persönlichen Entwicklung zeigt und in der sie zunehmend - dies gilt insbesondere für männliche Heranwachsende - in eine Stimmung von Aussichtslosigkeit, Zynismus, Verachtung und Gewalt geraten. …
     Was aber soll das alles mit Neurobiologie zu tun haben? Die Antwort lautet: Ein Kind ist kein Aktenordner, in den man Blatt für Blatt Wissensinhalte einheften kann, sondern ein Lebewesen, dessen Erleben und Verhalten neurobiologischen Grundregeln unterworfen ist. Dieses Buch soll die Zusammenhänge zwischen Lebenssituationen und zwischenmenschlichen Erfahrungen einerseits und andererseits die durch sie beeinflussten neurobiologischen Abläufe, die der Motivation und Leistungsbereitschaft eines Kindes zugrunde liegen, beleuchten und einige Konsequenzen vor Augen führen, die sich daraus ergeben. …
     Alles schulische Lehren und Lernen ist eingebettet in ein interaktives und dialogisches Beziehungsgeschehen. ...
     Die Entdeckung der neurobiologischen Motivationssysteme gelang, indem man drei von ihnen produzierten Botenstoffen auf die Spur kam. Sie bilden gemeinsam einen biologischen "Cocktail", der dem Körper vom Gehirn zugeführt werden kann. Dazu müssen allerdings bestimmte Bedingungen erfüllt sein, auf die ich noch zu sprechen kommen werde. Zunächst seien die drei Botenstoffe kurz vorgestellt. Motivationsbotenstoff  Nummer eins ist das Dopamin, eine Art Dopingdroge, die uns Lust macht, etwas zu tun, uns anzustrengen und Leistung zu zeigen. Botenstoff Nummerz wei sind die körpereigenen Opioide, die dafür sorgen, dass wir uns körperlich und seelisch gut fühlen. Botenstoff Nummer drei ist das Oxytozin, eine hochinteressante Substanz, die uns bestimmten Menschen besonders verbunden fühlen lässt und uns dazu animiert, uns für sie besonders einzusetzen. Gemeinsam bilden die Leistungsdroge Dopamin, die Wohlfühldrogen aus der Gruppe der Opioide und das "Freundschaftshormon" Oxytozin ein geradezu geniales Trio. ...   
     Neueste neurobiologische Studien zeigen: Entscheidende Voraussetzungen für die biologische Funktionstüchtigkeit unserer Motivationssysteme sind das Interesse, die soziale Anerkennung und die persönliche Wertschätzung, die einem Menschen von anderen entgegengebracht werden. … Woher Kinder und Jugendliche die für die Motivation so wichtige Anerkennung und Wertschätzung erhalten, liegt auf der Hand: Sie erhalten sie im Rahmen zuverlässiger persönlicher Beziehungen zu ihren Bezugspersonen, in der Regel also zu Eltern oder anderen engen Angehörigen, aber auch zu Lehrern und anderen Mentoren. Nur dort, wo sich Bezugspersonen für das einzelne Kind persönlich interessieren, kommt es in diesem zu einem Gefühl, dass ihm eine Bedeutung zukommt, dass das Leben einen Sinn hat und dass es sich deshalb lohnt, sich für Ziele anzustrengen. Kinder und Jugendliche haben ein biologisch begründetes Bedürfnis, Bedeutung zu erlangen. Ohne ihnen zufließende Beachtung können sie nicht nur keine Motivation aufbauen, sondern sich auch insgesamt nicht gesund entwickeln. ...
     Wenn Kinder und Jugendliche das Gefühl haben, nicht als Person 'gesehen', wahrgenommen, gefordert und gefördert zu werden, und es vermissen, für andere Menschen bedeutsam zu sein, dann kommt es bei ihnen - aus einer unausweichlichen neurobiologischen Logik heraus - zu einem dramatischen Anstieg des Suchtrisikos. …    
     Mitte der neunziger Jahre konnte ein automatisch und ohne bewusstes Nachdenken arbeitendes neurobiologisches System nachgewiesen werden, dessen einziger Zweck darin besteht, beobachtetes Verhalten anderer Menschen im Gehirn des Beobachters zu simulieren, also auf eine stumme Art "nachzuspielen". Handlungen, Empfindungen, Gefühle und Stimmungen, alles, was uns andere vormachen oder zeigen, wird im Gehirn des beobachtenden Menschen - gleichsam wie in einem Spiegel - leise nachgeahmt. Nervenzellen, die darauf spezialisiert sind, bilden in unserem Gehirn das System der Spiegelneurone (im Englischen wird es als 'mirror neuron system', MNS, bezeichnet). Spiegelnervenzellen "übersetzen" das, was wir sehen oder miterleben, in eine Art diskretes inneres "Mit-Tun", sie sind die neurobiologische Grundlage für Albert Banduras Lernen am Modell. ...
     Angesichts dieser Zusammenhänge sollte klar geworden sein, warum ein "Lob der Disziplin" bzw. ein bloßer Appell zur Reanimation disziplinierten Verhaltens allenfalls ein Beitrag am Rande, aber kein wirklich wirksamer Ansatzpunkt sein kann, um die Situation an unseren Schulen zu verbessern. Statt uns an die trügerische Bastion der Disziplin zu klammem, müssen wir der zunehmenden Beziehungs- und Bindungslosigkeit, in der Kinder und Jugendliche heute heranwachsen, massiv und wirksam entgegentreten.«

In den folgenden Kapiteln werden diese Gedankengänge weiter ausgeführt, mit vielen Fakten belegt und wissenschaftlich begründet. Das letzte Kapitel enthält die wichtigsten Ergebnisse und Konsequenzen:
»Die entscheidende Frage hinsichtlich der Entwicklung eines Kindes und seiner Bildungspotenziale lautet nun: Welches zwischenmenschliche Erleben (Psychologie) führt im Gehirn und im Körper des Kindes zu einer optimalen Biologie bzw. zu einer optimalen geistigen Entwicklung? Die Antworten aus neurobiologischer Perspektive lauten: Kinder brauchen persönliche Bindungen zu Bezugspersonen, um ihre Motivationssysteme zu entfalten. Sie brauchen Einfühlung und Unterstützung, um sich frei von Angst der Welt zuwenden und lernen zu können.'43 Kinder und Jugendliche brauchen Bezugspersonen, nicht nur um von ihnen gefordert zu werden und sich an ihnen als Vorbildern zu orientieren, sondern auch um von ihnen eine Vision von der eigenen Entwicklung und den eigenen Potenzialen zurückgespiegelt zu bekommen. …
     Unser Gehirn besitzt ein über verschiedene Regionen ausgebreitetes Netzwerk von Nervenzellen, deren Job es ist, nur eines möglich zu machen: Einfühlung, Empathie. Dieses Netzwerk ist das System der Spiegelneurone. Sie machen es möglich, dass ich mit meinem Gehirn fühle, was ein anderer Mensch fühlt, den ich in meiner unmittelbaren Umgebung erlebe. Spiegelneurone verwerten die Zeichen (Sprache, Körpersprache), die der Körper eines anderen aussendet, und rekonstruieren daraus, was in diesem Menschen vorgeht. Unser Gehirn ist, wie es amerikanische Hirnforscher ausdrücken, ein 'social brain'. Menschen sind nicht "gut", aber sie sind - aus neurobiologischer Sicht - auf gelingende Beziehungen geeicht, an deren Anfang die Einfühlung steht. Wir sind von Natur aus dafür geschaffen, mitzufühlen und danach zu handeln. …
     Was Kinder in ihrem privaten und sozialen Umfeld außerhalb der Schule erlebt haben und erleben, hat neurobiologische Folgen, die Bildungspotenziale massiv beeinflussen können. Kinder, die im ersten Lebensjahr keine zuverlässige und einfühlsame Bindung zu einer Hauptbezugsperson hatten, sind mit einem erhöhten Risiko seelischer Instabilität belastet. Bei Kindern, die in den ersten fünf Lebensjahren oft oder über längere Zeit allein gelassen wurden, sich nicht sicher gebunden fühlten oder traumatisierende Trennungen zu verkraften hatten, wächst die Neigung zu depressiven Störungen. Kinder mit hohem Fernsehkonsum in den ersten Lebensjahren zeigen nachgewiesenermaßen eine stärkere Tendenz, ein Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Syndrom (ADHS ) zu entwickeln. Bei Kindern, die von sexuellem Missbrauch betroffen waren, stellen sich schwere psychische Störungen ein. Und schließlich haben Kinder und Jugendliche, die keine stabilen familiären Bindungen hatten oder selbst von Gewalt betroffen waren, auch ein erhöhtes Risiko, selbst gewalttätig zu werden, und das Gleiche gilt, wie schon erwähnt, für Jugendliche, die sich gewohnheitsmäßig brutalen Szenerien hingeben, wie sie von den Medien angeboten werden. …
     Hat ein Kind mit ungünstigem häuslichem Hintergrund demnach - aus neurobiologischer Sicht – keine Chance im späteren Leben? Keineswegs! Der Einfluss von guten oder schlechten Beziehungserfahrungen geht lebenslang weiter, die sogenannte Plastizität (Formbarkeit) des Gehirns endet nicht mit der Kindheit oder Jugend. Was sie zu Hause nicht bekommen können, versuchen sich Kinder außerhalb der Familie zu beschaffen. Kinder sind, neurobiologisch und psychologisch gesehen, wie ein Schwamm: Sie spüren, wie sehr sie Zuwendung brauchen, und saugen sich mit guten Beziehungserfahrungen voll, wo immer sich ihnen Gelegenheit dazu bietet. …
     Soziale Regeln müssen zusammen mit Kindern und Jugendlichen gelebt werden. Der Mangel, den wir zu beklagen haben, ist nicht die Erosion von Disziplin und nicht die Missachtung sozialer Regeln, sondern die Tatsache, dass es zu viele Kinder gibt, mit denen diese Regeln nicht gemeinsam gelebt wurden und werden. In einem Land, in dem man - um einer umsatzträchtigen Industrie nicht in die Quere zu kommen - zulässt, dass mehrere hunderttausend Kinder und Jugendliche, anstatt angeleitet, gefördert und gefordert zu werden, am Computer Folter und Mord "spielen", wirkt ein "Lob der Disziplin" geradezu bizarr. Ein Dialog mit der Jugend über Werte muss damit beginnen, dass wir uns befragen, ob unser Land jenseits dessen, was wir funktionierende Wirtschaft nennen, überhaupt noch Werte hat. Natürlich brauchen wir eine funktionierende Wirtschaft. Gleichzeitig aber gilt: Nur ein Land, in dem 'funktionierende Wirtschaft' und 'menschliches Zusammenleben' mit Kindern und Jugendlichen keine auseinanderdriftenden Größen sind, wird junge Menschen für Bildung, Leistung und Werte begeistern können.«

Bilanzierende Bewertung:
Bauer liefert nicht nur eine überzeugende Auseinandersetzung mit Buebs »Lob der Disziplin«, sondern weit darüber hinaus eine Kritik unseres bürokratisierten Schulsystems und vor allen Dingen den ersten Versuch, neueste neuropsychologische Erkenntnisse für die Diagnose und Therapie einer überwiegend pathogenen Schulpraxis heranzuziehen. Das ist dem Autor, der durch multidisziplinäre Bildung, eine neurobiologisch ergänzte tiefenpsychologische Sichtweise und besonders durch seinen kontinuierlichen Erfahrungsaustausch mit Lehrerinnen und Lehrern darauf bestens vorbereitet ist, hervorragend gelungen.
     Zu kurz kommt allerdings die sehr notwendige Kooperation der Schule mit Jugendämtern und Familiengerichten zum Schutz der vielen Kinder, die durch vernachlässigende, mißhandelnde und mißbrauchende Eltern tiefgreifend, nämlich auch neurobiologisch traumatisiert werden.

Kurt Eberhard  (August 2007)

s.a. Das Gedächtnis des Körpers
s.a.
Warum ich fühle, was du fühlst

 

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